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      „Dort stehen sie, unerschütterlich auch im Regen. Tja, Kohle dürfen wir nicht verheizen, aber der Strom soll schon aus der Steckdose kommen.“ Jetzt lachte auch Robert, denn er konnte sich dunkel erinnern, dass heute früh, als er mit dem Auto auf das Kraftwerk zugefahren war, ein paar verirrte Leute mit Stopp-dem-Klimawandel-Transparenten neben der Straße gestanden hatten.

      „Na, dann wünsche ich noch eine gute Fahrt“, sagte Magister Reicher und reichte Robert erneut die Hand. Hörte das denn niemals auf?

      Nach weiteren unendlichen Mühen gelang es Robert die Sicherheitskontrollen hinter sich zu lassen und mit dem Auto langsam über die Landstraße zu fahren. Er öffnete die Fenster und schnappte nach der hereinströmenden Luft. Ein Blick in den Rückspiegel versicherte ihm, dass er das Kraftwerksareal wirklich hinter sich gelassen hatte. Robert lenkte den Wagen, ohne tatsächlich auf den Straßenverlauf zu achten, aber mit untrüglicher Routine auf den Wald zu. Sein Tempo war höchstens gemächlich, auf der Autobahn würde er den Wagen schon noch laufen lassen. Robert hatte Kopfschmerzen, sein Hals kratzte, ihm war übel und doch war er erleichtert. Das Geschäft war unter Dach und Fach, er hatte sich wieder einmal über die Ziellinie gerettet. Wie oft noch? Wie lange noch?

      Meinrad geisterte durch den Wald, darauf achtend, nicht über Wurzeln oder herumliegende Äste zu stolpern. Ihm war schwindelig, alles drehte und bewegte sich in seinem Kopf. Das Zeug haue richtig rein, war ihm versichert worden, das sei kein gestreckter Biomüll, das sei erstklassiges, unverschnittenes Gras, das sei Natur pur. Die Neuankömmlinge aus München waren tatsächlich für einige Überraschungen gut, zuerst die hübschen Studentinnen und dann noch die zwei langhaarigen Hanfzüchter. Achim und Bernhard, zwei urbane Tagediebe, deren literaturwissenschaftliche Studien sich insbesondere und, wie sie versicherten, mit zunehmender Ausschließlichkeit auf Handbücher über Hanfpflanzungen in geschlossenen Räumen erstreckten. Auf vierzig Quadratmetern im Dachgeschoss eines alten Zinshauses in München, das Achims Tante gehörte, hatten sie einen Marihuanagarten mit Lampen und Heizstrahlern eingerichtet, so dass sie nicht mehr von illegalen Importen abhängig waren. Die beiden hatten während des Regengusses in ihrem Zelt einen dicken Joint gedreht und Meinrad davon abgegeben. Meinrad hatte zwar schon einmal an einem Joint gezogen, aber davon war ihm damals augenblicklich schlecht geworden, so dass er keine große Lust verspürt hatte, der Einladung der zwei vermeintlichen Weltverbesserer zu folgen. Erst nach einiger Überredung hatte er doch an dem ihm unter die Nase gehaltenen Joint gezogen und nun taumelte er, nachdem die erste Welle von Übelkeit überwunden war, total high durch den Wald.

      Ihm war klar, dass er die beiden Kerle in den nächsten Tagen meiden würde wie der Teufel den Weihrauch. Da hielt er sich schon lieber an die Vergnügungen, die ihm die feschen Studentinnen zu bieten versprachen. Er beeilte sich, denn der Regen war längst vorbei, langsam brach der Abend an und in der Siedlung wurde schon in einem großen Kessel über offenem Feuer die allabendliche Suppe gekocht. Er hatte versprochen die beiden beim Zaun abzuholen, und er war spät dran. Meinrad kämpfte sich durch den wankenden Wald, bemüht, sich von den überall auftauchenden absurden kleinen Waldkobolden und ihrem schalkhaften Gekicher nicht aufhalten zu lassen. Das Zeug haute wirklich rein.

      Robert beugte sich nach vorn und öffnete das Handschuhfach. Darin befanden sich eine Menge CDs und er suchte nach der passenden Geräuschkulisse für die nächsten zwei Stunden Autofahrt. Er hielt seinen Musikgeschmack für nicht besonders erlesen, er hörte so ziemlich alles, was gerade irgendwie modern war, am liebsten waren ihm aber die alten Schlager aus seiner Jugendzeit, die flotten Popsongs der Achtzigerjahre, als die Welt noch spannend, die Musik tanzbar und das Leben noch voller Überraschungen war. Robert ächzte. Wo war die CD von ABBA, er konnte sie nicht finden, hatte er sie am Ende beim letzten Autoputz in der Garage liegen lassen? ABBA war seine Lieblingsgruppe. Obwohl er die Songs dieser Band schon tausende Male gehört hatte, schob er bei längeren Autofahrten die CD immer wieder gerne ein. Robert fluchte vor sich hin und kramte im Handschuhfach, das Auto mit mäßigem Tempo durch das Waldstückchen lenkend.

      Ein dumpfer Schlag.

      Robert sah, wie ein Körper in den Straßengraben geschleudert wurde. Mit einem Mal rumorte Adrenalin in seinen Adern, er trat voll auf die Bremse, wurde in den Sicherheitsgurt geworfen. Das Auto kam nach wenigen Metern zum Stillstand, schwer atmend klammerte er sich mit beiden Händen an das Lenkrad. Er versuchte sich die Sinneseindrücke der letzten Augenblicke zu vergegenwärtigen, versuchte herauszubekommen, ob er einer Täuschung, einem Tagtraum, einem Wahnbild zu Opfer gefallen war. Nein, alles war so real, restlos von Wirklichkeit durchdrungen. Er hatte sich zum Handschuhfach hinübergebeugt, hatte nicht auf die Fahrbahn geachtet, war nicht vom Gaspedal gestiegen, das Auto war zu weit an den Straßenrand geraten, so hatte er einen Fußgänger touchiert und in den Straßengraben gestoßen. Robert fingerte hektisch am Sicherheitsgurt, zog den Autoschlüssel ab und warf die Autotüre auf.

      „Ist Ihnen etwas passiert? Sind Sie verletzt?“, rief er der im Straßengraben sitzenden Person zu.

      Er erhielt keine Antwort, aber immerhin saß der Mann. Robert konnte das Gesicht des Mannes nicht sehen, dieser hielt ihm den Rücken zugewandt und massierte seine Schulter. Robert war völlig konfus. Seit fast fünfundzwanzig Jahren fuhr er Auto, und er fuhr berufsbedingt viel, aber bis auf ein paar kleine Dellen und Schrammen, an denen er meist selbst keine Schuld hatte, war ihm noch nie ein Unfall passiert. Schon gar nicht mit Personenschaden. Er schnappte nach Luft, seine Hände schwitzten, Robert stieg den kleinen Abhang hinunter, um dem Mann wieder auf die Beine zu helfen.

      „Sind Sie verletzt?“, erneuerte er seine Frage und trat an den Mann heran. Eine zum Glück nicht tiefe Schramme zog sich über das junge, bleiche Gesicht. Es war ein Jugendlicher. Robert beugte sich besorgt nach vorn.

      „Natürlich bin ich verletzt!“, keifte Meinrad den verrückten Autofahrer an. „Da! Schaut das verletzt aus oder nicht?“

      Der junge Mann zog den linken Ärmel seines zerrissenen Hemdes hoch und präsentierte eine leicht blutende Schürfwunde am Ellbogen.

      „Kannst du aufstehen? Ich helfe dir. Gib mir die Hand.“

      Robert versuchte dem Jugendlichen beim Aufstehen behilflich zu sein, dieser aber wollte sich nicht helfen lassen und erhob sich von alleine.

      „Na super, die Hose ist auch im Arsch.“

      Das linke Hosenbein war zerschlissen und das Knie blutig geschürft.

      „Ich rufe einen Krankenwagen. Du musst ins Spital“, sagte Robert und eilte zurück zum Auto, um sein Handy zu holen.

      Meinrad spürte von der Benebelung nichts mehr, seine Sinne waren durch den Stoß kristallklar und geschärft, auch fühlte er keinen Schmerz. Das konnte nur der Schock sein. Wie hatte er es von Gebhardt, dem Arzt in der Kommune, gelernt? Die Atmung stabilisieren. Das war es. Meinrad lockerte seine Glieder, schüttelte den Schock von sich und atmete ein paar Mal tief ein und aus. Währenddessen wählte Robert die Notrufnummer der Rettung.

      „Kein Krankenwagen“, brummte Meinrad und blickte Robert an.

      „Was? Du bist verletzt, du blutest, du brauchst ärztliche Hilfe.“

      „Kein Krankenwagen. Bis der da ist, ist die Blutung gestillt und Gebhardt wird die Kratzer mit Schnaps auswaschen.“

      Robert hatte die Notrufnummer schon eingetippt, er brauchte nur noch die Ruftaste betätigten, um die Verbindung herzustellen.

      „Wie bitte?“, fragte Robert entgeistert.

      „Hören Sie, ich bin nicht versichert, ich kann mir keinen Krankenwagen leisten. Aber Gebhardt ist Doktor der Medizin, er wird sich die Kratzer ansehen.“

      Robert starrte den jungen Mann, dessen Gesichtsfarbe sich wieder normalisiert hatte und der plötzlich gar nicht wie ein Unfallopfer redete, mit offenem Mund an.

      „Du bist nicht versichert …“, murmelte Robert ungläubig.

      „Angeblich

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