Скачать книгу

über den Rand und folgte einem Bergpfad, der dicht an einem Abgrund vorbeiführte.

      Schließlich erreichte er eine schmale Hängebrücke, hielt sich an den Seilen fest und lief mit großen Schritten mindestens zweihundert Meter über dem Abgrund zum anderen Ende der schwankenden Brücke.

      Dort versteckte er sich im hohen Gras und nahm kauernd Zirkler und Karte zur Hand. Das EPV zeigte ein Strichmännlein, das hieß so viel wie »Einzelaufgabe«, was im Training nicht oft vorkam. Daneben standen Koordinaten, eine völlig neue Methode, welche der Morgenlandarmee angeblich unbekannt war, eine Kombination aus zehn Zeichen. Am rechten seitlichen Rand gab es drei verschiedene Zahlen, am unteren Rand zwei. Die Zahl unten links bedeutete den metrischen Abstand zum Zielpunkt. 4.719. Das war ein langer Weg im Gebirge und Simo vermutete, dass er damit fast die Randzone des Rottengebietes erreichen würde. Die Zahl unten rechts zeigte seine momentane Güte an, wobei er mit 64 über seinem persönlichen Schnitt lag. Nun nahm Simo den Zirkler zur Hand, einen durchsichtigen, aufklappbaren Fächer, auf der gesamten Fläche mit unzähligen Zeichen und winzigen geschwungenen Linien beschriftet. Er legte den Zirkler auf die Karte, suchte das erste Zeichen und legte das gleiche Zeichen auf dem Zirkler genau darüber. Nun drehte er den Zirkler so lange, bis alle vorgegebenen Zeichen übereinander lagen. Er las die drei Zahlen am rechten Rand des EPV und suchte sie auf dem Zirkler. Von jeder der Zahlen ging eine geschwungene Linie ab. Dort, wo sich die drei Linien kreuzten, befand sich der Zielpunkt seiner heutigen Aufgabe.

      Simo prägte sich diesen Punkt genau ein, wusste auch, wo er im Moment war, und suchte auf der Karte einen geeigneten Weg. Der Punkt war unmittelbar neben der roten Linie der Rottengrenze, die er niemals überqueren durfte. Täte er es doch, würde Praescius, das Computersystem der Europäisch Demokratischen Republik, ihn augenblicklich glätten.

      Simo lauschte. Es war sehr still, Tiere gab es hier nur wenige. Er hörte ein leises Rascheln ganz in seiner Nähe und duckte sich. Mitunter dachten sich die Führer Spiele aus, bei denen die Spione als Ziele für die Schützen herhalten mussten. Wurde ein Spion von der Übungsmunition des Ausbildungsgewehrs getroffen, dann blieb er – gesteuert über den Chip – sechzig Minuten ohnmächtig und konnte während dieser Zeit nicht die eigene Aufgabe erfüllen, was schließlich zu einer Verschlechterung der Güte führen würde.

      »Simo?«, flüsterte eine Stimme in der Nähe. »Simo, bist du hier? Ich weiß, dass du hier bist. Ich muss mit dir sprechen!«

      Simo hob den Kopf, verriet jedoch nicht seinen Standort. »Was fragst, Juli? Hab Monoauftrag. Kann nicht quasseln.« Juli hatte ihm das Leben gerettet und Thom das Leben genommen. Trotzdem war er immer noch ein Educares. »Was andres wirst nie sein«, sagte Simo und verriet damit die Gedanken.

      »Simo, red mit mir. Was andres soll ich nie sein?«, fragte Juli und seine Stimme kam deutlich näher. »Was meinst du damit?«

      »Kein Räudiger wirst sein«, antwortete Simo, der Juli durch das hohe Gras nicht entdecken konnte.

      »Vielleicht bin ich aber einer und das System irrt?«

      »System irrt? Verflachst mich wohl? System nie irrt. Stromer dich, muss Aufgabe tun, Juli.«

      Juli sprach Simo mit dem Vierletter an, also tat es Simo auch. Zahlen waren eben nur Zahlen.

      »Kein einziger Educares hätte dich ins Leben zurückgeholt. Kein einziger!« Und nach einer kurzen Pause rief Juli: »He, Simo, nimm das, dann weißt du, dass ich dir nichts tun werde!«

      Ein Gegenstand kam zu Simo geflogen und landete unmittelbar vor seinen Knien. Es war Julis Waffe! Simo staunte nicht schlecht, ergriff das Übungsgewehr und erhob sich. Juli war nun unbewaffnet, es bestand keine Gefahr. Juli, der beste Schütze – wehrlos!

      »Bleib unten!« Juli kam durchs Gras gekrochen, direkt auf den wesentlich kleineren Simo zu, der wie ein Häschen die Waffe in den Händen hielt, die durch den Pelz wie Pfoten aussahen. »Niemand darf wissen, dass wir miteinander sprechen.« Juli hockte dicht neben Simo, schob das EPV hoch und zog die Pelzkapuze vom Kopf. »Schau dir meinen Hals an!«, forderte er und zeigte auf eine Stelle hinter dem rechten Ohr.

      Simo schaute hin. »Anschaue nichts.«

      »Sieh genau hin. Ich meine den kleinen Fleck.«

      »Leberfleck meinst? Was Besondres ist’s? Unverkennbar, seh ihn.«

      »Was Besonderes?«, fragte Juli vorwurfsvoll. »Macula hepatica! Die ganzen Educares springen doch ständig nackt vor dir rum. Hast du jemals auf deren Haut auch nur einen Leberfleck gesehen? Oder etwa irgendeine andere Pigmentstörung?«

      »Weißes nicht.« Mit der Pelzpfote berührte Simo Julis Hals. »Schau runzellose Retortenschisse nicht gern häufig an.«

      »Nein, Kleiner, du wirst bei ihnen nie einen finden. Weil sie nämlich keine haben. Die Educares werden aus gereinigten Biomolekülen gezüchtet. Ihre Erbinformation ist nicht verschmutzt. Sie werden außerdem kaum krank. Und die Züchter werden immer besser. Wenn du also wissen willst, ob einer der Spunde ein Räudiger ist, dann schau dir nicht nur seinen Schwanz, sondern vor allem seine Haut an.«

      Argwöhnisch zog Simo die Hand zurück. »Scheiß erzählst! Du groß und Muskeln wie Educares! Hast aber ’nen Schwanz. Räudiger ist, was ein ordentlichen Tierschwanz besitzt, kein Bürzel. Und zwei Eier. Egal mir die Leberfleck sind. Was bist wirklich?« Simo richtete die Waffe auf Juli – entsichert und schussbereit.

      Der große Junge betrachtete den kleinen mitleidig. »Meinen Schwanz hast du also entdeckt, obwohl du dir die Educares angeblich nie richtig anschaust? Du glaubst mir wohl nicht, Simo? Das enttäuscht mich sehr. Ich dachte, wir könnten Freunde sein, so wie Paul dein Freund ist.«

      »Paul? Freund?«, rief Simo entrüstet, fast etwas zu laut, und erhob sich. »Paul nicht Freund, nur auch Räudiger. Du aber nie Räudiger! Schwatzt zu gut. Was bist wirklich?«

      Juli taumelte rückwärts, ließ sich plötzlich ins hohe Gras fallen, als wollte er sich Simo gänzlich unterwerfen. »Natürlich ist Paul dein Freund! Warum behauptest du so etwas? Du bist nicht besser als die Demokraten! Du siehst alles nur schwarz und weiß! Du siehst nur Gut und Böse! So wirst du niemals richtige Freunde finden!«

      »Hab richtig Freund g’habt!«, brüllte Simo und Tränen schossen aus seinen Augen. Da war es schon wieder. Verdammtes Geheul! Warum blieb das verfluchte Tränenwasser nicht in seinem Kopf? »Hab scharenweise Freunde g’habt!«, klagte er.

      »Und wo sind sie, deine angeblichen Freunde?«

      »Haben’s g’glättet! So welche wie du haben’s g’glättet!« Simo drückte auf den Knopf der Waffe. Sie lud sich und feuerte gleich zweimal. Auf den Boden gepresst lag Juli da, direkt neben seinem Kopf roch es nach verbranntem Gras. Jetzt ließ Simo die Waffe fallen und rannte einfach davon.

      »Warte doch, Simo!«, rief Juli, erhob sich und ergriff die Waffe. »Bitte, Simo, so warte doch!«

      Doch Simo lief unaufhaltsam davon. Er atmete tief ein und aus, sprang und rannte, kletterte und sprang wieder. Seine Tränen trocknete der Wind. Immer weiter, immer weiter! Kein Sterblicher hätte ihm folgen können, so hoch hielt er die Geschwindigkeit, balancierte über Abgründe, erklomm glatte Felswände. Und obwohl die Kräfte irgendwann nachließen, rannte er noch schneller, als gehörten seine Beine einem anderen.

      *

      Simo hetzte durch das Unterholz, gelangte an das Ufer des großen Boddens, der nach dem Beben, lange Zeit vor Simos Geburt, entstanden war. Er hörte noch immer den Klang der Trompete, die eine aus nur einer Oktave bestehende Melodie spielte.

      »Papa! Mama!«, brüllte der Fünfjährige und hörte von überall die lauten Motorengeräusche, Schreie und peitschende Salven. »Lene, Lina, Lena!«

      Der Unterschlupf in seinem Dorf am Bodden wurde angegriffen! Der Winzling in den abgewetzten Kleidern, die ihm Mama zusammengenäht hatte, stürzte in einen Graben, rappelte sich auf und kroch auf der anderen Seite wieder hinauf. Er flitzte quer durch ein Feld, das die erwachsenen Männer bestellt hatten, auf dem Weizen für Brot wuchs, rannte den Feldweg hinunter, auf dem er unzählige Male an der

Скачать книгу