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will dir was sagen, Simo: Paul ist dein Freund, auch wenn du ihn als Spund siehst.«

      Sekunden vergingen.

      »Meinst?«, flüsterte Simo schließlich.

      »Ganz sicher.«

      Beide schwiegen und sahen hinauf in die Krone des riesigen alten Baumes, der einhundertzwanzig Kriegsjahre überstanden hatte.

      »Vertraust mir?«, fragte Simo schließlich. »Hast vor 14-Spund-Thom schon was erlegt? Vertraust mir und sprichst nicht, was bist?«

      Juli musste die Worte erst sortieren. »Ich habe noch nie jemanden getötet, Simo. Das mit Thom war ein Unfall. Und er passierte, weil ich dir das Leben retten wollte. Ich bin kein Räudiger. Ich kann keiner sein, weil ich – ebenso wie mein Familie – nie abtrünnig war. Ich bin kein Educares, weil ich aus dem Leib meiner Mutter schlüpfte. Ich bin ein Mensch, verstehst du? Nur ein stinknormaler Mensch!«

      Simo hob den Oberkörper an, drehte sich und kniete plötzlich über Juli. Er drückte die Arme des deutlich stärkeren Jungen an den Handgelenken auf den Boden. »’s deucht, du erdichtest was.« Er stemmte Juli die Knie in die Seiten. »Elender Fabulant! Das gibt nur Weibsbürzel und Tierschwänze. Was sonst?«

      »Es gibt noch wesentlich mehr als das, was in deinem kleinen Dickschädel ist, Simo. Sag, kennst du die Kuppelstädte?«

      »Die Schneekugler?«

      Der Große lachte, als machte er sich über den Kleinen lustig. »Es hat noch nie in einer der Kuppelstädte geschneit, das kann ich mit Sicherheit behaupten. Ihr Räudiger mit eurer verwunderlichen Sprache!« Juli ließ Simo gewähren und warf ihn nicht von sich herunter. »Von mir aus: Kennst du die Schneekugelstädte? Eine davon heißt Neuparis. Sie haben jede Kuppelstadt nach einer im Krieg zerstörten Großstadt Europas benannt. Die Städte unter den Kuppeln haben eigenes Wetter, eigene Luft, eigene Gesetze und eigene Menschen. Für die Demokraten sind nur die Kugelstädte die Republik. Die Menschen dort wurden ausgewählt, mussten sich zur Europäisch Demokratischen Republik bekennen und haben für sie zu arbeiten. Alle Staatseigenen sind gechippt. Sie erhalten Waren und Lebensmittel für ihren Bedarf zugeteilt und dürfen Familien gründen. Ein Paar darf zwei Kinder haben, doch die Geschlechter der Nachkommen werden nach einem statistischen Verfahren bestimmt. Ein Fötus, der nicht …«

      »Was ist Fötus?«, unterbrach Simo, ohne den Griff um Julis Handgelenke zu lockern.

      »Das ist das Kind im Mutterleib, das ungeborene aber bereits existierende, wachsende und fühlende Kind. Ein Fötus, der nicht der Geschlechterstatistik der Oberen entsprach, wurde abgetötet. Ich wurde in der Kuppelstadt Neuparis geboren, Simo. Mein Vater musste Staatseigener sein und meine Mutter auch. Mutter hat mich heimlich zur Welt gebracht, hat mich vor den Statistikern versteckt. Sie wollte einen Sohn und durfte nur zwei Töchter gebären. Also versteckte sie mich. Eine Kuppelstadt kann man nur zu einer anderen Kuppelstadt verlassen. Über die Röhrenbahn. Nie aber kommt jemand ohne den entsprechenden Chipeintrag hinein oder heraus. Verstehst du? Einmal in der Kuppelstadt, wirst du immer dort gefangen sein, es sei denn, die haben dich für Arbeiten in äußeren Fabriken oder auf den Feldern eingeplant.«

      »Du aber hier? Wie geht’s?«

      »Als ich sieben Jahre alt war, haben sie mich entdeckt. Mutter wurde bestraft und ich in ein Haus der Oberen gebracht. Sie wollten mich töten, doch ein Privilegierter Beamter schickte mich hierher. Ich wurde bei vollem Bewusstsein gechippt, wie ein Räudiger. Und weil sie sich unschlüssig waren, haben sie mich als Educares deklariert. Für mich gibt es nämlich keine eindeutige Definition. Ich bin ein Städter. Doch die gehören in die Kuppelstadt und nicht hierher. – Verstehst du mich jetzt?«

      Simo schaute in Julis Gesicht. »Ist schön dort in Schneekugel?«, fragte er, ohne Julis Frage zu beantworten.

      »Nein«, antwortete der Große unbeherrscht laut. »Das versuch ich dir doch die ganze Zeit zu erklären. Dort ist es nicht besser als in der Rottenschule. Die Kuppelstädte sind riesige Gefängnisse mit vielen Sklaven und wenigen Herrschern. Es gibt da nur zwei Sorten Menschen: Staatseigene und Privilegierte Beamte. Staatseigene schuften und Privilegierte Beamte genießen, weil sie von manipulierten Spundrotten geschützt werden. Wer sich wehrt, wird ohne Pardon ermordet.« Nach einer kurzen Pause meinte Juli noch: »Dort, wo du gelebt hast, war es mit Sicherheit am besten.«

      »Meinst als Abtrünniger? Bist albern.«

      »Ich meine dich, als freien Menschen, Simo. Kapier es doch: Bis sie dich verschleppt haben, warst du ein völlig freier Mensch. Die Bezeichnung ›Abtrünniger‹ haben Die Zehn erfunden, die mächtigsten Zehn in Europa.«

      Lange schaute Simo schweigend in Julis Augen. Dann fragte er: »Warum macht alles kaputt, was am besten?«

      »Weil es den Menschen eigen ist, immer wieder alles Gute zu zerstören. Die Menschheit benötigt nicht den Angriff irgendwelcher Außerirdischer, Simo, wie es in manchen alten Lettersammlungen geschrieben steht. Ich habe viele davon gelesen. Die Menschheit hat es ganz gut drauf, sich selbst zu vernichten. Es ist die Gier des Menschen nach Bedeutung, Macht und Reichtum. Und diese Gier wurde in weiter Vergangenheit aus dem einfachsten Überlebensinstinkt geboren. Sie hat sich erst mit der Menschwerdung entwickelt.« Juli flüsterte. »Kein einziges Tier wird jemals so dumm sein wie ein Mensch. Intelligent sind nur die Tiere und Pflanzen.«

      »Womöglich ich Tier oder Pflanze?« Simos rhetorische Frage war äußerst ernst gemeint.

      Doch Juli lachte darüber. »Du? Ein Tier? Nein, Simo. Auch du bist ein Mensch. Und ganz bestimmt wird die Dummheit sich eines Tages auch bei dir einstellen. Ganz sicher.« Eine Sekunde zögerte Juli, dann fragte er erneut: »Was ist nun, Simo? Du schuldest mir noch eine Antwort. Wollen wir Freunde sein?«

      Eine Antwort gab Simo dem großen Jungen nicht. Stattdessen fragte er: »Hat’s Schlange ’nen Chip?«

      »Ja«, sagte Juli.

      »Weißt’s?«

      Der Große blickte starr in die Augen des Kleinen. »Woher ich das weiß?«

      Simo nickte.

      »Sie sagte es mir. Und ich habe die Narbe gefühlt.« Die Augen Simos weiteten sich.

      »G’fühlt? Wie?«

      »Ich darf dir nicht alles erzählen. Ich weiß, dass der Chip da ist. Ich weiß, dass Domina Hero einen Zugriff darauf hat. Die Schlange ist ein Sklave Der Zehn.« Erneut flüsterte er: »Wie auch wir Sklaven Der Zehn sind.«

      Noch immer hielt der Kleine die Handgelenke fest. In seinem Kopf arbeiteten die Gedanken, entstanden neue Fragen. Doch Simo fragte nicht.

      Stattdessen ergriff Juli noch einmal das Wort: »Was nun, Simo? Wollen wir Freunde sein? Vielleicht darf ich dir dann mehr erzählen. Vielleicht bist du dann bereit dazu, ein wenig mehr von der Wahrheit zu erfahren.«

      Simo zögerte kurz, kletterte schließlich von Juli herunter und zog sich rasch den Pelz über Oberkörper und Kopf. »Muss eilen zu 01-Spundgruppenführer-Elia.«

      Auch Juli erhob sich, rieb sich die Handgelenke und klopfte Laub und Dreck aus seinem Pelz. »Du hast dich nie dafür bedankt, dass ich dir dein Leben gerettet habe.« Das war mit Sicherheit keine Frage.

      Simo antwortete auch darauf nicht, sondern rannte unvermittelt los.

      Juli hatte große Mühe, dem Kleinen zu folgen. An einem Hang sah er Simo zweihundert Schritte vor sich.

      Der stand breitbeinig da, zu ihm gewandt, und rief: »Hab viel Sonnenschein g’sehn, drüben in mein Tod! Du aber, dummer Spritzpimmel, bracht’s mich zurück ins Eiskaltland! Und willst wohl jetzt noch Dank dazu?«

      »Verdammt noch mal, du winziger klugscheißender Hosenfurz! Es gibt nichts Wertvolleres als das Leben, Simo! Kannst du das nicht kapieren oder willst du es einfach nicht?«, schrie Juli dem Kleinen nach, der sich wieder in Bewegung gesetzt hatte und weiter den Hang erklomm. »Jetzt warte doch!«

      Juli hetzte sich ab, doch er erreichte Simo bei diesem Test

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