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dringt unverständliches Gemurmel an seine Ohren, welches die Nervenstränge mühevoll in das Gehirn leiten, wo es hundertfach von pulsierendem Schmerz bedrängt und ganz schwach als Wahrnehmung registriert wird. Gleich einer Gebirgsquelle sprudeln die Eindrücke allmählich immer zügiger und finden endlich ihren Ausdruck im Erkennen.

      „Mein Gott, das hätte schlimm ausgehen können!“

      „Es ist schlimm ausgegangen! Sieh doch mal die linke Seite an, er blutet wie ein gerissenes Schaf.“

      „Hoffentlich ist im Inneren noch alles an seinem Platz.“

      „Gebe es Gott, dass es ihm nicht geht wie …“

      „Lass mal gut sein, Wiprecht“, wirft Frieda ein, „niemand weiß, ob er später lahmen wird, auch wenn er allemal – genau wie sein Vater und seine Brüder – keine Rücksicht gegen sich selbst kennt!“

      „Über diese Härte ist eure Mutter fast zerbrochen!“ Wiprecht ist nicht bereit, so schnell Frieden zu geben.

      „Also los, du Eisenmann, steh auf!“

      Als Rudolf, dem Schmerz ausweichend, sich nach rechts abstützt, um auf die Beine zu kommen, gebietet Hildburga mit einem energischen Handzeichen zu verharren.

      „Nicht so schnell, erst sehe ich mir die linke Seite an. Wenn Schmutz in die Wunde dringt, kann du dir den Wundbrand holen oder eine Blutvergiftung.“ Ohne auf seine Abwehr zu achten, hilft ihm die Alte, den Kittel abzustreifen. Hautabschürfungen ziehen sich von der Achsel bis zur Taille, wo sie in eine klaffende Wunde übergehen. Die Blutung hat inzwischen nachgelassen.

      „Na ja, direkt lecker sieht es ja nicht aus“, meint Wiprecht, „aber richtig ausgewaschen und mit ein paar Kräutlein darauf, sollte es schnell heilen.“

      Sogleich hat Frieda ein Läppchen hervorgekramt und eilt hinüber zum Bach, es zu nässen. Währenddessen sucht Wiprecht in seinem Beutel, der mit den verschiedensten Kräutern gefüllt ist. Im Verlaufe der Fahrt und insbesondere bei den Aufenthalten hat er sie am Wegrand und an den Rastplätzen gesammelt, so wie er es seit eh und je hält.

      Nachdem Frieda die Wunde gründlich gesäubert hat, legt Wiprecht die Blätter und Kräuter auf, die ihm geeignet und hilfreich erscheinen. Hildburga reißt Stoffbahnen und legt endlich dem Verletzten einen Wickel an.

      Nachdem Rudolf seinen Kittel übergestreift hat, erhebt er sich ächzend. Während Wiprecht seine Sachen zusammenpackt, fragt er die alte Helferin mit hochgezogenen Brauen:

      „Warum hast du das nicht allein erledigt, Mutter Hildburga? Du kennst dich doch nicht schlechter aus als ich. Deine Mutter war schon eine geschickte Heilerin, so wie auch deren Mutter und ebenso könntest du es nicht minder sein. Warum willst du keine Heilerin sein?“

      Traurig schüttelt die Alte den Kopf. „Es ist heute besser, nicht zu viel preiszugeben. Auch du hast es wohl bemerkt, dass mich der Pater zu Hause nicht litt. Als Ungläubige und Götzendienerin hat er mich beschimpft und die Leute gegen mich aufgehetzt. So wird es mir und allen Heilerinnen immer gehen, ja, es wird noch schlimmer werden. Die Kirche hat Angst vor unseren alten Göttern und vor unserem alten Wissen. Deshalb nehme ich die Qual dieser Reise auf mich. Habe ich jemals etwas Böses getan? Trotzdem werde ich angefeindet, wenn ich vor Unheil warne, wird mir gar die Schuld daran zugeschoben.“

      „Wird es dort besser sein, wo wir hinwollen?“ Wiprecht schüttelt den Kopf. „Mönche und Priester verkünden überall den rechten Glauben – sagen sie.“

      Hildburga nickt lächelnd. „Das mag schon stimmen, aber wir ziehen in die Wildnis und dort hat die Kirche noch nicht recht Fuß gefasst. Die Gegend heißt Fegunna – Waldgebirge. Hier lebten in Vorzeiten schon einmal unsere Ahnen, doch weiter im Norden, am Rande des endlosen Waldes. Sie nannten ihn Eichenwald, die Römer übersetzten den Namen in ihre Sprache als Arkynia. Keiner traute sich tief hinein und schon gar keiner hindurch. Unsere Ahnen nannten sich damals Hermunduren. Deren Mutigste waren immerhin soweit nach Süden vorgedrungen, dass sie auf die schroffen Berge stießen, deren Unterholz dichten Hecken glich. Es war eine besonders reiche Jagdgegend. Und sie kannten schon die Höhlenberge, die nun unser Ziel sind.“

      Wiprecht krault sich nachdenklich den Bart: „Woher willst du das wissen, Alte? Du denkst dir doch nur Geschichten aus.“

      Stolz wirft Hildburga den Kopf nach hinten, drückt den gekrümmten Rücken etwas durch. „Im Gegensatz zu denen, die nur über andere tratschen, wurden bei uns abends Geschichten über unsere Vorfahren und unser einst so mächtiges Volk erzählt. So haben wir unser Wissen bewahrt. Da ich aber nun die Letzte in der langen Reihe meiner Familie bin, wird all das Wissen mit mir untergehen. Nur ein paar Brocken bleiben bei dir und den anderen, bis auch diese verbleichen. Aber eines erhoffe ich mir: keine garstigen Anfeindungen mehr von Priestern des neuen Glaubens.“ Damit dreht sich die Alte um und stapft davon.

      Wiprecht hebt die Schultern und wendet sich an seine Frau: „Wo soll das nur hinführen? Da hat jemand so viel Wissen in seinem Kopf und will es doch nur um seiner eigenen Sicherheit willen verbergen.“ Frieda legt ihm die Hand auf den Arm. „Ach, Wiprecht, sorge dich nicht. Mutter Hildburga wird ihren Frieden finden. Vielleicht sollten wir uns mehr um sie kümmern und vor allem ihr reiches Wissen zu erringen suchen.“

      „Da magst du wohl recht haben“, Wiprecht legt seine Hand fest auf die ihre, „mit jedem Stück Wissen, das verloren geht, wird die Menschheit ein Stück zurückgeworfen. Wenn wir altes Wissen mit neuen Erfahrungen vereinen, kommen wir mit Riesenschritten voran.“

      Rudolf hat inzwischen den Wagen umrundet. Der Anblick seines Gefährtes stimmt ihn nicht froh. Beide Vorderräder sind zerbrochen und die Naben sitzen auf dem Boden auf. Speichen säumen die Fahrspur, als hätte jemand Runen geworfen. Vor den Hinterrädern erhebt sich eine rundgewaschene Steinschwelle, als wolle sie jegliche Passage verhindern. Das Ladegut hat sich verschoben und drückt gegen den derben Stoff der Plane. Es mutet wie ein Wunder an, dass die Spriegel gehalten haben. Die Ochsen ruhen stoisch an der Deichsel und knappern an den letzten Blättern eines Astes, der ihnen direkt vor dem Maul hängt. Hinter dem Wagen spannt sich eine Kette straff vom Wagenboden in das hohe Gras, wo sie am längs liegenden Bremsbalken endet. Die zweite Kette, die den Balken quer zur Fahrtrichtung hielt, baumelt zerrissen herab.

      „Nun weißt du, wie es zu dem Unfall gekommen ist.“ Die kräftige Stimme von hinten reißt Rudolf aus seinen Betrachtungen. „Auf halber Höhe hat sich der Bremsbalken an einem Baumstamm verfangen. Darum ist die Kette gerissen und der Wagen hat die Rindviecher ungebremst ins Tal geschoben. Nur gut, dass sie sich nicht die Knochen gebrochen haben. Schlimm nur, dass die Räder hinüber sind.“ Reinhold, der aufgrund seiner Erfahrungen als Fuhrmann eine wichtige Stütze für Hildebrand ist, pendelt seit Jahren als Händler zwischen Rhein und Sorbenmark. Für Hildebrand, den Kolonnenführer, war es ein Glücksfall, dass Reinhold mit dem Handel kein hinreichendes Auskommen mehr fand und bereit war, sich mit seiner Familie dem Treck anzuschließen. Nicht nur sein Geschick als Fuhrmann, auch seine Stärke und die Gewissheit, dass er die Sprache der Sorben versteht, machen ihn für die Kolonne unersetzlich. „Gottlob konnten wir die nachkommenden Gespanne im Bogen herunter führen. Es hätte leicht Schlimmeres passieren können. Aber komm jetzt, Hildebrand hat die Wagenführer zusammengenommen. Wir müssen beraten.“

      Die schweren Planwagen bilden auf der langgezogenen Lichtung entlang des Bachlaufes einen weiten Kreis, in dessen Zentrum Schieferplatten das Gras unterbrechen. Die weiße Herbstsonne senkt sich bereits hinter die Wipfel der alten Eichen, deren kahle Äste bizarre Muster auf die Lichtung malen. Die kraftlosen Sonnenstrahlen erwärmen kaum noch den Boden, doch die fröstelnd hochgezogenen Schultern einiger Männer lässt auch ihre Gemütslage ahnen. Um vieles lieber würden sie jetzt um das Herdfeuer ihrer Hütte sitzen als hier im Freien zu hocken. Bald schon wird der Frost den Boden aushärten und an ein festes Dach über den Kopf ist noch lange nicht zu denken. Eigentlich ist es die denkbar ungünstigste Zeit für eine Umsiedlung in ein unbekanntes, unerschlossenes Land. Sie hätten warten sollen, bis die schlimmsten Fröste vorüber sind, und den Neubeginn im Frühjahr wagen sollen. Aber die Reise ins Ungewisse entsprang nicht allein ihrem Willen. Wie der Dorfschulze in der alten Heimat

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