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eine die Gesellschaft tragende Figur. Die Verbindung zwischen Recht und Literatur wird dadurch verstärkt, dass viele große Schriftsteller ausgebildete Juristen waren und sind.

      Man denke nur an Goethe, Kleist, Grillparzer, Storm, Kafka oder Tucholsky. Die Tradition des schreibenden Richters wird heute etwa von Janko Ferk oder Bernhard Schlink fortgeführt. Nicht selten steht, wie etwa bei Thomas Bernhard, die Beschäftigung mit der Gerichtsreportage am Beginn einer Schriftstellerkarriere oder wird, wie bei Karl Kraus, zu einer zentralen schriftstellerischen Betätigung.

      Zu dieser Verbindung von Literatur und Recht trägt auch die Nähe jeder Gerichtsverhandlung zum Schauspiel bei. Theater und Gerichtssaal sind weitgehend austauschbare Spielstätten. So wie das Theater ist die Gerichtsverhandlung mit Ritualen und Symbolen aufgeladen. Die eigentümliche Sprache, die Talare der Richterinnen und Richter, die Roben der Verteidigerinnen und Verteidiger, der Staatsanwältinnen und Staatsanwälte, die feierliche Verkündung des Urteils – das alles sind Elemente des öffentlichen Regelungs- und Reinigungsprozesses, wie ihn vor allem die Strafverhandlung darstellt.

      Die Sprache ist das Hauptinstrument der Dichterinnen und Dichter und eines der wichtigsten, wenn nicht das elementare Mittel der Rechtsberufe – eine weitere Verbindung von Recht und Literatur. Wenige Berufe sind so auf die Sprache und auf Ausdrucksfähigkeit angewiesen wie das Richteramt, produziert doch jedes einzelne Rechtsprechungsorgan jährlich hunderte bis tausende Seiten zum Teil doch recht individueller Texte. In Zivilsachen tätige Bezirksrichterinnen und -richter haben in Österreich rund hundert Urteile pro Jahr auszufertigen, die im Schnitt zwischen zehn und fünfzehn Seiten lang sind.

      Die vielfältigen Verflechtungen von Recht und Literatur wurden von der Wissenschaft interessanterweise erst in neuerer Zeit systematisch bearbeitet, und zwar in der sogenannten Law and Literature-Bewegung, die in den 1980er-Jahren in den USA entstanden ist. Diese Bewegung hat heute im amerikanischen rechtswissenschaftlichen Diskurs einen fixen Platz. Law and Literature beschäftigt sich unter anderem mit der Analyse von literarischen Werken, dem Einsatz von Literatur in der juristischen Ausbildung und der Anwendung literaturwissenschaftlicher Methoden sowie der Rolle des Narrativen im Rechtsdiskurs.

      Die Funktion der Richterinnen und Richter, die die Streitigkeiten der Bürgerinnen und Bürger beilegen und den Rechtsfrieden herstellen sollen, finden wir in allen Gesellschaften und Epochen. Aufgaben und Grenzen der richterlichen Tätigkeit werden in Rechtswissenschaft und Philosophie, je nach eigenem weltanschaulichem Standpunkt, mit gewissen Abweichungen beschrieben – so spielt es etwa eine Rolle, ob jemand dem Naturrecht oder dem Rechtspositivismus anhängt. Ungeachtet der verschiedenen Definitionen des Berufsbilds ist die Rolle der Richterinnen und Richter für jede Gesellschaft zentral. Die Entwicklung der Rechtsprechung in Arbeits- und Sozialrechtssachen, in Asyl- und Mietangelegenheiten, die Entscheidung, ob Straftätern Bewährungshilfe gewährt oder eine Therapie bewilligt wird, der Umgang mit den Opfern von Straftaten – all dies sind gesellschaftlich relevante Fragen und Beiträge zur Entwicklung jeder Gemeinschaft. Das Rechtsprechen wird hier zu einer in höchstem Maße politischen, wenn auch im zu wünschenden Regelfall nicht parteipolitischen Aufgabe. Und die Bedeutung der Gerichte wächst, zumal die Politik immer öfter heikle Fragen offenlässt. An die Stelle des unentschlossenen Gesetzgebers treten die (Verfassungs-)Gerichte. Die Vorstellung von Montesquieu, Richter sollten nur willenlose Wesen sein, nicht mehr als der „Mund des Gesetzes“, ist damit heute nicht haltbar.

      Richterinnen und Richter sind aber auch selbst unmittelbare Zeuginnen und Zeugen gesellschaftlicher Entwicklungen: Zum einen schlägt sich etwa eine Verarmung oder zunehmende Verschuldung bestimmter Personengruppen sehr rasch in steigender Kriminalität oder in einer Zunahme der Zahl der Exekutionsverfahren nieder. Zum anderen legen die Personen, die vor Gericht aussagen, in der Regel ihren Alltag und ihr Denken sehr bereitwillig offen. Wenige Berufe gewinnen daher einen so umfassenden Eindruck von den Lebensverhältnissen der Menschen wie Richterinnen und Richter. Ihre Berichte – wie das „Tagebuch“ des Richters Dante Troisi („Diario di un giudice“, 1955) – sind deshalb spannende zeitgeschichtliche Dokumente.

      Vor allem die Fragen nach Gerechtigkeit und Wahrheit sind es wohl, die das Richteramt für die Literatur so spannend machen. Es herrscht Unsicherheit über die Existenz von Wahrheit und Willensfreiheit. Die unterschiedlichen Auffassungen darüber, was wahr und was gerecht denn bedeuten, zeigen: Wer Recht spricht, begibt sich auf gefährliches Terrain.

      Um Ordnung und Rechtssicherheit zu gewährleisten, verleiht der Staat dem Richterspruch Autorität. Urteile, und seien sie auch noch so irrig, werden mit staatlicher Hilfe durchgesetzt. Philosophische Rechtfertigungen für richterliche Entscheidungen bleiben ungewiss. Vielleicht ist es heute zweckmäßiger, mit Begriffen wie Wahrheit und Gerechtigkeit sparsam umzugehen und besser von Spielregeln zu sprechen, die sich in den Gesetzen ausdrücken und allen bekannt sein sollten.

      Eine weitere zentrale Fragestellung der richterlichen Berufsausübung ist die Willensfreiheit des Menschen. Das gesamte Strafrecht, letztlich aber auch das Zivilrecht, baut auf der Grundthese auf, dass sich der Mensch aufgrund seiner Willensfreiheit für oder gegen bestimmte Taten und Handlungsweisen entscheiden kann. Im Strafverfahren wird bestraft, wer Schuld hat. Die zentrale Frage, ob der Mensch in seinen Handlungen determiniert oder nicht determiniert ist, ob man also jemandem die Entscheidung für das Unrecht zum Vorwurf machen kann oder ob jeder in seinen Entscheidungen vorherbestimmt ist, ist in der Philosophie strittig und wird sich wohl nie lösen lassen. Die richterliche Tätigkeit leidet daher in diesem Punkt in gewisser Weise immer an einem Legitimitätsproblem, das nur durch pragmatische Erklärungskrücken gelindert werden kann. Selbst neueste Erkenntnisse der Hirnforschung helfen in der Frage der Willensfreiheit nicht weiter. So meint der langjährige Präsident des Wiener Jugendgerichtshofs, Udo Jesionek, tatsächlich fühle sich der Mensch in seinen Handlungen frei, weshalb die Menschen Strafen für Unrecht auch als gerecht akzeptieren würden. Dieser Ansatz findet Unterstützung in der Tatsache, dass nur ein geringer Prozentsatz von Verurteilungen im Strafverfahren bekämpft wird.

      Bei Richterfiguren in der Literatur denkt man zuerst an Werke wie Kafkas „Prozess“, die Ringparabel in Lessings „Nathan der Weise“ oder an den „Zerbrochnen Krug“ von Kleist. Richter begegnen uns in der Literatur von den griechischen Dramen der Antike und alten religiösen Schriften (der Richter Salomon im Alten Testament oder Pontius Pilatus) bis zur Kriminalliteratur der Gegenwart. Allerdings treten Richterfiguren nur eher selten in literarischen Werken hervor oder tragen gar die Handlung. Häufiger sind es Fragen von Recht und Gerechtigkeit, von – nicht nur bei Dostojewskij – Schuld und Sühne, die im Mittelpunkt stehen, und weniger die Figur eines konkreten Richters. Nur in Ausnahmefällen wie dem „Zerbrochnen Krug“ können wir also einem Richter in der Literatur bei der Arbeit zusehen. Wo das der Fall ist, konzentriert sich das Interesse der Kunst auf den Strafrichter. Nicht anders ist es bei der Prozessberichterstattung in den Medien. Auch hier gilt fast die gesamte Aufmerksamkeit den Strafverhandlungen, die jedoch nur einen vergleichsweise geringen Anteil an allen Rechtsprechungstätigkeiten ausmachen. Aber das Strafrecht ist eben näher an den Grundfragen des Lebens und an den entscheidenden philosophischen Fragen. Dies mag seinen Reiz ausmachen.

      Manche Probleme, wie die Ausübung besonderer Formen der Gerichtsbarkeit, etwa der sogenannten Besatzungs- oder Siegerjustiz, die sich im letzten Jahrhundert zu einer internationalen Gerichtsbarkeit entwickelt hat, ziehen sich durch die Epochen, von der Beschreibung der Gerichtsverhandlung des Pontius Pilatus im Neuen Testament bis zu Peter Handkes „Rund um das Große Tribunal“.

      Nach Richterinnen suchen wir in der Literatur vergeblich. Zwar beträgt der Frauenanteil in der österreichischen Richterschaft heute mehr als fünfzig Prozent. Aber historisch waren Frauen die längste Zeit nicht nur vom Richteramt, sondern von den rechtswissenschaftlichen Studien überhaupt ausgeschlossen. Es ist heute schwer vorstellbar, dass erst im Jahr 1887 mit Emily Kempin-Spyri die erste Juristin in Europa, an der Universität Zürich, promovierte. Es dauerte bis in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts, dass Frauen in Österreich in die Rechtsprechung gelangten. Erst 2007 erhielt Österreichs Oberster Gerichtshof zum ersten Mal eine Präsidentin.

      Welches Bild der Richter finden wir in der Literatur gezeichnet? Die positiven und negativen Darstellungen halten sich, und zwar in allen literaturgeschichtlichen

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