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des Winters.

      Und langsam, als gäbe es einen inneren Zusammenhang zwischen Schnee und Seele, fielen mit den kalten Flocken die Dinge der täglichen Routine von ihm ab. Es kam ihm vor, als rutschten sie von seinen Schultern und plumpsten in den Schnee: der Zeitdruck, der immer noch auf ihm gelastet hatte, obwohl das Abendessen längst vorbei war, das unangenehme Telefongespräch, das ihn nicht losließ, die Aufgaben, die er heute nicht geschafft hatte, und der unerfüllte Wunsch nach einem Leben ohne Uhren.

      Fast sah er die Alltagslasten vor sich, wie sie im Schnee versanken und von den wirbelnden Flocken zugedeckt wurden: eine Uhr, einen Telefonhörer, den Terminkalender und sein unzufriedenes Herz. Alles vom Winter verweht. Seine Schultern strafften sich.

      Er blickte nach oben. Über ihm waren die Schneewolken aufgerissen, und dahinter zeigte sich ein schwarzer Himmel, der übersät war mit wunderbar funkelnden Lichtern. Schweigend sahen sie auf Philipp herab, und er stellte sich vor: Wenn nur jeder Planet und jede Sonne einen kleinen, winzigen Ton von sich geben könnte, dann würde über seinem Kopf ein gewaltiger Akkord durch die Nacht brausen.

      Und wer weiß? Vielleicht gab es das ja auch. Hatte er nicht erst neulich gelesen, dass die Erde sich unmerklich rhythmisch zusammenziehen und ausdehnen würde und einen tiefen Summton abgab, der aber für menschliche Ohren nicht wahrnehmbar war?

      Vielleicht hatten ja tatsächlich jeder Planet und jede Sonne einen eigenen Ton, und niemand hatte diese Musik bisher gehört?

      Nur einmal war ein himmlischer Gesang durch die Nacht geweht, als statt der Schneeflocken Engel die Luft erfüllten und ihre Musik die Nacht berauschte.

      Und selbst dann hatten es nicht alle Menschen mitbekommen, nur ein paar einfache Hirten mit ihren Schafen.

      Was für eine Nacht musste das gewesen sein, dachte Philipp und beobachtete seinen Atem, der als weiße Fahne in den Himmel stieg.

      Der Gott des Himmels und der Erde, den sonst niemand sehen durfte, ohne zu sterben, wurde zu einem Säugling, zeigte sein Gesicht und gab sich hilflos in die Hände der Menschen. Alle Vorstellungen über Gott zerbrachen wimmernd in diesem Stall. Und zwischen den Scherben lag das Kind.

      Eine seltene Feierlichkeit legte sich über Philipps sorgenfreien Nacken wie ein kostbarer, wärmender Schal, und er ahnte, dass alles seitdem einen tieferen Sinn hatte, auch die scheinbar nebensächlichsten Dinge: das Schreien eines Kindes, das Schnauben eines Esels, die abgearbeiteten Hände eines Hirten und die geheimen Gedanken einer Frau.

      Was wäre aber, überlegte Philipp weiter, wenn auch seine eigenen, kleinen Alltagsdinge in tiefere Zusammenhänge eingebettet waren, tiefer, als er dachte?

      Hatte nicht dieses Kind später einmal gesagt, als es erwachsen war, dass selbst die Haare auf unserem Kopf gezählt sind und dass also ein herabfallendes Haar beim Kämmen von der göttlichen Vorsehung wahrgenommen wurde?

      Was für eine gewaltige Vorstellung!

      Das würde ja bedeuten, dass auch jetzt, während er hier stand und auf die verschneite Straße sah, der Himmel an diesem Augenblick Anteil nahm. Gab es dann überhaupt Einsamkeit?

      Während Philipp ein- und ausatmete, schien es ihm, als öffnete sich in ihm eine Tür, ungefähr dort, wo sein Herz schlug, und ein Strom aus purer Freude schwebte heraus. Freude darüber, dass er mit seiner ganzen Existenz wahrgenommen und geliebt wurde von diesem fernen und zugleich nahen Gott.

      Und es war jetzt für Philipp vollkommen naheliegend, fast logisch, dass er seine Arme ausbreitete und in die Nacht dreimal ein lautes „Halleluja“ hinausschrie.

      Ein paar Sekunden blieb es still, dann öffnete sich im Nachbarhaus quietschend ein Fenster. Jemand beugte sich heraus und rief: „Ruhe!“

      ALBRECHT GRALLE

      Pfarrer Noel schwieg einen Moment am Ende der Leitung. Dann sagte er ruhig und mit einem leicht seelsorgerlichen Tonfall: „Ich glaube, ich habe Sie nicht verstanden. Was möchten Sie?“

      Joachim unterdrückte eine flapsige Bemerkung und presste den Hörer noch fester ans Ohr. „Ich will wissen, warum Sie heute keinen Gottesdienst feiern. Sehen Sie, Herr Noel, meine Tochter Charlotte freut sich schon seit Tagen aufs Krippenspiel – doch als wir eben an Ihre Kirche kamen, war alles dunkel. Stockdunkel.“

      Wieder schwieg der Theologe. Dann murmelte er: „Krippenspiel? Was soll denn das sein?“

      Joachim brauste auf: „Na, hören Sie mal, Sie werden ja wohl wissen, was ein Krippenspiel ist. Sie haben doch Theologie studiert.“

      Offensichtlich war der Pfarrer mehr amüsiert als beleidigt, denn er sagte: „Nein, tut mir leid, ich habe keine Ahnung. Aber vielleicht erklären Sie es mir – also: Was soll das sein … ein Krippenspiel?“

      Langsam wurde der Familienvater richtig sauer. „Sie verarschen mich. Oder? Ist das hier so ein blöder Scherzanruf vom Radio?“

      Pfarrer Noel lachte. „Bestimmt nicht. Außerdem haben Sie ja mich angerufen.“

      Joachim grummelte. „Stimmt. Aber ich komme mir trotzdem ziemlich bescheuert vor, wenn ich Ihnen, einem promovierten Geistlichen, jetzt erkläre, was ein Krippenspiel ist. Soll ich das wirklich? Meinen Sie das ganz ernst?“

      „Ich bitte darum.“

      „Wirklich! Ich fass es nicht. Na gut … also: Ein ‚Krippenspiel‘ ist so eine Art kleines Theaterstück, in dem die Geburt Jesu beschrieben wird. … Wie Maria und Josef nach Bethlehem kamen … wie kein Platz mehr in den Herbergen war … und wie die hochschwangere Maria in einen Stall ausweichen musste … und da bekam sie dann ihr Kind Jesus und legte es in eine Krippe … eine Futterkrippe für Tiere … deshalb der Name ‚Krippenspiel‘. Und für meine kleine Tochter ist dieses Krippenspiel jedes Jahr der Höhepunkt von Weihnachten …

      Also, mal ehrlich … Sie machen sich doch gerade lustig über mich. Aber da kann ich nur sagen: Besonders christlich finde ich das nicht.“

      Pfarrer Noel räusperte sich. Dann sagte er: „Ich versichere Ihnen, dass meine Fragen ganz ernst gemeint sind. Ich kannte diese kleine Geschichte tatsächlich noch nicht. Und auch nicht dieses … wie haben Sie das genannt? ‚Weihenachten‘?“

      Joachim verschlug es kurz die Sprache. Dann blökte er los: „Jetzt reicht’s aber. Es heißt ‚Weihnachten‘. Und Sie werden ja wohl wissen, was Weihnachten ist. Falls nicht, sollte ich vielleicht mal mit Ihrem Bischof reden. Dann haben Sie nämlich ein gewaltiges Problem.“

      Der Theologe versuchte zu beschwichtigen. „Das Ganze ist sicher nur ein Missverständnis. Vielleicht können wir ja gemeinsam Licht ins Dunkel bringen. Noch mal von vorne: Wenn ich Sie richtig verstehe, dann hätten Sie gerne, dass unsere Gemeinde anlässlich dieses ‚Weihnachten‘, wie Sie es nannten, eine Geburtsgeschichte Jesu nachspielt …“

      Joachim unterbrach ihn rüde: „Sind Sie völlig behämmert? Was reden Sie da eigentlich? Weihnachten ist das große Fest der Kirche. Der Höhepunkt des Winters. Das zentrale Ereignis im Kirchenjahr. Und Sie machen hier einen auf Totalamnesie. Wissen Sie, was ich glaube: Sie sollten mal einen Arzt aufsuchen. Einen Experten für Gedächtnislücken. Und zwar dringend. Ganz dringend! Kleine Frage am Rand: Sie wissen aber schon, wer Jesus ist. Oder soll ich Ihnen das auch erklären?“

      Pfarrer Noel klang jetzt irritiert. „Natürlich weiß ich, wer Jesus ist. Und ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie etwas entspannter mit mir reden würden, weil …“

      „Entspannt? Mit einem Pfaffen, der nicht mal Weihnachten kennt. Sie haben Ihr Examen ja wohl im Lotto gewonnen. Und das mit Ihrer Promotion wird mir auch immer suspekter … weiß der Kerl nicht, was ein Krippenspiel ist. Tja … Übrigens: Nebenan im Kinderzimmer weint sich meine Tochter gerade die Seele aus dem Leib, weil unsere Gemeinde nicht in der Lage ist, das ‚Fest der Feste‘ angemessen zu gestalten.“

      Diesmal unterbrach der

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