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      Er bog als Erster auf die Zielgrade ein und erkannte das gespannte Band an ihrem Ende. Er lief in gleißendes Licht hinein, sah sich gleichzeitig auf der Tribüne stehen und sich zujubeln und hätte schreien mögen vor Glück. Es war ein göttliches Gefühl, ein Augenblick, in dem er eins war mit dem Kosmos, ein Augenblick, der so schön war, dass er ewig dauern konnte.

      «Sieger über 1500 Meter: Martin Kammholz, CSC Berlin!», schrie der Stadionsprecher.

      Die Reichspost hatte Kammholz den Montag freigegeben, so musste er nicht in der Nacht nach Berlin zurückfahren. Unterkunft hatte er in einer kleinen Pension in der Gereonstraße gefunden, deren Eigentümer Josef Wüllenrath, ein Freund der Leichtathletik, über die 1500 Meter immerhin eine Bestzeit von 4 Minuten 15,4 Sekunden zu Buche stehen hatte. Da Kammholz erst den Zug um elf nehmen wollte, konnte er in aller Ruhe frühstücken.

      Auf dem Frühstückstisch lag der Völkische Beobachter. Aufmacher war die feierliche Eröffnung des Deutschen Juristentages in Leipzig. Das verdarb Kammholz fast den Appetit, denn er hatte eine starke Abneigung gegen alle Juristen, und als er las, welche NS-Größen in den vorderen Reihen Platz genommen hatten, wurde dieses Gefühl noch um einiges stärker. Da waren die Reichsminister Heß und Dr. Frank, der Staatssekretär Freisler und Mutschmann, der Gauleiter von Sachsen.

      Die linke Hälfte der Titelseite des Völkischen Beobachters wurde von einer Traueranzeige beherrscht. Julius Schreck war gestorben. Einer der Ersten, Besten und Treuesten ging von uns, hieß es. Schreck war über die «Brigade Erhardt» und den «Stoßtrupp Hitler» zu SA und SS gekommen und hatte zuletzt zum Führer-Begleitkommando gehört.

      Kammholz las im Nachruf:

      Nur ein kleines Erlebnis, das die eiserne Pflichtauffassung unseres toten Kämpfers zeigt: Es war im Jahre 1926 auf Versammlungsfahrt durch Mecklenburg. Schreck saß am Steuer, neben ihm der Führer. In zwei Stunden sollte Adolf Hitler sprechen. Noch waren 160 Kilometer zurückzulegen. Da erkrankte plötzlich Schreck an Vergiftungserscheinungen. Vor Schmerzen war er einer Ohnmacht nahe. Doch er ließ nicht vom Steuer, fuhr durch die Nacht, bis er am Ziel zusammenbrach. Das war Julius Schreck.

      «O Schreck, nu is er weg!» Josef Wüllenrath war lautlos in den Raum gekommen und hinter Kammholz getreten.

      Kammholz war zusammengefahren. «Hab ich einen Schreck bekommen!»

      «Und der Schreck wird ein Staatsbegräbnis bekommen.»

      «Hirnhautentzündung», sagte Kammholz.

      «Dann muss er wohl ein Hirn gehabt haben, sonst hätte sich das nicht entzünden können. Erstaunlich.»

      «Pst», machte Kammholz. «Können wir nicht über etwas anderes reden …»

      «Wie geht es Ihrer Frau?», fragte der Kölner.

      Kammholz lächelte. «Danke, Helga arbeitet jetzt als Direktrice im Modehaus Tauentzien, und es geht ihr gut.»

      «Wann wird es denn Kinder geben?»

      «Nach den Olympischen Spielen …»

      Josef Wüllenrath nickte. «Das kann ich gut verstehen. Deutschland hat ja über 1500 Meter noch nie eine Medaille gewonnen, und wenn Sie da der Erste sind …» Er ging zu seiner Anrichte und holte eine Art Kladde hervor, in der die deutschen Olympiateilnehmer über diese Strecke eingetragen waren. «1896 in Athen war Carl Galle immerhin Vierter … in 4 : 39,0. Da hätte ich ja noch gewonnen!

      1900 in Paris ist Werkmüller Neunter geworden, 1904 in St. Louis war Johannes Runge Fünfter und 1928 in Amsterdam Hans Wichmann Vierter … mit einer tollen Zeit: 3 : 56,8.»

      Kammholz schmierte sich dick Butter auf sein Brötchen.

      «Der Weltrekord von William Bonthron liegt bei 3 : 48,8, und wahrscheinlich muss man in Berlin noch etwas schneller laufen, wenn man die Goldmedaille holen will.»

      «Silber oder Bronze wären ja auch ganz schön, Hauptsache ist doch, dass auf unserer Strecke endlich auch mal ein Deutscher das Siegerpodest erklimmt!», rief der Kölner mit einigem Pathos.

      «Ihnen fehlen noch ganze fünf Sekunden, lieber Kammholz, dann …»

      Weiter kam er nicht, denn ohne dass jemand geklingelt oder an seine Eingangstür geklopft hätte, standen plötzlich drei Männer im Flur. Sie mussten sich mit Hilfe eines Dietrichs oder eines Nachschlüssels Zutritt verschafft haben.

      Ihr Anführer legte den Finger auf den Mund. «Pst! Geheime Staatspolizei.»

      Die drei Gestapo-Leute stürmten zum Zimmer 8, wo sie zwei Männer im Bett vorfanden, die sie kräftig zusammenschlugen, bevor sie sie abführten.

      Josef Wüllenrath saß kreidebleich auf seinem Stuhl und musste sich mit beiden Händen an der Tischkante festhalten, um nicht zur Seite wegzukippen. «Dieser Kanthack wieder», murmelte er.

      Im Mai 1935 war im Geheimen Staatspolizeiamt Berlin, Gestapa genannt, ein eigenes Homosexuellenreferat geschaffen worden (zunächst II 1 H 3), und in dessen Auftrag zog nun der Berliner Kriminalkommissar Gerhard Kanthack, der von der Kripo zur Gestapo versetzt worden war, durch Deutschland und entfesselte vor Ort Kampagnen gegen Homosexuelle. Auf seine Opfer kam er des Öfteren durch anonyme Anzeigen, so auch auf die beiden Männer in der Pension von Josef Wüllenrath. Am 1. September 1935 war die Verschärfung des Paragraphen 175 RStGB in Kraft getreten, und drastische Strafen drohten nun allen, denen jede Art gleichgeschlechtlicher Unzucht nachgewiesen werden konnte, worunter nicht nur beischlafähnliche Handlungen, sondern auch wechselseitige Onanie verstanden wurde.

      «Was wird nun mit den beiden?», fragte Kammholz.

      Der Kölner wusste einiges darüber. «Bei uns in Preußen können Homosexuelle nach dem Gewohnheitsverbrechergesetz Paragraph 20 a erfasst und nach einmaliger Verurteilung in ‹Vorbeugehaft› genommen werden. Wer daraus wieder freigelassen wird, kann polizeilich überwacht werden. Hinzu kommt noch: Man darf sich nicht mehr an bestimmten Örtlichkeiten aufhalten, nachts nicht mehr ausgehen, kein Auto oder Motorrad besitzen und muss einen Hausschlüssel bei der Polizei hinterlegen. Und wenn’s ganz schlimm kommt …» Josef Wüllenrath senkte die Stimme. «Einen meiner Berliner Freunde haben sie schon ins Konzentrationslager gesteckt.»

      MAX BRAUN und seine Frau Lore wohnten in der Jansastraße in Neukölln, und zwar im dritten Stock des Seitenflügels. Er arbeitete als Lagerverwalter bei Pfaff am Maybachufer, sie war Verkäuferin in einem Lebensmittelgeschäft in der Pannierstraße. Kinder hatten sie noch keine, was Max sehr schmerzte, denn er hatte sich vorgenommen, dem Führer viele Kinder zu schenken. Ihr Traum war ein Häuschen draußen im Grünen, wenn in den nächsten Jahren besondere Siedlungen für Parteigenossen entstanden. Nicht zuletzt deswegen war er 1932 in die NSDAP eingetreten. Vorher hatte Max eher mit den Kommunisten sympathisiert.

      Um neun Uhr standen Max und Lore auf, um zu frühstücken. Es war Sonntag. Die beiden waren ziemlich zerschlagen, denn sie hatten gerade zwei Versuche hinter sich, einen Stammhalter zu zeugen.

      «Wat machen wa heute?», fragte Lore, um sich gleich selber die Antwort zu geben. «Wir fahr’n nach Jrünau raus.»

      Als Neuköllner kannten sie keine anderen Ausflugsziele als die Woltersdorfer Schleuse, den Werlsee, das Strandbad Müggelsee, Grünau, den Langen See, die Große Krampe, Schmöckwitz, den Zeuthener See und die Zernsdorfer Lanke. Der Wannsee und die Tegeler Wälder und Gewässer waren für sie fremde Welten, in die man nur fuhr, wenn es unbedingt sein musste.

      Max ließ seine Hosenträger gegen den Brustkorb schnellen.

      «Denkste, Puppe, heute jeht’s mal anne Havel.»

      «Wieso ’n ditte?» Lore konnte es nicht fassen.

      «Weil ick ma die Marathonstrecke langloofen möchte.» Auch ihn hatte das olympische Fieber gepackt.

      Lore lachte höhnisch. «Du und die janzen fuffzich Kilometa!»

      «Nee, nur det Stücke anne Havel unten. Und im Übrigen sind

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