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in anderen religiösen Traditionen verbreitete Methode ist dabei die Konzentration auf den eigenen Atem. Das hilft dabei, im Hier und Jetzt zu bleiben. Atmen können wir weder gestern noch morgen, sondern ausschließlich in diesem einen Moment. Alternativ oder zusätzlich zur Konzentration auf den eigenen gleichmäßigen Hauch des Lebens kann man sich auf den Namen Jesus Christus konzentrieren. Diese als „Herzensgebet“ bezeichnete Form der Kontemplation gleicht einem anhaltenden sehnsüchtigen Ruf nach dem geliebten „Du“. Ich atme auf „Christus“ ein und auf „Jesus“ (alternativ „Jeschu“) aus. Nicht mehr und nicht weniger. Je nach persönlicher Ausdauer 20 Minuten oder eine halbe Stunde lang, einmal oder mehrere Male pro Tag. Ein geistlicher Begleiter sagte einmal, ich könne sicher sein, dass ich nach meiner morgendlichen Kontemplation in dieser Weise das Wichtigste des Tages schon hinter mir hätte. Ich glaube, er hat recht. Nicht immer zeigen sich bei dieser Art des Gebets innere Bilder und nicht immer kann man die Christus-Verbundenheit unmittelbar fühlen. Aber wenn man treu dabeibleibt, wächst im Lauf der Zeit die Sicherheit, dass dieser innere Christus da ist und man mit jedem Atemzug tiefer und enger mit ihm verschmilzt. Die Meditationen, in denen dieses Gefühl so stark und lebendig ist, dass ich auch Bilder von diesem mir innewohnenden Christus empfange, sind Geschenke und helfen mir, dauerhaft „dranzubleiben“.

      Manchmal zeigt sich das Christusbewusstsein auch in Situationen, in denen man absolut nicht damit rechnet. Ein Beispiel für ein inneres Erleben, das mich sehr verblüffte, mag dies verdeutlichen und zugleich dazu ermutigen, sich vorbehaltlos zu öffnen für die innere Wirklichkeit und für die Prozesse, die sich dort ebenso real abspielen wie organische Körperprozesse. Nach der Veröffentlichung der MHG-Studie und meinem sich daran anschließenden wiederholten öffentlichen Reden über meine eigenen Missbrauchserlebnisse holte ich mir öfter Unterstützung in Form von Gruppen- und Einzelsitzungen bei einer Logotherapeutin. Die von dem Neurologen und Psychiater Viktor Frankl entwickelte Logotherapie15 hilft dem Suchenden mit klugen Fragen und Impulsen, der Sinnhaftigkeit des eigenen Erlebens auf den Grund zu gehen und sich aus diesem gefühlten Sinn heraus auf höhere Werte auszurichten, wie etwa Mut, innere Freiheit oder Vertrauen.

      Ein Teil der Logotherapeuten arbeitet mit den von dem Frankl-Schüler Uwe Böschemeyer entwickelten sogenannten Wertimaginationen.16 Dabei handelt es sich um geführte Wanderungen ins eigene Unterbewusstsein, wo sich uns unsere unbewussten Gefühle und Gefühlskräfte in Gestalt von Bildern zeigen. Sie tun dies in so einprägsamer Weise, dass wir, anders als bei Traumbildern, diese bildhaften Erfahrungen in unserem Tagesbewusstsein behalten, wo sie zu unverlierbaren Erfahrungen werden. Wertimaginationen sind keine Fantasiereisen ins verdrängte, triebhafte Unbewusste, sondern sie zielen auf das geistig Unbewusste ab und auf die in diesem unbewussten Geist verankerten Werte wie etwa Verantwortlichkeit, Gewissen oder Hoffnung.17 Diese höheren Werte zeigen sich bildhaft in sogenannten Wertgestalten, wie z.B. dem inneren Heiler, der Lebenskünstlerin, dem Mutigen oder der inneren Verbündeten.

      So weit ein wenig Theorie, damit sich das, was ich in einer Imagination erlebte und nachfolgend be-schreibe, einordnen lässt. Ich kam sehr erschöpft und ausgelaugt zu der Therapeutin und hatte das Gefühl, mich immer nur anstrengen zu müssen. Es war eine bewegte Zeit, die Presse war wie wild hinter mir her wegen der Missbrauchserfahrung und den Wogen, die das Thema nach Veröffentlichung der Studie erneut in der Öffentlichkeit schlug. Überdies war ein mir nahestehender lieber Verwandter gestorben, auch das wollte bewältigt sein. All dies hatte mich psychisch völlig in den Keller geschickt. Die Therapeutin vereinbarte mit mir als Ziel meiner Imagination den „inneren Ort der Lebenserlaubnis“. Im Verlauf der Imagination, so vereinbarten wir, würden wir schauen, welche Wertgestalt mich dorthin führen könnte. Was dann kam, ist so schön und entlastend, dass ich es ausführlich erzähle, um Sie, liebe Leserin, lieber Leser, zu ermutigen, sich ebenfalls auf innere Wirklichkeitserfahrungen einzulassen.

      Ich warte mit ausgebreiteten Armen in meiner inneren Mitte. Rasch werde ich gewahr, dass ich in einer dunklen, kalten Höhle stehe, mit eiskalten Füßen, auf feuchtem, festgestampftem Erdboden. Es fühlt sich unangenehm an. Ich bin mutterseelenallein und kann mir nicht vorstellen, dass mir jemals jemand zu Hilfe kommen könnte. Die Anweisung der Therapeutin, ich solle mich innerlich aufrichten, führt dazu, dass ich erstmals den Blick hebe. Plötzlich sehe ich, dass die Höhle sich nach oben öffnet und ich ein Stück wunderschönen blauen Himmels sehen kann. Das überrascht mich. Während ich weiter auf das Stückchen Himmel schaue, vergrößert es sich. Wie beim Kulissenschieben im Theater dreht sich die Höhle immer mehr weg, während sich der Himmel mehr und mehr ausbreitet. Das fühlt sich gut an, denn ich merke, dass ich nichts tun muss, außer den Blick zu heben bzw. meine Blickrichtung zu ändern. Doch es meldet sich auch ein Zweifel oder Misstrauen: Was, wenn sich die Kulisse nicht um 180, sondern um 360 Grad dreht? Dann werde ich wieder umhüllt sein von Dunkel. Doch plötzlich merke ich, dass ich mittlerweile direkt in der schönen freien Natur stehe: Es ist hell, ich höre Insekten brummen und Vögel zwitschern, meine Füße spüren angenehmes, weiches Gras, Blumen blühen auf der saftig grünen Wiese. Die Sonne wärmt mein Gesicht. Alles ist wohlig und angenehm warm. Da entdecke ich in der Richtung, in der sich die kalte Höhle befindet, eine Ansammlung von Menschen. Ich weiß: Ihnen kann ich nicht über den Weg trauen. Ich habe Angst, denn ich spüre, dass von ihnen Unheil ausgeht. Ich kann nicht alle erkennen, aber meine Eltern sind dabei, Lehrer, Pfarrer und eine ganze Menge fremder, unheilvoller Gestalten. Auf erneute Anweisung der Therapeutin richte ich mich nochmals bewusst auf und bitte meinen inneren Verbündeten, zu mir zu kommen. Ihn hatte ich bislang noch in keiner Imagination gerufen und wusste also nicht, welche Gestalt sich da wohl zeigen würde. Ich staune nicht schlecht: Es ist Christus, der unmittelbar nach meiner Bitte um Unterstützung erscheint. Er stellt sich an meine Seite und legt den Arm um mich und auf meine Schulter. Augenblicklich verändert sich mein Empfinden der Gruppe gegenüber. Wertfrei blicke ich auf die Menschen und denke sachlich und frei von Angst: „Ja, so war es.“ Und mir ist klar: „Ich bin in Sicherheit.“ Wir stehen eine Weile so und es fühlt sich kein bisschen anstrengend an. Dann setzt Christus sich auf den Boden und lädt mich ein, zwischen seinen Beinen Platz zu nehmen. Ich mache es mir gemütlich. Unwillkürlich denke ich an einen Sitzsack, in den man sich hineinlümmeln kann. Auf die Frage der Therapeutin, ob es ein Wort für mein Empfinden gibt, kommt mir zunächst „Geborgenheit“ in den Sinn, dann noch klarer und deutlicher: ein großes „Ja!“. Es ist ein Ja zum Leben, zu meinem Leben. Dieses Ja geht sowohl von mir aus im Sinne von „Ich sage Ja!“ als auch vom Leben selbst. Es wird mir zugesprochen: „Da ist ein großes Ja zu deinem Leben, zu deinem Sein, frei von Anstrengung.“ Mir wird klar: Ich darf einfach sein! Dann sehe ich ein langes Tuch, auf dem das Wort „Ja“ geschrieben steht. Ich bin ganz bedeckt von diesem leichten Laken, das sich über mich ausbreitet und mich zudeckt. Sofort kommt mir der Gedanke: Solch ein anstrengungsloses Sein gibt es nur im Sarg, im Tod, wenn das Leben vorbei ist. Anders erscheint mir das unmöglich. Ich frage Christus, was er von diesem Gedanken hält, und habe meine Frage noch nicht ganz ausgesprochen, da schubst er mich schon sanft, aber mit Nachdruck nach draußen, ins Leben. Nun trage ich das „Ja-Tuch“ als Schleier oder Kopfbedeckung, fast wie ein Beduine. Christus gesellt sich wieder zu mir an meine Seite. Noch einmal schaue ich auf die Gruppe unglückseliger Menschen und merke, dass ich hier nicht bleiben darf. Auf Anweisung der Therapeutin bitte ich meinen inneren Verbündeten, mich zum Ort der Lebenserlaubnis zu führen. Wir drehen uns miteinander weg und dieser Moment der Drehung ist zugleich der Moment tiefer Erleichterung und Glückseligkeit. Es fühlt sich stimmig an, mich wegzudrehen und Arm in Arm mit Christus wegzugehen. Das Gefühl ist deshalb so schön, weil ich weiß, dass dort drüben, auf der anderen Seite meines Blickwinkels, Neuland wartet, das ich voller Neugier wie ein Kind beschreiten möchte. Wir laufen los und schon beim ersten Schritt merke ich, dass wir Sand unter den Füßen haben. Wir sind an einem wunderschönen Strand und laufen direkt aufs Meer zu. Am Wasser angekommen bleiben wir miteinander stehen und schauen. Die Luft ist frisch und salzig, Möwen ziehen kreischend ihre Bahnen. Das Meer glitzert und funkelt, weit draußen ist ein Segelboot zu sehen. Wir stehen da in völliger Anstrengungslosigkeit und können uns nicht satt sehen an der ewigen Bewegung des Wassers und der Wolken. Ich weiß: An diesem Ort darf ich sein und es gibt keinen Grund, mich jemals wieder hier wegzubewegen. Es gibt nichts, das getan werden muss. Die Sonne sinkt allmählich, der Sonnenuntergang naht und ich weiß: Ja, ich darf einfach sein!

      Die

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