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„Freche Gören“ zuruft. Dann versuche ich, Oma mit allerletzter Kraft schnell vom Ort der Scham in Richtung unseres Hauses zu ziehen.

      Einmal kann ich Oma ablenken und überlisten. In einer unbeobachteten Zeit locke ich einige der mich sonst attackierenden Kinder in unseren großen Garten, unter einen riesigen Kirschbaum. Da ist die Erde um den Stamm dunkel und es wächst nicht einmal Unkraut. Die Mädchen, bei mir zu Besuch, sollen ruhig sehen, dass ich nicht feige bin – auch im kühlen Dunkel unterm großen Blätterdach keine Angst habe. Und, ich kann etwas zum Anschauen bieten: einen Rabenvogel, der nicht mehr fliegen kann, denn ein Flügel hängt ihm auf dem Boden herunter. Das schwarz glänzende Tier hüpft aufgeregt um den Stamm des Baumes herum. Vor zwei bis drei Tagen hatte mich ein Rascheln in gefallenen Ästen und Blättern erschreckt, bevor ich den schönen Vogel entdeckte.

      Heute bemerke ich, dass nicht alle kleinen Besucherinnen ohne Furcht sind! Sie wollen nun wissen, was zu tun sei. Ich schlage vor, ein Grab vorzubereiten, für den Fall, dass der Vogel sterben würde, er könne ja nicht selbst jagen. Ein herumliegender Spaten bringt mich auf diese Idee. Ich ergreife ihn und zeichne mit seiner scharfen Kante einen Kreis, gebe ihn weiter zur Nächsten. Sie beginnt ein wenig Erde auszubuddeln, gibt den Spaten weiter. Alle zeigen, was sie schaffen können, das zukünftige „Grab“ entsteht. Wir pflücken einige Blumen im Beet und schmücken es.

      Ich bin Feuer und Flamme, freue mich, bin leicht durchgedreht darüber, dass so viele Mädchen mit mir unter meinem Lieblingsbaum einträchtig beisammen sind. In diesem Hochgefühl frage ich, ob wir den Rabenvogel zusammen fangen könnten, um ihn näher zu betrachten, ihm in die Augen zu schauen. Zunächst rennen wir alle um den Stamm des Baumes. Jede möchte beweisen, wie mutig sie ist. Doch irgendwann fangen wir nacheinander an zu jammern, Seitenstechen oder Wadenweh lässt uns aufgeben. Vielleicht ist die „Schau“ langweilig geworden?

      Ich möchte die Kinder doch noch nicht gehen lassen! Mich sticht der Hafer, ich ziehe meinen letzten Trumpf, frage nach einer letzten Mutprobe: „Wer traut sich, ins zukünftige Vogelgrab zu pinkeln?“ Die einen kichern, andere sind stumm geworden. Ohne langes Federlesen strippe ich mit erdigen Fingern mein Unterhöschen herunter, setze mich über das gemeinsam gegrabene Vogelgrab, lasse mein Pippi sprudeln, schäumen… schaue beim Hochziehen meiner Hose in entsetzte Gesichter. Als die erste weinend den Ausgang des Gartens sucht, rennen ihr die anderen hinterher und erschrocken bleibe ich als Verliererin zurück und schäme mich ein bisschen über die wohl verunglückte Mutprobe.

      Ein solch übermütiges Spiel, in einer Zeit, in der wir Mädchen noch sehr prüde erzogen worden waren, wollte ich nie mehr spielen. Das war mir ein Stück weit unterm Kirschbaum schon klar geworden! Aber was hatte ich den anderen Mädchen sonst zu bieten?

       Viel zu oft habe ich allein gespielt

       Gerda Blume

       1942 in Delmenhorst geboren. Ihr Vater war schon vor ihrer Geburt gefallen. Als sie sieben Jahre alt war, heiratete die Mutter ein zweites Mal. Der neue Vater brachte einen zwei Jahre älteren Bruder mit. Ein Jahr später wurde noch ein gemeinsamer jüngerer Bruder geboren. Nach dem Abitur studierte sie Jura und wurde Rechtsanwältin. Sie ist mit einem Arzt verheiratet und hat drei Söhne und sieben Enkel, für die sie ihre Geschichten schreibt.

       Nikolaus

      Es muss in der Mitte der fünfziger Jahre gewesen sein, jedenfalls war ich schon lange aus dem Alter heraus, in dem man noch an den Weihnachtsmann und ähnliche Märchengestalten glaubte. Es geschah auch sicher schon zu einer Zeit, als ich begann, einen gewissen Freiheitsdrang zu entwickeln und gegen die vielen starren Verhaltensmuster meiner Familie zu rebellieren. Es gab ziemlich viel Ärger, weil ich nicht pünktlich zu den Mahlzeiten da sein konnte – oder wollte – und weil ich meinen Kopf durchsetzen wollte. Wir saßen am Abend – es war der 5. Dezember – zusammen beim Abendessen, als es an der Haustür klingelte. Überrascht sahen wir alle auf und die Gespräche am Tisch verstummten. Wer mochte das noch sein so spät? Ich erhob mich schließlich, weil ich der Tür am nächsten saß, um nachzusehen. Als ich aus dem Esszimmer in die Diele trat und zur Haustüre ging, fiel mir erstmals auf, dass es draußen offenbar recht stürmisch geworden war und der Wind heulte. Ich hatte die Haustür schon fast erreicht, als es nochmals sturmklingelte und ein kräftiger Windstoß die große Haustür förmlich im Rahmen knacken ließ. Gleichzeitig flog ein weißes Blatt Papier unter dem Türschlitz hindurch und rutschte vor meine Füße. Ich hob es auf und öffnete die Tür, um zu sehen, wer davor stand. Es war niemand da. Verblüfft rannte ich die äußeren Treppenstufen hinab, schaute nach links und rechts und die Auffahrt hinunter, niemand, nur der Sturm heulte plötzlich mächtig in den alten Bäumen. Ich lief ins Haus zurück, schloss die Tür wieder und warf erst jetzt einen Blick auf das weiße Blatt in meiner Hand. Ich glaubte, meinen Augen nicht zu trauen. „Liebe Gerda“, stand da „wer sich so benimmt wie Du in letzter Zeit, wer so wie Du meint, auf nichts und niemanden in der Familie Rücksicht nehmen zu müssen, der kann auch keine Rücksicht und kein Verständnis erwarten. Ich hätte nicht gedacht, dass ich Dir das einmal sagen müsste. Denk mal darüber nach. Nikolaus.“

      Zitternd faltete ich das Blatt zusammen und schob es in die Hosentasche. Dann ging ich ins Esszimmer zurück und überflog die Reihe meiner Familie. Es fehlte keiner, keiner, der sich aus dem Zimmer hätte stehlen und mir einen Brief unter der Haustür hätte hindurchschieben und gleichzeitig draußen klingeln können.

      „Wer war da?“, fragte mein Vater und ich versuchte, möglichst gleichgültig mit den Schultern zu zucken und antwortete: „Niemand.“ Die Familie wunderte sich und diskutierte, wer das wohl gewesen sein mochte, zumal ich hinzufügte, dass ich auch die Treppe hinabgelaufen sei und vor dem Haus nachgesehen hätte. Ich schämte mich entsetzlich und konnte gar nichts mehr essen. Am späten Abend beichtete ich meinem älteren Bruder das Erlebnis und zeigte ihm den Brief. Er war genauso ratlos wie ich, aber er tröstete mich, was ich gehofft hatte, sodass ich wenigstens halbwegs beruhigt ins Bett gehen konnte.

      Wir haben nicht mehr darüber gesprochen, aber gelöst wurde dieses Rätsel nie.

       Gefährliches Spiel

      Im heimatlichen Dorf Hude, nördlich von Bremen, bestand meine Welt aus dem Elternhaus, dem Garten und dem angrenzenden Wald. Hier durften wir Kinder mit unseren Freunden, und wir waren oft eine ganze Menge, spielen und toben, soviel wir wollten. Aber mit zunehmendem Alter vergrößerte sich der Aktionsradius bis zu dem Gelände der alten Klosterruine, die damals noch frei begehbar war. Heute ist alles eingezäunt und mit Verbotsschildern versehen. Viele Geschichten und Legenden ranken sich um das vom Bischof von Bremen schon Ende des 13. Jahrhunderts zerstörte große Backsteinanwesen und seine Mönche. Es hieß, es gäbe einen geheimen Gang vom Kloster bis weit ins Moor hinaus, durch den sich die Mönche seinerzeit vor dem Bischof gerettet hätten.

      Wir Kinder fanden die Ruinenanlage spannend und auch unheimlich. Wir spielten dort Verstecken, Räuber und Gendarm und Gespenster je nach Tages- und Jahreszeit. Wir versuchten, mit Seilen an den alten Mauern emporzuklettern und gruben Löcher. Alles konnten wir recht ungestört tun, denn die Ruine lag am Rande des Dorfes und es kamen nur wenige Leute vorbei. Eines Tages entdeckte einer von uns zwischen zusammengesunkenen Mauerstücken ein Loch. Eine Höhle, vielleicht ein Gang … vielleicht der Gang der Mönche! Wir waren wie elektrisiert und begannen zu buddeln. Nur mit Tonscherben war das nicht sehr erfolgreich. Am nächsten Tag brachten wir Schüppen und Spaten mit, was nicht so ganz einfach war; denn es war die Parole ausgegeben worden, dass nichts zu Hause verraten werden durfte. Uns war wohl allen klar, dass die Herrlichkeit dann schnell ein Ende haben würde. Wir gruben und schaufelten nach der Schule einige Tage lang angestrengt und drangen tatsächlich immer tiefer in einen Hohlraum unter den großen Gesteinsbrocken ein. Man konnte in das

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