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ich, dass sie Piraten sind und sich verteidigen müssen. Jeder Schlag mit dem Schwert, jede Woge, die das Schiff emporhebt, jeder Schritt auf Deck wird mit einem Pfeifton untermalt. Ein wahres Pfeifcrescendo. Da, ein langgezogenes schrilles Pfeifen, der Gegner gleitet getroffen zu Boden. Die Kinder lachen siegesgewiss. Ein „Caramba“ saust durch die Luft. Der Kopf eines neuen Feindes taucht über der Bordwand auf. Ein Pfeiffortissimo setzt ein.

      Plötzlich wird ein Fenster aufgerissen und eine Männerstimme gellt durch den Nachmittag: „Verdammt noch mal, könnt ihr denn nicht endlich mal mit dem elenden Gepfeife aufhören. Das ist ja schrecklich nervtötend.“ Das Pfeifen bricht abrupt ab und wir drei ducken uns schnell hinter die Bordwand.

       Tante Emma

      Eines Abends klingelte das Telefon. Ich hob den Hörer ab und schon schallte mir die Stimme meiner Cousine entgegen. „Tante Emma hat doch bald Geburtstag. Weißt du, was sie sich wünscht? Das rätst du nie!“ Vor meinem Auge sah ich Tante Emma: schlank, ernst, gewissenhaft, verantwortungs- und pflichtbewusst und ich hörte wieder den Spruch, den sie uns als Kinder so oft gesagt hatte: „Erst die Arbeit und dann das Vergnügen.“ Und wie oft hatten wir, wenn wir bei ihr zu Besuch waren, erlebt, dass die Zeit der Pflichtenerfüllung zu lang war, um noch spielen gehen zu können. Ich begann zu raten: „Wünscht sie sich einen Staubsauger?“ Ach nein, ich verwarf den Gedanken. Mir fiel das letzte Telefonat mit ihr ein. „Sie sprach doch von einer Tiefkühltruhe, damit sie ihr Essen für die Woche vorplanen könne. Tante Emma wünscht sich sicher eine Tiefkühl…“ Das Lachen meiner Cousine unterbrach mich. „Ich hab doch gesagt, das errätst du nie!“ Und wieder ergoss sich ihr Gelächter über mich. Ich versuchte es erneut: „Ein neues Haushaltsbuch? Einen Terminkalender oder einen Wochenplaner?“ Das Kopfschütteln meiner Cousine höre ich bis zu mir. „Du wirst es nicht glauben.“ Sie kicherte. „Sie wünscht sich einen Nachmittag mit Spielen.“ Ich glaubte nicht richtig gehört zu haben, Tante Emma und spielen? Das passt doch so gut zusammen wie Nordpol und Palmen. „Das ist nicht wahr! Du machst Witze!“ stieß ich ungläubig hervor. „Nein, wirklich, sie wünscht sich einen Geburtstag zum Spielen. Ich habe es auch nicht geglaubt, als sie mir dies sagte. Und auf meine entgeisterte Nachfrage entgegnete sie nur: „Lasst euch was einfallen!“

      Nachmittags beriefen wir eine Familienkonferenz ein, aber niemand von uns konnte sich vorstellen, was Tante Emma mit „spielen“ meinte. Wir einigten uns darauf, dass jeder ein Spiel für sie kaufen sollte, das wir dann am Geburtstag mit ihr spielen würden.

      Dann war es soweit. Wir überreichten ihr ein Spiel nach dem anderen: Schach, Mühle, Halma, Master Mind, Abalone. Peter gab ihr sogar eine Eintrittskarte zum nächsten großen Fußballspiel. Doch sie freute sich nicht richtig. Sie setzte sich zwar mit uns an den Tisch und begann zu spielen, aber sie war nicht richtig dabei.

      Nach einer Weile drängte sich Nico, mein kleiner Sohn, an sie und sagte: „Tante Emma, es ist so langweilig, komm, wir gehen raus und spielen.“ Er fasste sie bei der Hand und zog sie nach draußen. Wir sahen, wie die beiden die Köpfe zusammensteckten und miteinander flüsterten. Nico verschwand für ein paar Minuten und kam dann wieder. In seinen Händen hielt er Hühnerfedern und zwei Stöcke umklammert. Beide steckten sich die Federn ins Haar und die Stöcke wurden zu Speeren. Sie schauten sich an. Dann duckten sie sich und schlichen in den Wald, wo sie unseren Blicken entschwanden.

      Auch wir schauten uns an. Wir wollten nicht glauben, was wir gesehen hatten. Tante Emma, die ach so Vernünftige, hat sich auf solche Kindereien eingelassen. Wir verstanden die Welt nicht mehr. Kopfschüttelnd setzten wir uns um den Tisch und ließen es uns schmecken.

      Ewigkeiten später flog plötzlich die Türe auf und zwei Indianer umtanzten, wildes Kriegsgeschrei ausstoßend, unseren Tisch. Speere zielten auf uns und wir wurden zur Herausgabe von Kuchen gezwungen.

      Tante Emmas Backen glühten, ihre Augen blitzten und ihr Kriegsgeschrei gellte in unseren Ohren. Sie sprühte vor Lebenslust.

       Eine andere Welt

      Letztens in der Straßenbahn hörte ich zufällig ein Gespräch zweier Jugendlicher mit. Sie tauschten sich voller Begeisterung über die neusten Internetspiele aus. Je mehr sie darüber sprachen, desto weniger verstand ich etwas. Es war eine total fremde Welt, die sich da vor mir auftat. Ausdrücke wie World-of-Warcraft, Second-Life, Lebensenergie, Katakis, Takatis …“

      Ich bat die Jugendlichen, mir zu erklären, wie das mit den Onlinespielen sei. Sie schauten mich entgeistert an und hatten schon eine abweisende Antwort auf den Lippen. Also setzte ich noch einmal nach und erklärte: „Ich würde wirklich gern etwas darüber erfahren. Meine Enkel finden das so cool, aber ich verstehe absolut nichts davon.“

      Vielleicht hat meine Unwissenheit sie gerührt oder mein weißes Haar sie so besänftigt, dass sie begannen, mir die Welt der Online Spiele zu eröffnen. Der Lange mit der Undercut-Frisur holte weit aus: „Zum einen gibt es Browser-basierte Onlinespiele, die entweder auf reinem HTML-Code basieren oder zusätzliche Browser-Plug-Ins, zum Beispiel Flash oder Java, benötigen.“ Der Kurze fiel ihm ins Wort: „Und dann gibt es die Clientbasierten Multiplayer-Onlinespiele. Diese setzen die Installation einer Client-Software voraus. Die Client-Software verbindet sich dann entweder mit anderen Clients oder sie stellt eine Verbindung zu einem Spielserver her.“ Sie schauten mich erwartungsvoll und um Verständnis heischend an. Ich schüttelte den Kopf, um den Wortschwall der mir fremden Begriffe abzuschütteln. „Tut mir leid, ich habe nichts verstanden!“ Sie schauten sich an. Der Lange zuckte mit den Schultern und wandte sich ab. Der Kurze blickte mir ins Gesicht und da er meinen echten Wunsch darin las, die Sache zu verstehen, raffte er sich noch einmal zu einem Erklärungsansatz auf. „Wissen Sie, es gibt z. B. Ego-Shooter Spiele, bei denen man früher zumeist allein gegen Feinde kämpfte und sie möglichst alle vernichten musste. Man hatte die unterschiedlichsten Waffen zur Verfügung: Pistolen, Pumpguns, Raketenwerfer mit unterschiedlicher Munition, Feuerrate und Streuung.“ Ich spürte, wie Erinnerungen an den Krieg in mir aufsteigen, doch der Junge holte tief Luft und fuhr begeistert fort: „Heutzutage gibt es aber den Mehrspieler-Modus, bei dem sich mehrere Spieler über das Internet oder über ein Netzwerk zusammenfinden, um sich in Gruppenkämpfen oder Mannschaftsspielen miteinander zu messen. Manchmal sind weltweit über 3,5 Millionen gleichzeitig angemeldete Spieler im Netz, nicht nur im Ego-Shooter, sondern auch mit Kriegsspielen, Counter-Strikes und MMOGs und in den social network games.“ Ich winkte verzweifelt ab und stoppte die Informationsflut. „Ich glaube, das ist mir doch zu fremd, um es zu verstehen!“ Nach einer kurzen Pause stellte ich fast verschämt die Frage: „Trefft ihr euch denn noch mit Freunden? Fahrt ihr noch Fahrrad? Spielt ihr noch Schach oder Malefiz?“ „Ja, gelegentlich, wenn wir noch Zeit dazu haben“, war seine Antwort. Da fiel es mir wie Schuppen von den Augen: Jede Zeit gebiert die ihr eigenen Spiele.

       Suzanne Augenstein

       Dr. Suzanne Augenstein, 1957 geboren in Sao Paulo. Studium in München und Berlin, Promotion in Essen. Wissenschaftliche Arbeit und wissenschaftliche Veröffentlichungen, Tätigkeiten im Bereich Marketing und PR, Bildung und Ausbildung sowie als Yogalehrerin. Seit 2015 Gesellschafterin und Poolsprecherin im Familienunternehmen.

       Ich wäre dann mal der Majoratsherr

      Jeder spielt eine Rolle in seiner Familie. Meine verändert sich gerade gewaltig. Ich stamme aus einer Unternehmerfamilie. Bei uns spielen die einzelnen Mitglieder festgelegte Rollen nach einem unsichtbaren Drehbuch. Die Rollen erlernt man nicht dadurch, dass man auf sie vorbereitet wird. Man erlernt sie eher durch Aussagen wie: „Das spielt doch keine Rolle!“ oder „Spiel dich nicht so auf!“. Der Spielaufbau an sich ähnelt dem in den mittlerweile bedeutungslos gewordenen und verarmten Adelsfamilien: Es gibt einen Familienbesitz, der über Generationen und möglichst bis

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