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Vatikan sind leider keine Gegensätze.) Noch vor Erscheinen des Buches zwei Jahre später relativierte ich meine Hoffnung, inzwischen habe ich sie begraben, Auferweckung unwahrscheinlich. Zumindest von oben her wird Kirche sich nicht so fundamental erneuern, dass sie wieder glaub-würdig wird. Damit aber der gute Inhalt wieder weitergegeben werden kann, brauchen wir dringend neue, attraktive Transportgefäße für lebendigen Glauben und eine alltagsrelevante, lebensbejahende Spiritualität.

      Die nachfolgend dargelegten Thesen mögen als Diskussionsgrundlage dafür dienen und hoffentlich einen Beitrag zu einem freudvollen Neuanfang leisten. Die „Fridays For Future“-Bewegung bringt in ihren Demonstrationen und Protestmärschen die Dringlichkeit ihrer (und übrigens unser aller!) Anliegen laut und unbequem zum Ausdruck. Einer der im Wechselgesang skandierten Slogans der Klimaaktivist*innen lautet: „What do you want?“ – „Climate justice!“, „When do you want it?“ – „Now!“. Mit voller Überzeugung unterstütze ich die Forderung dieser großartigen jungen Menschen nach dem sofortigen Umsetzen ernst zu nehmender Maßnahmen für eine klimagerechte Welt. Darüber hinaus übertrage ich ihren Schlachtruf auf meine Vision von einem lebendigen, zukunftstauglichen Christentum: „What do you want?“ – „A new religion!“, „When do you want it?“ – „Now!“.

9,5 Thesen für ein erneuertes Christentum

       „Es ist sehr gut denkbar, dass die Herrlichkeit des Lebens um jeden und immer in ihrer ganzen Fülle bereitliegt, aber verhängt, in der Tiefe, unsichtbar, sehr weit. Aber sie liegt dort, nicht feindselig, nicht widerwillig, nicht taub. Ruft man sie mit dem richtigen Wort, beim richtigen Namen, dann kommt sie.“

      Franz Kafka

      1.Wir besinnen uns auf unseren Religionsstifter.

      Wir haben eine immense Chance: In unseren Breiten und bei den nachfolgenden Generationen verkommt Kirche, egal welcher Konfession, mehr und mehr zur Bedeutungslosigkeit. Jetzt stehen wir vor der Wahl: Entweder wir klagen darüber und lamentieren über den Verfall der religiösen Sitten und Bräuche oder gar des oft bemühten sogenannten christlichen Abendlandes. Oder aber wir wachen auf und werden Sehende, wie die von Jesus tatsächlich oder symbolisch geheilten Blinden. Schlagartig erkennen wir: Dieser gesellschaftliche Umbruch eröffnet uns neue Möglichkeiten. Endlich können wir uns rückbesinnen auf diesen großartigen Zimmermannssohn aus Nazareth und auf das, was er uns an Lebensweisheit und spirituellen Erkenntnis- und Zugangswegen vorlebte und eröffnete.

      Aus dem Mund bzw. der Feder einer Christin klingt dieses lapidar daherkommende „Wir besinnen uns auf unseren Religionsstifter“ zunächst platt. Dass wir, die wir uns Christinnen und Christen nennen, uns an Jesus Christus orientieren sollten, erscheint wie eine Binsenweisheit, die von konservativen Kirchenleuten mit erhobenem Zeigefinger oft genug strapaziert wird. Ich meine es aber in einem revolutionären Sinn: Vergessen wir einmal alles, was Kirche uns jemals über diesen Jesus erzählt hat. Entkoppeln wir Kirche und Christus und schauen, was sich an heilsamer Essenz aus dieser uralten Botschaft herauskristallisiert. Besinnen wir uns auf das, was Jesus wirklich wollte. Doch woher sollen wir das wissen?

      Wir leben in einem unerhört klugen Zeitalter. In rasender Geschwindigkeit werden Neuheiten erfunden und in unserem Alltag implementiert, oft so schnell, dass uns schwindelig wird und uns das Gefühl beschleicht, mit diesem Tempo nicht mithalten zu können. Ich will diese beschleunigten Innovationszyklen an dieser Stelle ausnahmsweise nicht bewerten; das Für und Wider wird von klugen Köpfen immer wieder analysiert und diskutiert. Ich möchte den Fokus auf einen anderen Aspekt lenken: Genauso rasant wie der technische Fortschritt, entwickelt sich auch anderweitig geistige Erkenntnis. Vom einzelnen Gehirn weiß man, dass das Netz der zerebralen Synapsen mit zunehmender Menge an neuronalen Verschaltungen immer schneller wächst. Anders gesagt: Je mehr wir zu einem Thema oder in einem Fachbereich wissen, desto schneller gewinnen wir weitere Erkenntnis. Als 1968 Geborene genieße ich das Privileg, zur ersten Generation zu gehören, die sich auf Knopfdruck das gesamte Weltwissen ins Wohnzimmer oder an die Bushaltestelle holen kann. Wir können uns so schnell informieren und bilden wie keine Generation vor uns.

      Diese Möglichkeit des Erkenntnisgewinns hat verschiedene Folgen: Zum einen brauchen wir uns kein X mehr für ein U vormachen zu lassen. Es kann uns nicht mehr irgendein Un-sinn erzählt werden, den wir einfach annehmen und wortwörtlich „nachbeten“ müssen. Wenn wir das doch tun, handeln wir aus reiner Bequemlichkeit, entweder, weil wir zu träge sind, um uns selbst schlauzumachen, oder weil uns das Althergebrachte so viel scheinbare Sicherheit gibt, dass wir nicht bereit sind, diese Komfortzone zu verlassen. Zum anderen suchen sich immer mehr Menschen Spezialgebiete, in denen sie den Fakten und Zusammenhängen auf den Grund gehen. Wir zitieren daheim oft scherzhaft den begnadeten Kabarettisten Hagen Rether, der während seines Bühnenprogramms gern mehrfach betont: „Die finden jetzt alles heraus. Jetzt haben die sogar herausgefunden, dass …“ Genau: „Die“ finden jetzt alles heraus.

      Einer dieser geistigen Tiefseetaucher, der nicht müde wurde, jahrzehntelang in uralte Schriften abzutauchen, um daraus Erkenntnis zu gewinnen, war der 2009 verstorbene evangelische Theologe und Aramäischforscher Günther Schwarz.4 Diesem brillanten Kopf haben wir eine für viele Menschen vielleicht bittere Erkenntnis zu verdanken: Vieles von dem, was uns Kirche via Bibel über das vermittelt, was Jesus angeblich gesagt hat, ist schlichtweg falsch. Die Vokabel „falsch“ meint nicht ein paar lässliche Übersetzungsschwächen, die man so oder so betrachten könnte, sondern knallharte Fehler und Unwahrheiten bis hin zu völligen Verdrehungen der Botschaften Jesu in das krasse Gegenteil. Anfangs konnte ich es fast selbst nicht glauben, weil mir die Vorstellung schwerfiel, dass uns diese bekannten Wahrheiten offenbar vorenthalten bzw. von Kirche schlicht negiert oder zumindest ignoriert werden. Dabei liegen die ganzen Forschungsergebnisse vor und kein Geringerer als der über jeden Verdacht, einer abstrusen Strömung anzugehören, erhabene Franz Alt schrieb mehrere Bücher über das, was Jesus wirklich gesagt hat.5 Dennoch schien mir das, was ich da las, so unerhört, dass ich zunächst skeptisch war. Kann es sein, dass das, was uns zeitlebens vorgebetet wird, einfach falsch ist und nicht das, was dieser historische Jesus uns sagen wollte? Doch als ich die Arbeitsweise des Aramäisch-Spezialisten Günther Schwarz, von Franz Alt in seinen Büchern einleuchtend erklärt, begriffen hatte, konnte ich die Wahrheit nicht länger ausblenden: Vieles von dem, was mir mein Leben lang in Religionsunterricht, Gottesdienst und Weiterbildung als unumstößliches Faktum verkauft wurde, stimmt schlicht und ergreifend nicht; Jesus hat es so nicht gesagt. Schon immer gab es im Neuen Testament viele seltsame Formulierungen, die man sich nicht recht erklären konnte, und Anläufe einzelner um Aufklärung bemühter Theolog*innen verliefen im Sande. Selbst Papst Franziskus stößt weltweit auf Widerstand, wenn er endlich den zweifelsfreien Übersetzungsfehler im „Vaterunser“ ausmerzen will, der jeden ins Stocken kommen lässt, der nicht einfach etwas daherplappert, sondern mitdenkt, was er sagt: Es heißt nun einmal nicht „Und führe uns nicht in Versuchung“, sondern „Lass retten uns aus unserer Versuchung“6 oder „Lass uns nicht in Versuchung geraten“. Dank des Engagements von Papst Franziskus brachte es dieser völlig widersinnige Übersetzungsfehler, der einen verführerischen Gott vorgaukelt, zumindest zu einiger Berühmtheit. Doch dass es darüber hinaus in der Bibel vor solcherlei sinnentstellenden Fehlern nur so wimmelt, überraschte mich nicht nur, sondern traf mich tief. Wie kann dieser zentrale Text, der – neben dem ohnehin schwer in unsere Lebenswirklichkeit zu übertragenden Alten Testament – die Grundlage unserer Buchreligion bildet, über viele Jahrhunderte hinweg konsequent mit solch eklatant falschen Übersetzungen und Formulierungen sowie hinzuerfundenen Passagen überliefert werden? Die Lehre Jesu wurde erst Jahrzehnte nach seinem Tod aufgeschrieben und das nicht in seiner Muttersprache Aramäisch, sondern in griechischer Sprache, also auch noch in einer westlich geprägten Sprache statt in einer orientalischen, in der Jesus sprach. Dieser altgriechische Text bildet bis heute die zentrale Grundlage für die Übersetzung des Neuen Testaments in sämtliche anderen Sprachen. Dabei ist die Bibel das am häufigsten übersetzte Buch der Welt. Immerhin sprechen wir da allein beim Neuen Testament von 1.515 Sprachen, in die es komplett übersetzt wurde, und von Teilübersetzungen in weitere 1.135 Sprachen.7 Und das immer von einer falschen Grundlage aus?

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