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voll zur Verfügung. Ich muss mal für kleine Buben.“

      „Ach so, ja, natürlich. Den Gang geradeaus und dann links.“

      Mit stechenden Schmerzen eilte Robert los. Warum war er nicht während der Besprechung ausgetreten? Niemand hätte etwas dagegen gehabt. Es ist doch ganz natürlich, und manche Menschen verfügten eben über kleine Blasen, das ist wirklich kein Problem. Warum war er noch niemals während einer laufenden Besprechung ausgetreten? Warum war er noch immer nicht aus seinem idiotischen Leben ausgetreten?

      Christinas Blick glitt immer wieder über die Oberfläche des schnell strömenden Wassers der Enns. Sie atmete tief, regelmäßig, die letzten paar Meter mobilisierte sie noch einmal ihre Kräfte, erhöhte das Tempo, holte zu weiten Laufschritten aus. Die Regenfälle der letzten Woche hatten die Enns anschwellen lassen, weitere ergiebige Güsse und der Fluss würde über die Ufer treten. Sie trat zu einem Schlusssprint an, erreichte das Ziel und stoppte den Lauf. Christina schüttelte ihre Glieder und machte ein paar Dehnungsübungen, ihr Atemrhythmus beruhigte sich, das verlässliche Glücksgefühl nach einem Lauf breitete sich in ihr aus. Das bräunliche, trübe Wasser der Enns vermischte sich mit dem grünlichen Wasser der Steyr, eine Weile schaute sie dem Tosen der ineinander fließenden Flüsse zu. Sie hatte schon als Kind, als sie mit ihren Eltern manchmal eine alte Tante in der Stadt Steyr besucht hatte, diese bestimmendste aller Charakteristiken der Stadt geliebt. Fließendes Wasser hatte immer eine Faszination auf sie ausgeübt, Quellen, Bäche, kleine Flüsse, immerzu hatte sie in ihrer Kindheit bei den Ausflügen mit den Eltern danach gesucht und war kaum vom Spielen an den Ufern wieder wegzubringen gewesen. Und nun wohnte sie in dieser Stadt an der wasserreichen Enns und der kristallklaren Steyr, diesen Flüssen, die in erdgeschichtlicher Verlässlichkeit die Wassermassen aus den Bergen in das Flachland trugen, und die hier, in Sichtweite vom Fenster ihrer Küche, ineinander flossen.

      Christina drehte sich um und trabte gemächlich die Gassen empor, zog den Schlüssel aus der Tasche ihrer Jogginghose und verschwand in dem Neubau, in dessen drittem Stock ihre Wohnung lag. Seit sechs Jahren wohnte sie nahe der Enns, in dieser Zeit war das Haus noch nicht von den wiederkehrenden Hochwassern betroffen gewesen. Drüben in der Altstadt, am anderen Ufer der Enns, liefen immer wieder Keller voll, ihr Keller war bislang trocken geblieben.

      Christina schlüpfte aus den Laufschuhen und der Sportbluse. Die Wohnung war groß, breite Fenster in der Dachschräge öffneten sich dem Licht, die luftigen Zimmer offerierten Wünschen nach Komfort breiten Raum, ihr Mann hatte ihr bei der Einrichtung alle Freiheiten gewährt, hätte keine Kosten und Mühen gescheut, doch sie hatte sich für weiße Wände und schlichte Möbel aus hellem Ahorn- und Fichtenholz entschieden.

      Christina hob den kleinen Zettel vom Wohnzimmertisch und las die zwei Zeilen, die Wilhelm in seiner krakeligen, immer etwas hastig gesetzten Schrift hinterlassen hatte. Sie lächelte und legte den Zettel wieder auf den Tisch. Christina entledigte sich nun auch der Hose und stieg in die Dusche. Wie zuvor besprochen war Wilhelm aufgebrochen, als sie beim Laufen gewesen war. Er würde wieder einmal eine Woche unterwegs sein, zuerst geschäftliche Termine in Deutschland und danach in Dänemark wahrnehmen, würde versuchen, für sein Unternehmen neue Aufträge an Land zu ziehen und er würde gewiss wieder erfolgreich sein. Wilhelms Firma war in den letzten Jahren zwar langsam, aber beständig gewachsen. Sie hatte einen ebenso kultivierten, wie wohlhabenden Mann geheiratet. Und er hatte sie nie vereinnahmen wollen, hatte ihr ganz selbstverständlich Freiheiten gewährt, hatte sie nie bedrängt, ihren Beruf aufzugeben und in seine Firma einzusteigen. Verlässlichkeit und Freiheit, das waren bislang die tragenden Säulen ihrer nunmehr seit sechs Jahren bestehenden Ehe gewesen. Es gab keinen Grund zur Annahme, dass sich dies in Zukunft ändern würde. Wilhelm hatte einen jugendlichen Sohn aus seiner ersten Ehe, mit dem er sich ausgezeichnet verstand. Christinas Mann war nicht unbedingt ein graumelierter Beau, aber er war schlank und für seine einundfünfzig Jahre sehr sportlich. Beim Sport hatten sie sich auch kennengelernt. Sich an einen um vierzehn Jahre älteren Mann zu binden, der seine Sturm-und-Drang-Jahre hinter sich hatte, brachte in Christinas Augen gewisse Vorteile.

      Nach der Dusche wählte Christina die Kleidung für den Arbeitstag, der für sie heute erst am frühen Nachmittag beginnen würde. Bedächtig tippte sie die Geheimnummer in den Wandtresor, die Riegel öffneten sich klackend, sie zog die Tür auf und entnahm die Pistole. Mit geübten Griffen kontrollierte sie die Ladung und Sicherung der Waffe und steckte sie schließlich in das Hüfthalfter. Eine bequeme Sommerjacke verdeckte Waffe und Halfter.

      Christina blickte auf die Anzeige ihres Handys. Ein wenig Zeit bis zum Dienstantritt blieb noch, sie würde also in der Orangerie im Schlosspark noch eine Tasse Kaffee nehmen können. Das Wetter sprach unbedingt dafür.

      Robert Wieser stand vor dem Waschbecken und starrte auf sein Spiegelbild. Sein Haar an der Schläfe zeigte mittlerweile einen erkennbar grauen Ton. Vor ein paar Jahren war der Scheitel etwas schütter geworden, Robert konnte sich noch genau an die aufsteigende Panik erinnern. Aber der Haarausfall war nicht vorangeschritten, der Scheitel war etwas dünner geworden, die befürchtete Glatze hatte sich zum Glück nicht gebildet. Und die graumelierten Schläfen machten sich gar nicht schlecht, es hieß doch, dass viele Frauen Männer mit grauen Schläfen bevorzugten, sie anziehender als junge Spunde und unerfahrene Grünschnäbel fanden, insbesondere wenn diese Männer schlank waren und eine herbwürzige männliche Agilität vermuten ließen. Robert Wieser war graumeliert, schlank durch die regelmäßigen Besuche im Fitnesscenter und seine besonnene Ernährungsweise, doch was war mit seiner Agilität? Er stand in der Mitte seines Lebens, war dreiundvierzig Jahre alt. Das Spiegelbild im künstlichen Licht einer x-beliebigen Toilette im x-beliebigen Bürotrakt einer x-beliebigen Industrieanlage ließ nicht vermuten, dass der Mann hinter diesem Spiegelbild trocken war wie altägyptisches Pergament, dass jeden Tag ein kleines Stück von ihm zu Staub zerfiel.

      Wie lange würde er das Versteckspiel noch durchstehen, wie lange die Maskerade noch aufrechterhalten können? Wann hatte er zuletzt mit einer Frau geschlafen? Also wirklich gebumst, nicht nur schnell den Notstand herausgetropft, sondern wirklich leidenschaftlichen, mitreißenden, erfüllenden Sex gehabt? Robert dachte an Herta. Er öffnete den Wasserhahn und seifte seine Hände kräftig ein. Nach Parfüm duftender Schaum sickerte in den Abfluss.

      Seine Frau Herta hatte mit seinen Wünschen, seinen Sehnsüchten, seiner Einsamkeit schon lange nichts mehr zu tun, seine Frau Herta interessierte sich nicht mehr für ihn, ließ ihn gelegentlich, immer seltener, gewähren, kümmerte sich aber in der Regel um ihre Belange. Der Robert ist in Wahrheit mit seiner Arbeit verheiratet, hatte Herta an seinem fünfunddreißigsten Geburtstag den zum Fest geladenen Bekannten erstmals gesagt. Robert konnte sich an die Szene bis in die kleinsten Details erinnern. Er war gegen das Geburtstagsfest im Garten seines Häuschens gewesen, gegen die Idee, mit Grillkoteletts und Würstchen, mit Obstsäften und für die Herren mit ein paar Bierchen dieses Jubiläum zu begehen, aber Herta hatte alles im Handumdrehen organisiert gehabt. Und zugegebenermaßen, den Gästen hatte der Nachmittag beim Grillen und der laue Abend bei der einen oder anderen Flasche gut gekühlten Weißweins gefallen. Und seine Frau hatte gesagt, er wäre in Wahrheit mit seiner Arbeit verheiratet. Niemals hätte Robert so etwas von sich behauptet, niemals wäre er auch nur auf diesen Gedanken gekommen, die Arbeit war die Arbeit, die Ehe war die Ehe. Viel später hatte Robert verstanden, warum Herta das gesagt hatte, hatte ihre hintergründige Strategie durchschaut, ihre Pläne entlarvt. Dieser Satz war nämlich zu dieser Zeit kein Befund einer gegenwärtigen Lebenssituation gewesen, sondern der Grundriss eines in der Zukunft zu realisierenden Lebensplanes. Sie hatte ihn dazu verdonnert, mit seiner Arbeit verheiratet zu sein, sie hatte sich seiner lästig gewordenen Anwesenheit durch das lebenslange Büro und endlose Dienstreisen entledigen wollen. Und er hatte getan, was sie gesagt hatte, hatte immer getan, was sie gesagt hatte. Immerhin verdiente er als Ingenieur seriös, und seit zwei Jahren war der Kredit für das in frühen Jahren gebaute Einfamilienhaus im Süden Wiens zurückgezahlt, die zwei Kinder waren zu durchschnittlichen Jugendlichen mit hinreichenden schulischen Erfolgen herangewachsen. Alles lief nach Plan, noch zwanzig Jahre fleißige Erwerbsarbeit des Familienvorstandes, und eine Rente in finanzieller Sicherheit

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