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Alltag ist gefragt. Wir werden noch andere Bezüge sehen, in denen Fragen wie „Was würde Jesus dazu sagen?“, „Wie würde Jesus handeln?“ oder „Wie schaut Jesus mich in diesem Moment an?“ uns helfen können, liebevoller, sinnvoller und friedvoller zu denken, zu fühlen und zu handeln. Welch heilsamer doppelter Dreiklang! Für ebenso zentral halte ich die zweite Komponente dieses so bedeutsamen Menschen: Christus, der Gesalbte. Während ich bei Jesus oder Jeschu an den historischen Rabbi und seine Lehre denke, an der ich mich orientieren kann, führt mich der Begriff „Christus“ auf andere Weise ins Hier und Jetzt: zu dem kosmischen Christus, zu dem ich jederzeit Kontakt aufnehmen kann. Klingt seltsam? Erstaunlicherweise runzeln sogar Kirchgänger die Stirn und schauen mich fragend an, wenn ich über diese Art von Christusbeziehung spreche. Warum leiern sie dann mit großer Selbstverständlichkeit bei den Fürbitten: „Christus, höre uns! – Christus, erhöre uns!“? Bei diesem Wechselruf „gilt“ es dann plötzlich, oder wie? Da erscheint es den Beter*innen auf einmal normal, Christus anzurufen. Das war schon immer so und man braucht sich darüber keine Gedanken zu machen. Man sagt das so, fertig, Amen.

      Wie wäre es, wenn wir immer in Beziehung zu diesem Christus gehen könnten? Wenn wir ihn jederzeit bitten und fragen könnten und auch noch Antwort bekämen? Wie aber soll das gehen, wenn doch dieser historische Jesus vor 2000 Jahren gestorben ist? Allein der Name „Christus“ ist für mich das Sinnbild des Sieges über den Tod. Jeschu ist nicht auferstanden; kein vernünftiger Mensch glaubt an eine leibhaftige Auferstehung im Sinne der „Auferstehung des Fleisches“. Jesus geisterte ganz sicher nicht als Gespenst durch die Welt. Wir werden uns diesem Thema noch ausführlich widmen. Nein, Christus, dieses unsterbliche Bewusstsein, der unauslöschliche Kraftstrahl, er ist es, der den Tod besiegt hat, weil dieser ihm von vornherein nichts anhaben konnte. Wenn ein Bewusstsein reine Liebe ist und nichts als Liebe, dann hat der Tod keine Macht darüber. Das ist die zentrale Botschaft dieses liebenden Bewusstseins, das sich inkarnierte, damit wir es be-greifen können. Darin, in dieser liebevollen Haltung, können und sollen wir dem „Menschensohn“ nacheifern und ihn nicht nur als großes Vorbild sehen, sondern als das Potenzial, das auch wir als Menschen in uns tragen. Wir alle haben immer wieder neu die Wahl und können uns entscheiden: für die Liebe oder für die Angst, für Erhalt oder Zerstörung, für Freund oder Feind. Selbst wenn es uns gelingt, anzudocken an diesem Christusbewusstsein, bedeutet das zwar noch nicht, dass wir diese liebevolle Haltung immer einnehmen und leben können. Was aber sicht- und spürbar wird, ist die Ziellinie, das Idealbild, an dem wir uns orientieren können. Das meine ich nicht nur in Bezug auf andere Menschen oder auf die Schöpfung und unseren Umgang damit. Im Kontakt mit diesem unendlich liebevollen Christus erfahren wir auch für uns selbst, wie es sich anfühlt, angenommen zu sein und bedingungslos geliebt zu werden.

      Wie aber kommen wir in diese erfahrbare Christus-Gegenwart? Die wichtigste Voraussetzung scheint mir eine tiefe Sehnsucht zu sein. Wenn wir dieses Christus-Bewusstsein einladen, sich in unserem Inneren und von dort aus in unserem ganzen Leben auszubreiten, lässt es sich nicht lange bitten. Dabei kommt es darauf an, dass wir uns in den Methoden und Zugangswegen nicht einengen oder behindern lassen. Deshalb ist es so wichtig, fast alles zu vergessen, was Kirche uns jemals darüber erzählt hat.

      Das System Kirche mit seinem teilweise diktatorischen Allmachtsanspruch will uns nur zu gern weismachen, dass es den einzig wahren Zugang zu Christus ermöglicht. Oft ist genau das Gegenteil der Fall. Kirche mit ihren standardisierten und oft zu sinnentleerten Floskeln verkommenen Ritualen versperrt uns genau den Zugang, nach dem wir uns sehnen. Deshalb ist es so wichtig, sich klarzumachen: Damit sich das Christus-Bewusstsein in uns ausbreiten kann, brauchen wir weder Mittler noch vorgegebene Rituale oder Traditionen. Ich will damit nicht sagen, dass es unmöglich ist, in einem kirchlichen Gottesdienst die Präsenz Christi zu spüren; das kann im besten Fall durchaus vorkommen. Aber dieser Ritus ist eben keineswegs not-wendig oder gar die einzige Möglichkeit, um zu diesem alles durchströmenden liebenden Bewusstsein durchzudringen. Sosehr ich selbst mir eine freudvolle spirituelle Gemeinschaft wünsche, in der sich Weggefährt*innen miteinander über ihre Erfahrungen austauschen, so halte ich mir doch vor Augen: Es geht auch anders und notfalls ganz allein.

      Das Erfahren des inneren Christus ist eine urpersönliche, intime Begegnung, die weder Lehre noch Lehrer braucht und auch nicht unbedingt eine über diese Beziehung hinausreichende Gemeinschaft. Was es neben der Sehnsucht zwingend braucht, ist die Bereitschaft zur Innerlichkeit. Nur wenn ich regelmäßig innehalte und Kontakt zu meiner inneren Seelenlandschaft und der sich darin vollziehenden Wirklichkeit aufnehme, kann ich diesen Christus in mir wahrnehmen. Gerade diese Innerlichkeit scheinen wir derzeit in unserer Gesellschaft zu meiden, als hätten wir davor eine Heidenangst. Wovor fürchten wir uns? Was könnte uns dort erwarten, das uns so viel Angst macht, dass wir uns lieber permanent ablenken und uns sowohl optisch als auch akustisch mit lärmenden Bildern und Tönen zudröhnen? Warum ertragen wir so selten die Ruhe, das Nichtstun, das Stehenbleiben und innere Hören? Weshalb ängstigt die Stille so viele Menschen? Vielleicht weil wir, wenn wir still werden, uns zunächst durch eine Schicht hindurchkämpfen müssen, deren Existenz wir lieber weiterhin ausblenden würden. Da melden sich verdrängte Gefühle, alte Verletzungen, unangenehme eigene Züge und Persönlichkeitsmerkmale. Sie alle lassen sich im Lärm und der umtriebigen Geschäftigkeit leichter unter dem Deckel halten. Vermeintlich – denn tatsächlich klopfen sie immer wieder an unsere Bewusstseinstür, und wenn wir nur einen klitzekleinen Moment nicht aufpassen, reißen sie sie unvermittelt auf und strecken ihre unansehnlichen Köpfe garstig in unser Alltagsbewusstsein. Wenn sie immer wieder auftauchen und sich auch mit der lautesten Strategie nicht mehr übertönen lassen, landen wir im Burnout oder in einer Depression oder werden durch handfeste physische Krankheiten ausgebremst. Dann bleibt uns meist nichts anderes übrig, als diese nervigen Plagegeister einen nach dem anderen vorsprechen zu lassen und uns mit ihnen auseinanderzusetzen. Leider handelt es sich dabei nicht um einen einmalig abzuarbeitenden linearen Prozess. Je mehr wir uns aber durch diese Schicht hindurchgearbeitet haben und je öfter wir uns diesen inneren Prozessen stellen, desto leichter wird es, zu unserem eigenen goldenen Kern durchzudringen. Der wiederum ist nichts anderes als das allumfassende Christusbewusstsein, die reine Liebe, der tragende Urgrund des Seins, der sprudelnde Quell des Lebens. Das Göttliche. Gott.

      Jede und jeder von uns trägt dieses Göttliche in sich. Deshalb müssen wir auch nicht irgendwo hingehen und uns von jemandem, der darin angeblich besondere Kompetenzen hat, etwas vorbeten oder gar vorschreiben lassen. Wir können natürlich die Kompetenz von Menschen nutzen, die uns auf unserem Weg in die eigene Innerlichkeit begleiten und uns mögliche Zugangswege aufzeigen. Aber es ist keine zwingende Voraussetzung und schon gar nicht gibt es einen festgelegten Weg, den alle einmütig und möglichst ohne etwas zu hinterfragen zu gehen haben. Wenn wir uns von dieser Vorstellung verabschieden und das Sicherheitsgeländer loslassen, das wir vielleicht in Kindertagen brauchten, in denen uns eine individuelle Gottessuche womöglich überfordert hätte, dann können wir uns auf den Weg machen hin zu freudvollen, kreativen und immer wieder neu überraschenden Begegnungen mit dem Christusbewusstsein in uns.

      Christus, das Göttliche, Urgrund des Seins – ist das alles das Gleiche oder sind das verschiedene Facetten des All-Einen? Meiner Erfahrung nach zeigt sich das Göttliche in unterschiedlichen Bildern und Ausprägungen, je nachdem, was unserer Seele näher und vertrauter ist und was eher geeignet ist, in uns das „Mysterium tremendum“ auszulösen, jene heilsame Erschütterung, die sich so unvergesslich in unser Bewusstsein einprägt, dass wir sie niemals mehr infrage stellen oder anzweifeln. Natürlich wird sich mir Gott nur dann in Gestalt des Christusbewusstseins zeigen, wenn ich dazu über eine Vorstellung, ein inneres Bild verfüge. Nur unter dieser Voraussetzung kann ich Bild und Gestalt überhaupt einander zuordnen.

       „Gott gebiert seinen eingeborenen Sohn in dir, es sei dir lieb oder leid, ob du schläfst oder wachst: er tut das Seine.“

      Meister Eckhart

      Diese vielleicht eher abstrakt erscheinenden Überlegungen füllen sich mit Leben, wenn wir beispielhaft auf Verfahren oder Techniken schauen, die geeignet sind, unsere Kanäle so zu öffnen, dass wir aufnahmefähig werden für das Geschenk solcher inneren Bilder. Eine bekannte und glücklicherweise inzwischen auch im Christentum sich wieder mehr ausbreitende Art der inneren Versenkung ist die Kontemplation. Man vertieft sich in

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