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Entscheidungen trifft, hat sich inzwischen bei der BIG-Geschäftsführung eine „Jahresrate“, also ein Limit, ausbedungen, das er alljährlich verbauen darf. Allein für „Bergkristall“ beträgt der Sicherungsaufwand bis zum Oktober 2006 etwa acht Millionen Euro; die Gesamtkosten bis heute (2013) für alle 290 Stollen belaufen sich auf über 35 Millionen Euro und werden weiter in die Höhe klettern: Das unterirdische Erbe der NS-Zeit fordert von uns Nachgeborenen seinen Tribut …

      Im Sommer 2002 erhält das BIG-Underground-Team weitere Unterstützung: Bei einer Baustellenbesichtigung in Innsbruck lernt Karl Lehner einen jungen Ingenieur kennen: Martin Scheiber ist Leiter der örtlichen Bauaufsicht (ÖBA) der Firma ILF Planende Ingenieure Innsbruck, die von der BIG und der IMB-Landesdirektion Tirol mit den Sicherungsarbeiten an den „fünf gefährlichsten“ Innsbrucker Luftschutzstollen T002 (Höttinger Au – Schererschlössl), T005 (Höttinger Au – Schottergrube), T009 (Lohbachsiedlung), T016 (Innstraße) und T022 (Igls – Föhnegg) beauftragt worden ist. Die ILF ist aus einem Ideenwettbewerb als Sieger hervorgegangen, das von ihr vorgelegte Konzept zur Sicherung der Stollen wird ab Herbst 2001 konsequent umgesetzt, die vier vorgesehenen Arbeitsschritte: Erkunden der Stollen durch Bohrungen von Obertage und mit Hilfe einer Bohrlochkamera – Abmauerung der von außen zugänglichen Stollenabschnitte an den Verbruchstellen – Verfüllen der nicht standsicheren Stollenabschnitte – Verpressen der Resthohlräume unterhalb von Wohngebäuden, Zufahrten und Verkehrsflächen.

      Martin Scheiber über die Begegnung mit dem Hochbauer Karl Lehner heute: „Ich wusste nicht, wer er war – er stand vor einem Container und hatte einen Doppelpacker in der Hand, wie er im Bohrloch zur Verpressung von Injektionsmaterial verwendet wird, und rang nach einer Erklärung, was denn das sein solle. Ich versuchte ihm dies zu erklären, was jedoch kläglich scheiterte. Es galt die Brücke Hochbauer zu Tiefbauer/​Tunnelbauer zu überwinden, was erst durch einen daneben stehenden Arbeiter gelang – dieser erklärte bildlich, wie denn das, Teil‘ wirklich funktioniert. Von da an war der Bann gebrochen und Karl entwickelte sich zu einem gebrauchsfähigen Tiefbauer am zweiten Bildungsweg.“

      „Mr. Underground“: Karl Lehner, der Leiter des BIG-Stollenteams.

      Trotz dieser anfänglichen sprachlichen Missverständnisse – Karl Lehner interpretiert das tirolerisch intonierte „Packer“ als „Bagger“ – passt die Chemie zwischen Hochbauer und Tiefbauer auf Anhieb. Karl Lehner war von der Kompetenz und dem Organisationstalent des Tiroler Kollegen schwer beeindruck. Nachdem Martin Scheiber sich 2002 mit seiner Firma S Consult Management GmbH selbständig gemacht hat, wird er zum verlässlichen Partner der BIG: Von nun an steuert er als Projektmanager die Sicherungsarbeiten an den Stollen – von der Ausschreibung und der Vertretung vor den zuständigen Behörden über die Bauaufsicht bis zur Rechnungsverwaltung. Ihm obliegen nicht zuletzt die vorgeschriebenen Sicherheitsbefahrungen und die Dokumentation derselben, Aufgaben, die ihn heute, nach der Pensionierung Karl Lehners, wohl zu einem der besten Kenner der österreichischen Stollenwelt machen. Sein neuer Aufgabenbereich führt ihn bald auch in den Osten Österreichs, wo in den Tälern von Schwechat, Triesting, Piesting und Schwarza zahlreiche Stollen angelegt worden sind; Ziel der NS-Rüstungsmanager war es dabei, die Fertigung von wichtigen Rüstungsgütern wie z. B. Flugzeugkomponenten in „bombensichere“ unterirdische Bereiche zu verlegen.

      So findet sich auf der Liste unter der Ordnungsnummer NÖ090 eine Stollenanlage in Rohrbach am Steinfeld mit den ergänzenden Hinweisen „Peterwald, bei Spinnerei Rohrbach“ und „Eingänge gesprengt“, auch die Adresse ist wenig aussagekräftig: „B17 – Feldweg“. Die Zugänge zu dem im „Rohrbacher Konglomerat“ aufgefahrenen Stollensystem werden schließlich von den Sachverständigen der BIG lokalisiert – sie liegen im Naturschutzgebiet am Petersberg über dem Peterwald, zwischen Neunkirchen und Ternitz. Von drei Mundlöchern A, B und C in etwa 380 m Seehöhe aus führten parallele Stollen in westsüdwestliche Richtung; diese drei Stollenröhren waren durch sieben normal dazu verlaufende Stollenachsen verbunden; ein viertes Mundloch bildete einen „rampenartigen“ seitlichen Zugang – eine aufwändig mit Betonformsteingewölbe ausgeführte Stollenanlage, die sicherlich nicht nur Luftschutzzwecken diente. Dazu passt die Beobachtung, dass offenbar mit „Demolierungssprengungen“ an den Kreuzungspunkten versucht worden ist, die gesamte Anlage zu zerstören. Noch gut erkennbare Bombentrichter im Gelände lassen weiters darauf schließen, dass das Stollensystem Ziel eines Luftangriffs war. Was bewog die alliierten Bomberpiloten, hier auf dem Petersberg ihre todbringende Fracht abzuwerfen?

      Die Frage nach dem Warum bewegt das BIG-Underground-Team jedoch noch kaum, jetzt geht es darum, der unmittelbaren Gefahr Herr zu werden, und die ist nicht zu unterschätzen: Bei ihrer Befahrung der zum Teil verbrochenen Stollen kommen sie plötzlich auf rostigem Metall zu stehen – eine Entdeckung, die alsbald ein mulmiges Gefühl bewirkt: Die im Verbruchsmaterial auftauchenden Metallkörper entpuppen sich als 250-kg-Fliegerbomben, die alle Sprengversuche „überlebt“ haben und nun vorsichtig vom Entminungsdienst entschärft und geborgen werden müssen. Insgesamt sieben Bomben werden von den Experten behutsam freigepinselt und aus den Stollen gezogen, alles läuft ohne Zwischenfall ab.

      Leopold Weber kommt in seinem Gutachten zu einer Einstufung in „Priorität 2“ und empfiehlt als „Sofortmaßnahme“, die „befahrbaren Bereiche auf Explosiva zu sondieren“; nach der Entfernung der Bomben seien die ersten ca. 5 m der Tagzugänge mit einer Betonplombe, die „in das anstehende Konglomerat kraftschlüssig einzubauen ist“, zu verschließen; der Zutritt müsse für „Unbefugte und Abenteurer dauerhaft wirksam“ unterbunden werden. „Knapp bergseits der Streckenkreuze A1, B1 und C1“ seien „statisch bemessene (Kies-)dämme zu errichten und der tagnahe Bereich der Hohlräume von obertage aus über Bohrungen zu verfüllen“. Erst nach Durchführung aller Sicherungsmaßnahmen könne eine „Rückreihung auf Priorität 4“ erfolgen. Inzwischen ist auch die lokale Presse auf die Tätigkeit der BIG am Petersberg aufmerksam geworden; Reporter Thomas Santrucek spricht vor Ort mit Karl Lehner; dann schockt er die Leser des Schwarzataler Bezirksboten vom 25. Juli 2002 mit der Schlagzeile: Nach Bombenalarm zittert eine Stadt! und zitiert prompt einen Zeitzeugen, der zu berichten weiß, dass zwei Bomben von den Russen in den „Bunker“ gebracht worden seien, er habe dies selbst beobachtet; Mitte der 1950er-Jahre habe er Baumaterial aus der Stollenanlage geschafft und sei dabei wiederum auf die Bomben gestoßen. Inzwischen ist auch ein Plan des Systems aus dem Jahre 1947 im Maßstab 1 : 200 bzw. 1 : 500 aufgetaucht und man weiß nun endlich, was es mit ihm tatsächlich auf sich hatte: „Allg. Teilebau f. Vormontage“ liest man in einer streng geheimen Aufstellung zur Untertage-Verlagerung der Wiener Neustädter Flugzeugwerke vom 15. November 1944; der Tarnname des Projekts im „Rohrbach Stollen“ sei „Cyanid“, der Deckname selbst lautet „Hans Bauer & Karl Schranz Schrauben & Nietenfabrik“, Betriebsführer – zumindest auf dem Papier – ein Ing. Bauer. Die Produktionsfläche im Stollen wird mit 3.100 m2 vermerkt, die Zahl der Belegschaft mit 1.653 angegeben, der Sollstand mit 1.400 Arbeitern. Davon arbeiten allerdings nur 53 direkt im Stollen; eingesetzt werden auch Zwangsarbeiterinnen, vor allem Russinnen, aus dem Frauenlager in Rohrbach, das sich in der Nähe des Rohrbacher Steinbruchs befindet und in seinen Anfängen bis auf den Sommer 1941 zurückgeht.

      Fliegerbomben warten beim Entminungsdienst auf ihre Entsorgung.

      Der „Schwarzataler Bezirksbote“ schockt seine Leser mit einer Aufsehen erregenden Schlagzeile.

      Der Standort, zu dem auch die Gebäude der Rohrbacher Spinnerei mit einer mechanischen Werkstätte für die Rumpfvormontage zählen, ist neben Betrieben in Waldegg, Launsdorf, Breitenau, Kottingbrunn, Obergrafendorf, Rabenstein, Zwölfaxing und Wien Teil des „Fertigungsringes Nieder-Donau“; die „Teile“, die hier gefertigt werden, gehören zur Messerschmitt

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