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das nicht, so werden Ungleichheiten verfestigt, das Verfahren wird unfair.

      Unsere Rechtsordnung kennt wie die meisten entwickelten Rechtssysteme das Prinzip der freien richterlichen Beweiswürdigung. Richterinnen und Richter sind demzufolge ganz frei darin, die ihnen präsentierten Beweise zu würdigen. Es gibt keine Beweisregeln, etwa dass Schriftstücke mehr Beweiskraft hätten als Zeugenaussagen. Auch kann das Gericht eine Verurteilung trotz mehrerer Alibizeugen auf einen einzigen Tatzeugen stützen, wenn es diese Alibizeugen für unglaubwürdig hält und dies auch begründen kann.

      Das Abwägen der Aussagen von Parteien und Zeuginnen und Zeugen bzw. der sonstigen Beweismittel (Schriftstücke, Sachverständigengutachten usw.) ist wohl die schwierigste Aufgabe des Gerichts. Bei der schriftlichen Urteilsausfertigung gilt vielen die Beweiswürdigung als anspruchsvollster Teil, schwieriger als die Feststellung des Sachverhalts und als die rechtliche Würdigung der festgestellten Tatsachen. Nicht selten finden wir daher in der Beweiswürdigung bloße Leerformeln („war glaubwürdig“, „aufgrund seines glaubhaften Auftretens“ usw.). Es ist nicht einfach zu beschreiben, aufgrund welcher Eindrücke und Wahrnehmungen man dem einen Menschen mehr glaubt als dem anderen. Crainquebilles Richter macht es sich leicht. Aus dem Ablauf der Gerichtsverhandlung wird deutlich, dass er nicht geneigt ist, die verschiedenen Aussagen wirklich abzuwägen. Er glaubt dem Polizisten aufgrund von dessen Amtsstellung.

      In der Erzählung selbst werden zwei denkbare Begründungen für die Handlungsweise des Richters entwickelt. In einem eigenen Abschnitt („Rechtfertigung für den Vorsitzenden Bourriche“) lässt der Autor zwei Prozessbeobachter, einen Laien und einen Rechtsanwalt, über das Vorgehen des Richters im Fall Crainquebille diskutieren. Der Laie, ein Kupferstecher als Vertreter des einfachen Volkes, nimmt den Standpunkt ein, dass der Richter, unabhängig von jeder Überlegung, wer die Wahrheit gesagt habe, dem Polizisten als Amtsorgan zu folgen habe und dass dies schon seine Richtigkeit habe. Der Beamte sei eine staatliche Autorität, die ganz abstrakt für eine eigene Wahrheit stehe. Wir treffen wieder auf die Analogie zum Religiösen, wenn der Kupferstecher meint, das Gericht stütze sich

       „auf die Aussage des Beamten 64, der reine Vorstellung ist, so etwas wie ein auf den Zeugenstand gefallener Abglanz des Göttlichen. (…) Die Gesellschaft beruht auf der Macht, und die Macht verdient Achtung als die erhabene Grundlage jeder Gesellschaftsordnung. Die Justiz aber verwaltet die Macht.“

      Damit vertritt der Kupferstecher ein zynisches Verständnis von Rechtsprechung – die Justiz als bloßer Büttel der Herrschenden, als Vollzugsorgan der Regierenden. Der Richter dürfe nur folgendermaßen denken:

       „Die Starken entwaffnen und die Schwachen bewaffnen, das hieße die Gesellschaftsordnung ändern, die ich zu erhalten beauftragt bin. Die Justiz ist dazu da, die bestehenden Ungerechtigkeiten zu sanktionieren. Hat man je erlebt, dass sie sich gegen Eroberer gewendet oder neuen Machthabern im Wege gestanden hätte? Wenn eine ungesetzliche Macht entsteht, braucht sie nur von der Justiz anerkannt zu werden, schon ist sie gesetzlich. Die Form ist alles. Nur ein dünnes Blatt gestempelten Papiers trennt Verbrechen und Unschuld.“

      Anders als der Kupferstecher sieht die Sache ein bei Crainquebilles Verhandlung anwesender unbeteiligter Rechtsanwalt. Aber auch seine Einschätzung ist für den Richter nicht vorteilhaft:

       „Ich glaube nicht, dass der Herr Vorsitzende Bourriche sich zu einer so hohen Metaphysik aufgeschwungen hat. Ich glaube, er hat die Aussage des Polizeibeamten 64 ganz einfach deshalb als den Ausdruck der Wahrheit betrachtet, weil er es nie anders erlebt hat. In der Nachahmung müssen wir den Grund für die meisten Handlungen der Menschen erblicken. Wer sich an das Althergebrachte hält, wird immer als ehrlicher Mann dastehen. Anständige Leute nennen wir die, die sich so verhalten wie die anderen.“

      Tatsächlich ist die Bequemlichkeit eine Gefahr für jeden Berufsstand, nicht nur für die Richterschaft. Dennoch finden wir gerade in jüngerer Zeit auch Beispiele, in denen Richterinnen und Richter mit ihren Urteilen aufzeigen, dass bestimmte gesetzliche Regelungen nicht mehr zeitgemäß sind oder gesellschaftlichen Grundwerten widersprechen. Die Gerichte haben unter anderem die Möglichkeit, Gesetze dem Verfassungsgerichtshof zur Prüfung der Verfassungskonformität vorzulegen. Fortschritte bei der Gleichstellung gleichgeschlechtlicher Partner, Anstöße zur Abschaffung des Ehebruchs als Straftatbestand oder zu einer gelasseneren Beurteilung des Cannabiskonsums sind in Österreich immer wieder aus der Rechtsprechung gekommen.

      Aber zurück zu „Crainquebille“: Gerade in diesem Abschnitt der Erzählung, der die Handlungsweise des Gerichts diskutiert, wird die Anknüpfung an die Dreyfus-Affäre deutlich:

       „Nur ein paar Querköpfe wollen, dass sie [die Justiz] menschlich und einfühlsam sei. Man übt sie nach festen Regeln aus und nicht mit mitleidigem Schauer und erleuchteter Intelligenz. Vor allem verlangen sie nicht von ihr, dass sie gerecht sei; das braucht sie nicht zu sein, weil sie die Justiz ist, ja, ich sage ihnen, die Vorstellung von einer gerechten Justiz konnte nur in den Köpfen von Anarchisten bestehen. (…) Der wahre Richter wägt die Aussagen nach dem Gewicht der Waffen. Das haben wir im Fall Crainquebille erlebt, aber auch in anderen, berühmteren Fällen.“

      Crainquebille wird zum Opfer eines Zusammenspiels von Polizei und Justiz. Der Richter macht leichtfertig und wohl wider besseres Wissen die bösartige Unterstellung des Polizeibeamten zur Grundlage seiner Verurteilung von Crainquebille. Auch der heutigen Justiz wirft man immer wieder vor, sie gestehe Amtspersonen, insbesondere Polizeiorganen, vor Gericht mehr Glaubwürdigkeit zu als einfachen Bürgerinnen und Bürgern. Tatsächlich verwenden Urteile in ihrer Beweiswürdigung immer wieder das Argument, es sei nicht anzunehmen, dass ein Amtsorgan – gerade bei nicht so schwerwiegenden Angelegenheiten – durch eine falsche Aussage seinen Amtseid breche oder sein Amt missbrauche. Diese Denkfigur erscheint dort unbedenklich, wo Polizistinnen und Polizisten Zeugen (einer strafbaren Handlung) werden. Sobald sie aber direkt in den Fall verwickelt sind, ist Sensibilität angebracht. Wenn es etwa um behauptete Polizeiübergriffe geht, kann sich eine lebensnahe Würdigung der Beweise nicht einfach auf die Amtsstellung der Beamtinnen und Beamten stützen. Der Antrieb, einer eigenen Verurteilung zu entgehen, ist menschlich und wird alle erdenklichen Verpflichtungen, die sich aus einer Amtsstellung ergeben, wohl aufheben. Das Verhältnis von Justiz und Polizei sollte auch heute ein Thema sein. In Österreich bleiben Polizeiübergriffe allzu oft folgenlos, wie viele Evaluierungen ergeben haben.

      Im Übrigen spielt die Polizei naturgemäß in jedem Strafverfahren eine gewichtige Rolle. In Österreich ist es seit mehr als hundert Jahren Praxis, dass die Polizei die strafgerichtlichen Ermittlungen weitgehend ohne Einwirkungen der Justiz führt und das fertige Ergebnis der Staatsanwaltschaft mitteilt.

      Die Entscheidung, welche Personen als Zeuginnen und Zeugen einvernommen, in welchem Stadium Hausdurchsuchungen oder Beschlagnahmen durchgeführt werden, lag lange weitgehend im Ermessen der Polizeibehörden. Das seit 2008 geltende Strafprozessreformgesetz hat das strafrechtliche Vorverfahren verrechtlicht. Die Staatsanwaltschaft hat nun den Auftrag, die strafrechtlichen Ermittlungen von Beginn an zu steuern. Überdies stehen alle Grundrechtseingriffe unter der Kontrolle des Gerichts. Die BVT-Affäre lässt erahnen, dass die Reform die jahrzehntelang eingeübte Praxis mit der Dominanz der Polizeibehörden dennoch nicht nachhaltig verändert hat.

      Gerichte müssen, bevor sie eine Entscheidung treffen, feststellen, was passiert ist. Diese Tatsachenfeststellung ist an sich eine zweifelhafte Aufgabe; was sind schon Tatsachen? Gibt es nur eine Wahrheit oder gibt es nicht viele Wahrheiten im Hinblick auf ein und dieselbe Angelegenheit? Der Kupferstecher, der Crainquebilles Verhandlung verfolgt hat, verwendet dieses Problem zur Verteidigung des Richters:

       „Sie werden zum Beispiel bemerkt haben, dass er die Aussagen nicht nach den unsicheren und trügerischen Anzeigen der Glaubhaftigkeit und des menschlichen Wahrheitsbegriffs ordnet, sondern nach wesenhaften, unwandelbaren und greifbaren Anzeichen. Er wägt sie nach dem Gewicht der Waffen. Was könnte einfacher und zugleich weiser sein? Als unwiderleglich gilt ihm die Aussage eines Polizeibeamten, den er ganz metaphysisch als den nummernhaften Ausdruck für die Setzungen der idealen ordnenden Macht begreift. (…) In Wahrheit sieht er gar nicht Bastien Matra vor sich, sondern den Polizeibeamten 64. (…)

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