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starrte ich sie an: »Prügeln? Ist dein Vater besoffen?«

      »Er war zu einer Betriebsfeier und hat sich geärgert, weil er keine Prämie gekriegt hat. Aber er ist es nicht. Meine Mutter ist es. Erst hat sie gezetert, weil er getrunken hat. Er hat sich verantwortet. Sie ist auf ihn losgegangen. Er hat sich gewehrt, ihr eine Ohrfeige gegeben. Sie ist mit dem Kopf an den Türrahmen geschlagen und zusammengerutscht. Sie ist aufgestanden, wollte wieder auf ihn losgehen. Ich habe sie ins Zimmer geschubst und die Wohnzimmertür zugeschlossen. Meinen Vater habe ich ins Bett geschafft. Ich habe Angst, meine Mutter geht wieder auf ihn los. Irgendwann müssen sie ja auch einmal aufs Klo.«

      »Soll ich mitkommen?«

      Marion schüttelte heftig den Kopf. »Das muss in der Familie bleiben.« Tränen rannen ihr übers Gesicht. Sie lehnte sich schutzsuchend an mich. Doch dann fasste sie sich wieder, gab mir einen Kuss, drehte sich um, rannte wieder über die Fahrbahn, verschwand in ihrem Treppenaufgang. Ich stand noch eine Weile, starrte ratlos auf die Fensterfront des Wohnblocks. Irgendwo da oben hinter einem Fenster würde Marion zwischen ihrem Vater und ihrer Mutter sein. Aus dem Lokal klang Schlagermusik.

      Der Abend schien zu Ende. Aufgewühlt ging ich die Straße zurück zu unserer Wohnung, kam mir unendlich hilflos vor. Oben am Himmel war ein bleicher Mond. Dünne Wolken trieben an ihm vorüber, färbten sich in seinem Licht.

      Es war das erste Mal in meinem Leben, dass ich über meinen Vater und meine Mutter nachdachte. Mein Vater war Lokführer auf dem großen Rangierbahnhof im Osten der Stadt. Manchmal überführte er einige Waggons von dort auf den Rangierbahnhof vor unserem Haus, die zum Flusshafen gebracht werden mussten. Mit einem kurzen gellenden Pfiff signalisierte er uns, dass er da war. Meine Mutter ging dann zum Fenster, winkte ihm mit einem weißen Taschentuch zu. Er winkte zurück und ich sah zu, wie sich seine Maschine stampfend wieder in Bewegung setzte. Er hatte keine geregelte Arbeitszeit, kein geregeltes Wochenende. Manchmal kam er am frühen Morgen nach Hause, schlief ein paar Stunden, um dann gegen Mittag wieder loszugehen. Die arbeitsfreien Sonnabende und Sonntage musste er in der Woche nachholen. Wenn er nachts nach Hause kam, setzte er sich in seiner Unterwäsche an den Küchentisch, schlug sein rechtes Bein auf die Tischplatte, zündete sich eine Zigarette an, schlief, während die Zigarette noch glühte, ein. Die Wachstuchdecke an seinem Platz war voller Brandflecke. Meine Mutter schimpfte, machte die heruntergefallene Asche weg, kaufte regelmäßig eine neue Tischdecke. Vom Frühjahr an bis zum Herbst fand er am Tage zu Hause keinen Schlaf, ging in unseren Garten, den er in der Kleingartenanlage neben dem Rangierbahnhof gepachtet hatte. Es war Nachkriegszeit und er empfand es als seine Pflicht, meine Mutter und mich ständig mit Gemüse und Obst zu versorgen. In den ersten Jahren fütterte er auch Karnickel. Doch die Pflicht, diese Tiere regelmäßig mit Futter zu versorgen, überforderte ihn.

      Meine Mutter arbeitete in zwei Schichten in der Kaffeerösterei am Ende des Rangierbahnhofs und sortierte Kaffeepäckchen ein. Auf dem Weg zu ihrer Schicht machte sie nicht den Umweg über die Hauptstraße, sondern überquerte die Schienen des Rangierberges, ging die mit hohen Büschen bewachsenen Feldwege zum Fabriktor.

      Mein Bruder war im vergangenen Jahr ausgezogen. Es hatte ihn viel Mühe gekostet, in unserer Straße, nur ein paar Häuser weiter, ein Zimmer zu mieten. Wenn ich von der Schule nach Hause kam, mein Vater und meine Mutter in ihrer Schicht arbeiteten, war ich allein.

      Mein Bruder spielte Fußball in seiner Betriebsmannschaft, hatte mich dort angemeldet. Die Schule, mein Fußballspielen an den Nachmittagen und den Wochenenden kam mir auf meinem Weg nach Hause in diesem Augenblick ohne Marion vor wie ein planloses Dahinleben. Die lange Straße, gesäumt mit den hohen Hauswänden, den hoch gewachsenen Bäumen, den Straßenlaternen war für mich auf einmal wie ein Tunnel, aus dem ich nicht ausbrechen konnte.

      In Gedanken versunken öffnete ich die schwere Haustür. Der Gestank von Katzenscheiße schlug mir entgegen. »Verdammter Kater«, fluchte ich, »krepiere endlich.« Der Kater gehörte einer Greisin, die im Parterre wohnte. Die alte Frau entließ den Kater oft aus ihrer Wohnung in den Hinterhof. Das Tier kam nur unregelmäßig wieder. Nachts, wenn die alte Frau schlief und die Haustür geschlossen war, saß der Kater vor der Haustür, huschte mit jedem, der ins Haus kam, in den Keller.

      Ich schaltete das Treppenlicht ein. Der schwache Schein machte das Treppenhaus mit der grünen Ölfarbe an den Wänden, die bis in Brusthöhe reichte und bereits von einigen Stellen abblätterte, der verblichenen ockerfarbenen Tünche darüber, finster. Es war ungewöhnlich still im Haus. Ich vermutete, dass unsere Nachbarn wie meine Eltern um diese Zeit vor ihrem Fernsehapparat saßen.

      Auch in unserer Wohnung war diese Stille. Ich knipste das Korridorlicht an, ging an der unbeleuchteten Küche vorbei, öffnete die Tür zum Wohnzimmer. Verwundert sah ich in das Licht der Fernsehleuchte hinein. Der Fernsehbildschirm war dunkel. Meine Mutter lag mit dem Rücken auf dem Sofa, hatte ihre Schenkel angewinkelt gespreizt. Mein Vater lag mit heruntergezogenen Hosen auf ihr. Die Haut seines Hinterns war ein weißer Fleck in dem Dämmerlicht.

      Meine Mutter schrie auf. Erschrocken schloss ich die Tür wieder, wusste in diesem Augenblick nicht, wohin ich gehen sollte. Mein Vater kam aus dem Zimmer gestürzt, hielt seine Hose im Bund zusammen. »Du musst verstehen«, stotterte er.

      »Lieber Papa, wir haben in der Schule Biologieunterricht«, erwiderte ich ihm, drehte mich um, ging wieder hinunter auf die Straße.

      Vorn an der Straßenecke klang immer noch Schlagermusik aus der Musikbox. Langsam schlenderte ich bis zu Marions Wohnblock, sah zu, wie in der Hausfront ein Licht nach dem anderen erlosch. Mich fröstelte. Ich sah auf meine Armbanduhr. Es war an der Zeit, wieder nach Hause zu gehen.

      Wieder war da die finstere Treppenbeleuchtung, der Geruch nach Katzenscheiße. Oben hielt ich meinen Wohnungsschlüssel fest in der Hand, um ein Klappern zu vermeiden, schlich in den Flur. Die Küchentür war verschlossen. Hinter der Tür hörte ich meine Mutter sagen: »Du solltest dich endlich um eine andere Wohnung kümmern. Überall wird jetzt neu gebaut. Außerdem bist du bei der Bahn. Die Stadt ist nicht bombardiert worden. Da gibt es bestimmt genug Eisenbahnerwohnungen.«

      »Na ja«, druckste mein Vater, »Johann lernt bestimmt bald ein Mädchen kennen.«

      »Er hat sich wie seine Fußballfreunde drüben im Ausbesserungswerk für eine Schlosserlehre beworben. Das sind noch zwei Jahre.«

      »Bei der Bahn machen sie jetzt eine Klasse für Gleisbau auf. Da kann er sogar sein Abitur machen. Ich werde ihn dort anmelden. Die haben dort auch ein Internat. Vielleicht kann ich ihn für diese Zeit dort unterbringen.«

      »Gleisbau? Bei Wind und Wetter auf der Strecke?«, entgegnete meine Mutter besorgt.

      »Ha«, begehrte mein Vater auf, »hast du eine Ahnung. Eines Tages werden Gleise ohne Höhenunterschiede von hier bis runter an das Schwarze Meer gebaut. Die Züge werden über 300 Kilometer pro Stunde fahren. Da kann er mitmachen.«

      »Hör auf, dem Jungen solche Flöhe ins Ohr zu setzen. Vielleicht erzählst du ihm noch, er könne zu den Sternen fliegen.«

      »Warum nicht? Die Russen schicken doch schon ihre Raketen zum Mond. Ihren Gagarin haben sie schon rund um die Erde kreisen lassen.«

      Von diesem Tage an wartete ich auf die Veränderung, wartete darauf, dass der Sommer vorüberging und ich meine Lehre beginnen würde. Meine Schulzeit, mein Fußballspielen würde zu Ende sein, es würde anderes auf mich zukommen. Ich begriff, dass meine letzten Jahre in der Schule, mein Fußballspielen eigentlich nur eine Flucht aus der Enge unseres Wohnens, der Ziellosigkeit einer Alltäglichkeit war. Die Unbekümmertheit, mit der ich jeden Tag angegangen war, fiel von mir ab wie die Schale einer reifen Kastanie.

      Es war an einem Sonntagnachmittag zwei Wochen später. Ich saß an einer Ecke des Küchentisches, hatte mir die alte Schreibtischlampe herangezogen, knobelte an Mathematikaufgaben für die Abschlussprüfung. Auf der anderen Seite des Tisches bügelte meine Mutter Taschentücher. Es klingelte an der Wohnungstür. Meine Mutter und ich hoben gleichzeitig den Kopf, verwundert, wer an diesem Sonntag zu uns kam. »Vielleicht ist es Barbara?«

      »Warte, ich gehe«, sagte ich zu meiner Mutter, erhob mich von meinem

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