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auch beim Streite seine Zuflucht zum Richter. Zu ihm zu gehen bedeutet zur Gerechtigkeit zu gehen. Denn der Richter soll so etwas wie eine beseelte Gerechtigkeit sein, und man sucht einen maßvollen Richter, und einige nennen sie ‚Mittelsmänner‘ …“ (Aristoteles, Nikomachische Ethik) „Immer war der Richter ein Lump, jetzt soll der Lump ein Richter sein.“ (Brecht, Der kaukasische Kreidekreis)

      Wir stoßen auf das Phänomen, dass der Beruf des Richters bzw. der Richterin bei Umfragen in der breiten Bevölkerung nach wie vor hohes Ansehen genießt. Gleichzeitig gibt es gerade in der deutschsprachigen Literatur eine Tradition harter Kritik an der Justiz und ihrem Umgang mit den vor dem Richtertisch stehenden Menschen. Diese Kritik stützt sich mitunter auf – wie im Falle von Karl Kraus – sehr intensive Prozessbeobachtung. Sie setzt frühzeitig ein, etwa mit dem in Vergessenheit geratenen Franz Xaver Huber im 18. Jahrhundert. Gut hundert Jahre später, knapp nach 1900, treffen wir auf die harsche, satirische Justizkritik von Karl Kraus, die sich allerdings nicht nur gegen die Prozessführung der Richter, sondern gleichermaßen gegen den Gesetzgeber mit dessen „grauenvollen Strafgeboten“ richtet. Das liest sich etwa folgendermaßen:

       „Johann Feigl, Hofrat und Vizepräsident des Wiener Landesgerichts, hat als Vorsitzender einer Schwurgerichtsverhandlung am 10. März 1904 einen dreiundzwanzigjährigen Burschen, der in Not und Trunkenheit eine Frau auf der Ringstraße attackiert und ihr die Handtasche zu entreißen versucht hatte, zu lebenslänglichem schweren Kerker verurteilt.“

      Um nichts weniger hart fällt die Kritik Kurt Tucholskys an der deutschen Justiz aus:

       „Eine der unangenehmsten Peinlichkeiten in deutschen Gerichtssälen ist die Überheblichkeit der Vorsitzenden im Ton den Angeklagten gegenüber. Diese Sechser-Ironie, verübt an Wehrlosen, diese banalen Belehrungen, diese Flut von provozierenden, beleidigenden und höhnischen Trivialitäten ist unerträglich.“

      Nicht selten knüpft die Literatur an die politischen Vorgänge an, an Justizsysteme, die sich von den Machthabern instrumentalisieren lassen. Werke von Leonardo Sciascia, „Der Zusammenhang“, und Anatole France, „Crainquebille“, sind Beispiele dafür. Das Thema „Justiz und Nationalsozialismus“ hat in der deutschsprachigen Literatur unter anderem Thomas Bernhard in seinem Stück „Vor dem Ruhestand“ aufgegriffen. Bernhard nahm für dieses Stück Anleihen beim Fall des deutschen Ministerpräsidenten Hans Filbinger und führte das Thema Justiz, Politik und Nationalsozialismus in den Dramoletten „Der deutsche Mittagstisch“ (1978), „Freispruch“ (1981) und „Eis“ (1981) weiter.

      Der Gerichtssaal, selbst in seiner modernen architektonischen Ausgestaltung, ist ein dramaturgischer Ort. Die Rituale des Strafprozesses mit der Verlesung der Anklage, dem Abfragen der Personalien, der Frage nach dem Schuldbekenntnis und den Plädoyers schaffen eine eigene Welt, in der sich die Eingeweihten sicher bewegen und einfache Bürgerinnen und Bürger sich von Beginn an auf einer schiefen Ebene wähnen.

      Wie immer man dieses Szenario bewertet, eine gewisse Faszination ist mit den Themen Strafprozess, Schuld, Sühne, Wiedergutmachung, Strafe und Ausgleich durchaus gegeben. Das Kino hat mit dem Gerichtsfilm früh ein eigenes Genre geschaffen. Sidney Lumets „Zwölf Geschworenen“ und Billy Wilders „Zeugin der Anklage“ mit Marlene Dietrich sind zwei bekannte Beispiele dafür, beide 1957 entstanden. Heute findet die Beschäftigung mit dem Gerichtssaal, unserer Zeit entsprechend, vor allem im Fernsehen statt. Richterpersönlichkeit und Strafprozess werden mal mit mehr Esprit, etwa in amerikanischen Fernsehserien wie „Ally McBeal“ oder „Boston legal“, mal weniger geistreich, wie in den vor Jahren gehypten Gerichtsshows der deutschen Privatfernsehsender, abgehandelt. Als Verbindung zur Welt des Theaters finden wir in Letzteren regelmäßig den Überraschungszeugen als Deus ex Machina, der das Blatt wendet.

      Freilich, die Rituale und die Sprache des Gerichtssaals sind heute zu hinterfragen. Die Kommunikation des Gerichts ist traditionell von jener des Alltags entfernt, eine Notwendigkeit dafür nicht immer erkennbar. Die Wahrheitsfindung als hochgehaltener Zweck des Gerichtsverfahrens lässt sich in natürlicher Umgebung wohl leichter herstellen als im Rahmen überholter Riten. Diese Erkenntnis setzt sich allmählich durch, jahrhundertealte Gepflogenheiten des Gerichtslebens fallen daher. Mussten früher alle Zeugen und Parteien vor der Richterbank stehen, selbst bei stundenlangen Befragungen, so verfügen sie seit rund zwanzig Jahren über einen Sitzplatz hinter einem kleinen Tischchen. Die Beeidigung wird nach und nach aus den Prozessordnungen gestrichen, die Erhöhung der Richterbänke wird reduziert oder fällt in modernen Gerichtsbauten ganz weg. Die Architektur ebnet den Weg zur gleichberechtigten Kommunikation.

      Anders als beispielsweise in den Vereinigten Staaten, wo das Gericht die Parteien agieren lässt und Distanz die höchste Tugend der Richterinnen und Richter ist, stehen Österreich und Deutschland mit ihren Strafprozessen nach wie vor in der Tradition des Inquisitionsverfahrens, mit einer starken Rolle der Richterinnen und Richter, die die Strafverhandlung über die Maßen zu dominieren scheinen. Dialoge und fruchtbringende Gesprächssituationen sind die Ausnahme. Dieses Festhalten an einem überholten Verfahrenskonzept mag die traditionell heftige Richterschelte in der deutschsprachigen Literatur erklären.

      Die Gegenwartsliteratur scheint den Gerichtssaal etwas aus den Augen verloren zu haben. Das mag man bedauern, denn die literarische Beschreibung und Intervention dokumentiert nicht nur den Justizalltag einer bestimmten Zeit, sie kann auch Fehlentwicklungen aufzeigen und korrigieren helfen. Zolas Beschäftigung mit der Affäre Dreyfus oder Anatole France’ Erzählung „Crainquebille“ sind gute Beispiele dafür. Aus der jüngeren Justizgeschichte böten etwa die Polizei- und Justizverfahren der Operation Spring (1999/2000) ausreichend Stoff, fragwürdige gesellschaftliche und justizielle Entwicklungen zu bearbeiten. Im Jahr 1999 wurden in einem anlaufenden Wahlkampf in Wien mehr als hundert afrikanische Flüchtlinge festgenommen und in der Folge zu exemplarischen Gefängnisstrafen wegen Drogenhandels verurteilt. Die Verfahren wurden vielfach kritisiert, der schwerwiegendste Vorwurf war jener des rassistischen Behördenvorgehens. Noch immer harrt dieser Fragenkomplex einer bereinigenden Aufarbeitung.

      Das spätere Tierschützerverfahren (die Ermittlungen begannen 2007, die letzten Freisprüche wurden 2014 rechtskräftig) und der Wiener Prozess gegen den Demonstranten Josef S. im Jahr 2014 werden wohl in Zukunft in einem Atemzug mit der Operation Spring genannt werden. Die sogenannte BVT-Affäre (2018) um die Hausdurchsuchung in einer Spezialbehörde ist demokratiepolitisch der wahrscheinlich dramatischste Sachverhalt. Alle diese Verfahren sind dadurch gekennzeichnet, dass sie von polizeilicher Seite mit Vehemenz vorangetrieben und im Falle der Operation Spring sowie des Tierschützerverfahrens auch noch im Stadium des Gerichtsverfahrens polizeilich dominiert wurden – unter Ausnutzung aller dramaturgischen Effekte, die der Verhandlungssaal zulässt. Das beginnt bei einem Spalier von Sicherheitsbeamten, durch den sich Besucherinnen und Besucher der Verhandlungen den Weg bahnen mussten, und endet bei Polizeischülern, die einen guten Teil der Zuhörerplätze im Verhandlungssaal füllten, sodass interessierten Bürgerinnen und Bürgern nur wenige Restplätze zur Verfügung standen. Die Verbindung von Gerichtssaal und Bühne wurde noch augenfälliger, als eine Polizeibeamtin hinter einem Vorhang aussagte, sodass nur ihr Schattenbild zu sehen war.

      Während die überhöhte Rolle der Richterinnen und Richter im Gerichtssaal zunehmend in der Kritik steht und auf den Boden heutiger Realität geholt wird, nutzen umgekehrt die anderen Verfahrensbeteiligten den Verhandlungssaal immer mehr als Bühne. Der gesellschaftliche Trend zur permanenten Inszenierung des Banalen, zur täglichen Ausrufung des Spektakels macht vor den Toren der Gerichte nicht halt. Staatsanwältinnen und Staatsanwälte trachten danach, sich als coole, moderne Ermittler im Sinne amerikanischer Fernsehserien in Szene zu setzen. Angeklagte versuchen, ihre Aussichten vor Gericht durch dramaturgische Effekte zu verbessern, und werden dabei von ihren Verteidigern tatkräftig unterstützt. Wir sehen Beschuldigte, die auf der Anklagebank wochenlang ihr krankes Bein hochlagern, Verdächtige, die ungeachtet ihres beträchtlichen Vermögens mit dem kleinsten am Markt befindlichen Wagen zur Vernehmung vorfahren, andere Angeklagte, die, bevor sie sich in der Gefängniszelle das Leben nehmen, ihre nationalsozialistischen Parolen ein letztes Mal im Gerichtssaal herausbrüllen. Auch den Angeklagten schadet letztlich die Überinszenierung. Die Öffentlichkeit liebt das Spektakel, doch übertriebene Selbstdarstellung ruft Missgunst auf

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