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Nora, dass sie schwanger war...

      „Guten Morgen, Nora!“ Der Gruß des Hausmeisters riss sie aus ihren Gedanken. „Warum guckst du denn so verbiestert? Hast du etwa wieder geträumt, dass die Ausstellung nicht fertig wird?“

      Das hatte sie in letzter Zeit tatsächlich. Sie reichte ihm die Hand. „Guten Morgen, Lindemann! Sie muss wohl fertig werden, was? Viel Zeit haben wir ja nicht mehr. Kannst du mir heute noch ein paar Kartons ins Büro bringen? Ich will schon einige Sachen einpacken, die nicht gebraucht werden, wenn ich weg bin.“

      „Für dich doch immer, bin gegen zehn da“, versprach er.

      Nun hatte sie es plötzlich eilig. Wie konnte sie nur so in Gedanken versinken? Eigentlich sollte sie andere Dinge bedenken, als ihre Ehe, die doch eigentlich ganz gut lief. Mit schnellen Schritten verließ sie den Parkplatz und eilte zum Verwaltungseingang der Galerie.

      2

      „Jawohl, Frau Barkow, das machen wir so. Ja, ich habe Ihre E-Mail schon gelesen. Wir sehen uns dann nächste Woche. Schönen Tag noch!“ Günther Börner legte den Hörer auf und öffnete den obersten Knopf seines Hemdes. Diese Frau schlief wohl nie. Ihre erste E-Mail war heute Morgen um fünf gekommen. Ihm war heiß. Und das nicht nur wegen der Heizung, die, obwohl es schon Mai war, noch immer lief. Er musste unbedingt Lindemann deswegen Bescheid sagen. Andererseits, dann beschwerten sich wieder die Frauen. Die froren ja dauernd. Er wischte sich mit dem Taschentuch den Schweiß von der Stirn und ließ sich schwerfällig auf seinen Schreibtischstuhl fallen. Komischerweise stand er jedes Mal auf, wenn die Bürgermeisterin anrief. Und das kam in letzter Zeit oft vor. Seit sie vor einem Jahr ins Amt gewählt worden war, schien sie einen Narren an der Galerie gefressen zu haben. Das war ihm einerseits unheimlich, andererseits schmeichelte es ihm. Sie galt als ziemlich kaltschnäuzig und wurde von den Mitarbeitern der Stadtverwaltung nur die „Schneekönigin“ genannt. Nach der Schließung des hiesigen Stadtmuseums - offiziell von der Bauaufsicht, hinter vorgehaltener Hand jedoch war davon die Rede, das Gebäude zu verkaufen - war es ihre Idee gewesen, dessen nicht allzu umfangreichen Fundus in die Städtische Galerie zu integrieren. Freilich musste Börner zwei Räume der Galerie, die in einer Jugendstilvilla untergebracht war, nun für die neue Dauerausstellung zur Stadtgeschichte abzweigen, aber im Grunde fand er den Gedanken gar nicht mal so übel. Ständig hatte sich das Stadtparlament über sinkende Besucherzahlen bei ihm beschwert und größeres Engagement gefordert. Wenn er allerdings mehr Geld für Sonderausstellungen und Marketing brauchte, beriefen die Abgeordneten sich darauf, dass Kultur ja schließlich keine Pflichtaufgabe sei. Darüber konnte er sich jedes Mal wieder neu empören. Ja, was glaubten denn die Damen und Herren, wie man zu mehr Besuchern kam? Mit der geplanten neuen Präsentation der Stadtgeschichte eröffneten sich nun aber ganz andere Möglichkeiten. Plötzlich stellte die Stadtverwaltung Förderanträge und warb Sponsorengelder ein. Ihm sollte das nur recht sein.

      Er lehnte sich etwas in seinem Schreibtischstuhl zurück, legte die Hände auf den üppigen Bauch, über dem sich das zu eng gewordene, nicht ganz saubere Hemd spannte und lächelte versonnen. Bis jetzt waren sie ganz gut im Plan. Sein Blick fiel auf seinen Schreibtisch. Da stapelte sich mal wieder die Post, wie er zerknirscht registrierte. Der schöne Jugendstilschreibtisch, der noch aus der Ersteinrichtung der Villa stammte und den die ehemaligen Besitzer zurückgelassen hatten, war mit Katalogen, Schriftstücken und Einladungen zu Ausstellungseröffnungen übersäht. Er rieb sich das Kinn und betrachtete das Chaos. Im nächsten Moment fiel ihm die E-Mail der Bürgermeisterin wieder ein. Er hatte sie noch gar nicht zu Ende gelesen. Gut, dass sie nicht nach Einzelheiten gefragt hatte. Er scrollte im Text weiter nach unten und überflog die Zeilen. Dann stutzte er. Der Termin für die Eröffnung der neuen stadtgeschichtlichen Abteilung passte dem Minister nicht, deshalb hatte die Schneekönigin ihn einfach um vier Wochen vorverlegt und ihm das in ihrer gestrigen E-Mail mitgeteilt, schrieb sie. Angeblich habe er zugestimmt. Da bis heute Morgen um acht Uhr keine Antwort von ihm eingegangen sei, habe sie das als Einverständnis gewertet und den Minister informiert, der seinerseits nun sein Kommen zugesagt habe. Das meinte sie also vorhin mit ihrem „Ich vertraue Ihnen voll und ganz, Herr Dr. Börner“. Das durfte doch nicht wahr sein! Sie hatte ihn aufs Kreuz gelegt! Na ja, genau genommen hätte er einfach nur ihre E-Mails lesen müssen. Ganz abgesehen davon, auch ohne diesen billigen Trick hätte sie das Eröffnungsdatum willkürlich festlegen können.

      Er schwitzte und fuhr sich mit der Rechten über den fast kahlen Schädel. Hastig lockerte er den Schlipsknoten. Der ganze Plan geriet durcheinander; es war fraglich, ob sie das schaffen konnten. Nora würde außer sich sein. Ratlos blickte er aus dem Fenster.

      Es regnete noch immer. Die Turmuhr von St. Josef zeigte halb zehn. Noras Teamsitzung hatte wohl schon begonnen. Besser, er beichtete ihr gleich das Dilemma. Wie sie reagieren würde, mochte er sich nicht vorstellen. Dabei konnte er doch gar nichts dafür! Er hasste es, zwischen Baum und Borke zu stehen. Es kam ja kaum infrage, der Schneekönigin öffentlich die Schuld zu geben. Er stöhnte.

      Jetzt brauchte er eine Stärkung. Er drehte seinen Stuhl herum zum Bücherregal. Mit der linken Hand zog er zwei Bände des Thieme/Becker heraus und griff mit der rechten in die Lücke. Die Flasche war noch halbvoll. Er goss einen Schluck in seine Teetasse und stellte Flasche und Bücher zurück. Dann füllte er die Tasse mit schwarzem Tee auf und trank.

      3

      Nora nippte an ihrem Kaffee, der inzwischen kalt geworden war. Sie behielt den Schluck einen Moment lang im Mund, um den leicht bitteren Koffeingeschmack auf der Zunge zu haben. Es war warm in ihrem nicht allzu geräumigen Büro. Sie zog ihre Strickjacke aus, stand auf und öffnete das Fenster. Anschließend setzte sie sich wieder zu ihren Kollegen und ließ kurz den Blick durch den Raum schweifen. Im Gegensatz zu ihrem Chef bevorzugte sie moderne Büromöbel. Nur ihr Bücherregal war eine Biedermeier-Vitrine. An den Wänden hingen alle verfügbaren Pferdebilder, die der Galerie-Fundus hergab. Na, und? Es konnte jeder wissen, dass sie eine Pferdenärrin war. Sie hatte Andrea, die Magazinmeisterin, die sowieso immer über Platzmangel in den Depoträumen klagte, zu dieser Extrawurst überredet. Normalerweise hatten die Gemälde, die nicht ausgestellt waren, im Magazin zu sein. Auf ihrem Schreibtisch stand gar die Skulptur eines berühmten Zuchthengstes von einem ebenso berühmten Künstler. Sie freute sich jeden Tag an der kleinen Figur und war sich sicher, dass hier der beste Platz dafür war, sowohl für den Bronzehengst als auch für sie.

      Seit mehr als vierzehn Jahren arbeitete sie jetzt schon in der Neustädter Galerie und war für die große Gemäldesammlung verantwortlich. Schon gleich nach dem Zweiten Weltkrieg hatte ein rühriger Verein zu sammeln begonnen und war in die Villa gezogen. Kurze Zeit später übernahm die Stadt die Galerie. So etwas passierte heute leider nur noch umgekehrt. Im Fundus waren bis auf einige Werke international bekannter Künstler vor allem die sogenannten Lokalmatadoren vertreten, einheimische Malerinnen und Maler von mehr oder weniger guter Qualität, dafür aber beliebt bei den hiesigen Museumsbesuchern.

      Nora wandte sich wieder ihren Kollegen zu. Seit einer halben Stunde saßen sie zusammen und berieten wie fast jede Woche über die Arbeit an der neuen Ausstellung.

      Ihr Chef hatte die Teamleitung für den Ausstellungsaufbau Nora übertragen. „Du hast das richtige Händchen dafür, glaub mir!“, hatte er ihr geschmeichelt. Das war gar nicht nötig, denn er konnte das schließlich bestimmen. „Als Kulturwissenschaftlerin bist du genau die Richtige für die praktische Durchführung und kannst Leute motivieren. Komm schon! Du schaffst das! Du bist ordentlich, stets gut vorbereitet, und dein Arbeitszimmer ist aufgeräumt.“ Als ob davon der Erfolg einer Ausstellung abhängen würde! Aber es stimmte, in so einer Möhle, wie sie bei ihm herrschte, konnte sie nicht denken.

      Heute allerdings war der große Besprechungstisch mit Raumplänen, Papieren und Notizbüchern übersät. Dazwischen standen Tassen und die große Keksdose aus Blech, die Nora stets auffüllte.

      Johannes, ihr Praktikant, berichtete von seinem Besuch bei der Grafikerin. Sie war froh, dass er ausgerechnet jetzt ein Praktikum bei ihr absolvierte. Er war vor zwei Jahren, als Student, schon einmal für sechs Wochen dagewesen. Nun hatte er bereits seinen Bachelor in der Tasche und

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