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Ruf Gerfriedes, die ebenfalls erst jetzt die Zwölfjährige entdeckt. Diese jedoch winkt hell lachend herunter und trällert:

      „Keine Angst, ich stehe sicher und mein Blick reicht weit. Welche Gefahr auch immer ich sehe, bis sie uns erreicht, habt ihr noch Zeit.“ Dem Vater bleibt ob des losen Mundwerkes seiner Tochter die Luft weg. Oh, wie gerne würde er ihr jetzt das Fell gerben! Indes singt Mathilde weiter:

      „Ganz dort hinten tut es mir der Bernhard gleich und zusammen sehen wir das gesamte Sorbenreich.“ Es ist die Mimik der besorgten Eltern, die den Frechdachs eilig vom Baum klettern lässt.

      Obwohl Gerfriede dem Mädchen eine schallende Ohrfeige versetzt, bringt sie es doch rasch aus der Reichweite ihres Mannes, dessen todbleiches Gesicht mit zusammengezogenen Brauen ahnen lassen, welch gewaltiger Ausbruch sich in ihm aufstaut.

      „Diese Wänster!“, flüstert einer der Männer. Georg schüttelt seine rote Mähne und wendet sich Hildebrand zu:

      „Reg dich nicht so auf! Wir waren als Kinder nicht anders. Wisse, die beiden habe ich dort hochgeschickt. Denkst du etwa, dass ein Erwachsener dort hinaufklettern könnte? Bessere Beobachtungsposten findest du aber nirgends. Heribert und Matthias wachen auch, oder siehst du sie hier?“ Hildebrand schluckt schwer.

      „Du hast die Kinder hinaufgeschickt? Sollen sie sich die Knochen brechen?“ Georg, der rabiate Mittel bevorzugt und keine Zimperlichkeit kennt, zuckt nur die Schultern. „Was meinst du wohl, wo die beiden bei einer Rast zu finden sind? Gören sind wie Katzen, sie fallen nur, wenn sie es auch wollen.“

      Das allgemeine Nicken in der weiten Runde lässt bei Hildebrands Wut abklingen und er ruft:

      „Komm schon her, Hilde. Der Sturm ist vorbei!“ Zaghaft löst sich das Mädchen aus dem Schutz des mütterlichen Rückens und reibt sich die von der Schelle gerötete Wange. Tapfer versagt es den Tränen in den Augenwinkeln den Weg über die schmutzigen Wangen. Nur ein kleines Zittern in der Stimme verrät seinen Gemütszustand.

      „Wir haben gut Obacht gegeben! Die Fremden sind auf der anderen Seite des Baches, an der Biegung, den Hang hinaufgegangen. Sie machen Kerben in die Bäume. Das sollen gewiss Zeichen für uns sein.“ Als Mathilde bei ihrem Vater ankommt, streicht dieser über ihren zerzausten Schopf.

      „Du bist schon ein rechtes Eichhörnchen, Hilde. Laufe mit Bernhard voran, aber behaltet die Kolonne im Blickfeld“, und zu den Fuhrleuten gewandt, „auf geht’s, sie zeigen uns den Weg!“

      Die Sonne berührt knapp die Baumwipfel im Westen, als die Wagen endlich den langgestreckten Hang hinunterrollen. Die Sorben haben einen recht mühelosen Weg durch den unendlichen Wald markiert, ohne noch einmal in die Nähe der Kolonne zu kommen.

      Nun lichtet sich der Wald und vollkommen überraschend breitet sich eine weite Auenlandschaft vor den Fuhrleuten aus. Im Norden ist sie vom schwarzen Wald auf der nächsten Höhe begrenzt, in den Westen windet sich ein Weg auf sumpfigem Grund mit Buschwerk von den Bergen her.

      Die Augen der Entwurzelten weiden sich an dem Ausblick und lebhaft wallen Vorstellungen, wie berückend die Landschaft im Sommer sein mag, wenn ein Blütenteppich die blassen Wiesen bedeckt. Im Tal weisen dicht stehende Weiden auf einen Wasserlauf hin, den sie mit hängenden Ruten gleich einem Schleier zu verbergen suchen. Ein nebeliger Streifen zwischen den geneigten Stämmen verstärkt den Eindruck noch. Weit vorn, am gegenüberliegenden Hang, grasen Rehe in der Sonne und vermitteln ein Bild tiefsten Friedens, das von dem Bussard, der hoch oben majestätisch kreist und nur hin und wieder durch einen Flügelschlag die Flugbahn korrigiert, unterstrichen wird.

      „Hier sollten wir siedeln und ein neues Leben aufbauen“, seufzt Gerfriede träumerisch. Mathilde nickt versonnen.

      „Oh ja, hier hätten wir alle Platz. Warum bleiben wir nicht, Vater?“ Mit spitzem Finger stößt sie ihn in die Hüfte und Hildebrand zuckt überrascht zur Seite.

      „Weil es hier gewiss nicht immer so friedlich ist, mein Mädchen. Wie sollen wir denn hier die Ungarn abwehren. Da müssten wir doch den Waldrand stets und ständig in alle Richtungen bewachen. Wer soll denn dann noch Häuser bauen und die Felder bestellen? Nein, wir ziehen weiter zu den Unsrigen.“ Die Kleine seufzt:

      „Hoffentlich sind wir bald da!“ Auf einmal zeigt sie aufgeregt nach rechts: „Sieh doch, Vater, dort oben auf dem Bergen!“ Erstaunt blickt er auf, auf einer bewaldeten Höhe stehen Hütten, die von Palisaden umzogen ist. Trutzig wirkt der Block und stolz. Die am Hang wachsenden Bäume scheinen die Festung zu tragen. Umso mehr verwirrt es Hildebrand, dass die Wegmarkierung keinesfalls dorthin führt, sondern fast die nördliche Ausrichtung beibehält.

      „Haalt!“, gellt sein langgezogener Ruf über die Fuhrwerke und bringt die Gespanne zum Stehen. „Ihr bleibt am Wagen, es wird nicht abgestiegen!“, weist er Frau und Tochter an, bevor er zu Reinhold an den ersten Wagen stapft. Rudolf, der trotz seiner Bandagen vorsichtig vom Bock geklettert ist, will sich ihm anschließen, doch gibt er sein Vorhaben schnell auf, da er mit dem Älteren nicht Schritt halten kann.

      Reinhold schaut dem Treckführer entgegen und als der in Rufweite ist, weist er auf die Festung:

      „Lässt du deswegen halten?“ Der Ältere nickt.

      „Es ist doch merkwürdig, dass uns die Sorben daran vorbeiführen!“

      „Die Festung scheint verlassen zu sein. Wenn dort unsere Leute wären, hätten sie uns gewiss jemanden herübergeschickt.“ Reinhold kneift die Augen zusammen und sucht die Gegend nach einem Reiter ab.

      „Es ist mir zu ruhig.“

      „Kann das nicht eine Festung der Sorben sein?“

      „Die Sorben bauen anders“, wehrt Reinhold ab, „die Burg ist ganz sicher von unseren Leuten errichtet.“

      „Das muss aber lange her sein“, ertönt Ludwigs Jungmännerstimme von hinten, „rechts sind die Dächer eingestürzt und es sieht alles recht verfallen aus.“ Ludwigs Augen scheinen um einiges schärfer als die der beiden anderen.

      „Wenn die Burg besetzt wäre, käme uns längst ein Bote entgegen. Aber es scheint alles totenstill“, bekräftigt Reinhold die Worte seines Sohnes.

      „Trotzdem scheint es mir bedenklich, dass uns noch immer keiner der Unseren entgegenkommt, wo doch die Sorben einen Boten geschickt haben wollen. Vielleicht ist die Burg dort oben doch unser Ziel und die Sorben, oder wer auch immer, haben unsere Krieger verjagt.“

      „Das können wir leicht in Erfahrung bringen“, meint Hildebrand entschlossen, „wir schicken einen Kundschafter hin, oder besser zwei. Laufe zu Theo, Ludwig, er soll mit Heinrich zu mir kommen.“ Der Junge springt mit einem Satz auf den Boden und macht sich eilig auf den Weg.

      Gunhild ist derweil aus dem Wageninneren gekommen und auf den Bock geklettert. Sie schaut nun auch auf die Bauten. Das dralle Weib streicht ihre strohblonden Locken aus dem Gesicht und zieht die Stirn kraus. Eine Schönheit ist sie gerade nicht, aber ihre Züge verraten Tatkraft und Gewitztheit.

      „Frag doch mal Mutter Hildburga, ob das eines jener Kastelle ist, die in alten Zeiten von unserem Volk im Osten errichtet wurden“, mischt sie sich in das Geplänkel. „Wir haben solche Bauten schon gesehen, als wir als Händler zur Elbe zogen. Stimmt es, Reinhold?“ Ihr Mann pflichtete ihr nickend bei.

      „Ja, wo du es sagst, kannst schon recht haben. An der Saale und der Pleiße waren diese Festungen ganz aus Holz – na ja, was davon noch übrig war. Sie müssen mehr als hundert Jahre überstanden haben.“ Hildebrand kratzt sich den Schädel.

      „Das muss ein gutes Holz gewesen sein, wenn es hundert Jahre überstanden hat.“

      „Ach was, wenn die Häuser bewohnt und bewirtschaftet werden, halten sie länger als hundert Jahre“, hält Gunhild entgegen. „Ihr habt doch auch nicht für jeden Sprössling ein neues Haus gebaut! Nur was verlassen ist, ist dem Verfall preisgegeben.“

      „Also gut“, erwidert der Kolonnenführer, „fragen wir die Alte. Ich möchte nur wissen, woher sie über jene Feste dort befinden soll? Sie ist doch ihr

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