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stand. Ein Geruch von verbranntem Holz, getrockneten Kräutern und ätherischen Ölen lag in der Luft, eine Geruchsmischung, die für Robert so vollständig unbekannt und überraschend war, dass er nahezu berauscht davon wurde. Er zögerte noch, aber da sich alle völlig selbstverständlich auf den Boden setzten, setzte er sich auch. Er inspizierte den Teppich. Ob er sich mit seinem guten Anzug überhaupt dahin setzen sollte? Aber der Teppich schien, so weit die bescheidenen Sichtverhältnisse im Halbdunkel des Raumes einen solchen Befund zuließen, sauber zu sein.

      „Also, wie ist das passiert?“, fragte Gerlinde, als sie ihrem Sohn eine Teetasse reichte.

      Meinrad schlüpfte aus seiner zerrissenen Hose und stellte sein Knie hoch, damit der Arzt es behandeln konnte. Gebhardt träufelte den hochprozentigen Schnaps auf einen Streifen rohweißen Leinen und strich über die Wunde. Meinrad johlte.

      „Willst du einen Lederstreifen zum Draufbeißen?“, fragte Gebhardt. „Geht schon, am Anfang brennt es halt.“

      Robert starrte ohne Unterlass auf Angelika, die sich neben Gebhardt zu Boden gekniet hatte und dessen Handgriffe genau beobachtete. Robert hoffte, sein Gaffen würde nicht zu sehr auffallen, aber scheinbar nahm niemand davon Notiz. Auch, oder vor allem Angelika nicht. Alles an diesem Gesicht war schön, die vollen, leicht geschürzten Lippen, die Nasenlinie, die Backenknochen, die hohe Stirn, das in dichten Locken über ihre Schultern fließende rotbraune Haar und vor allem ihre tiefgründigen, von Vitalität und Impulsivität funkelnden grünen Augen. Was für eine unglaublich schöne Frau. Hatte er je eine schönere Frau gesehen?

      „Da sind ein paar kleine Steinchen unter der Haut. Soll ich sie rauszupfen?“, fragte Angelika und deutete auf das Schienbein knapp unter dem Knie.

      Was für eine Stimme! Robert schnappte nach Luft. Ein rauchiger Alt, verführerisch im ersten Hauch, erotisch in jeder Silbe. Robert versuchte die Kontur ihres Körpers zu erahnen, stellte sich ihren Duft im Morgenlicht nach einer durchliebten Nacht vor. Er war erregt, und wie.

      „Ja, hab ich schon gesehen. Die Pinzette ist in meiner Tasche“, sagte Gebhardt und zeigte kurz auf eine antiquiert aussehende Arzttasche. Angelika öffnete die Tasche, entnahm die Pinzette und kniete sich erneut vor das Knie des Patienten. Bemüht, jeden Handgriff richtig zu setzen und die Wunden von den Steinen zu befreien, ohne Meinrad Schmerzen zuzufügen, machte sie sich an die Arbeit. Sie warf ihr Haar in den Nacken, strich kurz über die das verletzte Knie und setzte die Pinzette an. Robert klagte in sich hinein, warum saß er nicht an der Stelle des Jugendlichen, warum war er nicht der Patient einer so hinreißenden Krankenpflegerin. „Nun, kriege ich heute noch eine Antwort oder nicht“, wies Gerlinde ihren Sohn daraufhin, dass er über die Ursachen des Unfalls noch kein Sterbenswörtchen verloren hatte.

      Meinrad schwieg. Alle warteten auf eine Antwort, er aber schwieg.

      „Ich habe ihn mit dem Auto angefahren. Er ist in den Graben gestürzt.“

      Vier Augenpaare starrten Robert an. Der zuvor warme, dankbare Blick von Gerlinde Riemenschmied fiel mit einem Mal reichlich frostig aus. Robert war die Situation denkbar unangenehm, er rang nach Worten.

      „Es war meine Schuld, aber ich bin sofort stehen geblieben und wollte einen Krankenwagen rufen. Ich stehe für alle Schäden gerade, wenn Sie also die Polizei und die Rettung einschalten wollen, ist das kein Problem, ich wollte es ohnedies tun, aber der junge Mann hat darauf bestanden, hierher gebracht zu werden“, sagte er zu seiner Verteidigung.

      „Ja, das stimmt, ich will nicht in ein Krankenhaus und die Polizei kann mir gestohlen bleiben“, bestätigte Meinrad. „Es ist halt blöd hergegangen, ich habe auch nicht aufgepasst und platsch, liege ich im Graben.“

      „Und wo ist das passiert?“, schaltete sich nun der langhaarige Arzt ein.

      „Auf der Landesstraße drüben oder auf der Bundesstraße bei Dürnfeld?“

      „Weder noch, es war im Wald, auf der Zufahrtsstraße zum Kraftwerk“, erklärte Meinrad.

      „Sie arbeiten also im Kraftwerk?“, fragte Gerlinde und ihr Blick wurde noch finsterer. „Ich habe Sie und Ihr Auto noch nie hier gesehen. Sind Sie neu?“ Robert wurde es richtig mulmig zu Mute, die freundliche Stimmung schlug um.

      „Ich habe dort nur einen geschäftlichen Termin absolviert“, versuchte er zu beschwichtigen.

      Angelika blickte Robert zum ersten Mal direkt an. Heiße und kalte Schauer liefen über seinen Rücken. Ihr Blick war ein Stich mitten in die Brust. Er war in Panik. Angelikas Miene war distanziert, abschätzig, definitiv ablehnend.

      „Wir mögen die Leute vom Kraftwerk nicht besonders“, sagte sie. „Vor allem diejenigen nicht, die mit dicken Autos Fußgänger in den Graben stoßen.“

      Wie erfreut man sie aufgenommen hatte, begeistert von der ersten weiblichen Kriminalpolizistin im Stadtpolizeikommando, überzeugt von ihren guten Referenzen und, wie der Kommandoleiter um ein Kompliment bemüht formuliert hatte, angetan von ihrer charmanten Erscheinung. Seit drei Jahren brauchte sie nicht mehr nach Linz zu pendeln, sondern hatte einen Posten in ihrer neuen Heimatstadt inne. Christina hatte die erste Aufregung ihrer Kollegen ziemlich nüchtern und unbeeindruckt über sich ergehen lassen. Sie hatte sich seit dem Beginn ihrer Tätigkeit bei der Polizei immer nach der Qualität ihrer Arbeit, nach ihren erbrachten Leistungen bewerten lassen wollen, und nicht, weil sie sportlich, schlank und apart war. In ihren ersten Jahren bei der Polizei war sie zum Teil sogar ziemlich schroff gegenüber männlichen Kollegen gewesen, die sie mit Komplimenten oder süßlichem Gerede auf die Rolle der braven und folgsamen Politesse festlegen wollten. Diese Schroffheit war von einer routinierten Kühle und Distanz abgelöst worden. Christina wusste sehr wohl, dass dieses Verhalten ihr nicht besonders viele Freunde einbrachte, aber ihr waren ein professionelles Arbeitsklima und klare dienstliche Strukturen allemal sympathischer als vertrauensselige Verbrüderung. Und das Bedürfnis nach einem umfangreichen Freundeskreis war in ihr niemals ausgeprägt gewesen. Der Vorteil einer solchen Haltung war, dass man sie mit entsprechendem Respekt behandelte, der Nachteil war, dass man ihr immer wieder die wenig interessanten Fälle, die zähe Routinearbeit, die Arbeit, die zwar gemacht werden musste, aber für die niemand so recht Begeisterung aufbringen konnte, zuschob.

      Auch der Umstand, dass sie die Ehefrau von Wilhelm Kayserling war, steigerte bei manchen Kollegen nicht gerade ihre Sympathiewerte. Christina hatte bald Kantinentratsch vernommen, wonach sie, die Gattin des wohlhabenden Unternehmers, es gar nicht nötig habe, zu arbeiten. Sie wolle sich nicht mit einem schicken Auto, einer eleganten Stadtwohnung und einem Wochenendhaus im Grünen zufrieden geben, wolle auch keine Kinder haben, sondern wolle unbedingt Karriere machen, wichtig sein, fühle sich großartig mit einer Schusswaffe im Wandtresor. Dass sie ihren Beruf gern ausübte und einen Sinn darin sah, der Gerechtigkeit zu Geltung zu verhelfen, kam offenbar so manchen Kollegen nicht in den Sinn.

      Christina hatte bei der Heirat den Nachnamen ihres Mannes angenommen. Manche sahen darin ihren Hang bestätigt, sich wichtig zu machen, denn natürlich kannte man in der Stadt den Unternehmer Kayserling, in dessen Logistikfirma immerhin fünfzig Angestellte ihr tägliches Brot verdienten. Christina hatte gar nicht versucht, zu erklären, dass sie ihren Mädchennamen nie besonders gemocht hatte, dass es ihr einfach besser gefiel, Christina Kayserling und nicht mehr Christina Bohnstingl zu heißen. Sie tat, so gut es ging, ihre Arbeit und ließ es dabei bewenden.

      Sie blickte auf die Zeitanzeige auf dem Computerbildschirm, rührte den mittlerweile kalten Tee, nippte daran, stellte die Tasse wieder ab und begann den nächsten Bericht zu tippen. Die Schreibarbeit musste auch verrichtet werden. Da sie erst spät aus dem Büro rauskommen würde, hatte sie sich auch kein Programm für die Gestaltung des Abends überlegt. Ansonsten ging sie, wenn ihr Mann wieder einmal auf Reisen war, ganz gerne alleine aus, mal in eine Ausstellung, mal ins Kino oder in ein Konzert, immer wieder zu Vorträgen in der Buchhandlung am Stadtplatz. Heute aber würde sie nach dem Dienst höchstens noch ein wenig lesen. Da lag nämlich noch ein durchaus interessantes und flüssig geschriebenes Buch über keltische Mythen und Naturgottheiten auf ihrem Nachtkästchen. Warum sollte

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