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umfasste mich wieder. Ihr Partner spielte Klavier. »Die Damen machen die Schritte nur umgekehrt«, rief sie zur Mädchenreihe hinüber, zwang mich, die Schritte zu setzen, dann zu drehen. Lächelnd ließ sie von mir ab. »So. Jetzt werden wir das alle üben. Jeder sucht sich einen Tanzpartner. Ich schlage vor, die Damen haben die Wahl.«

      Ich erwartete, dass Friederike mich wählte. Doch Friederike zögerte. Sie war es gewohnt, dass ich mich um sie bemühte. Nun musste sie eine Entscheidung treffen. Während ich auf sie wartete, stellte sich Marion vor mich: »Wollen wir?«

      Erstaunt sah ich sie an. Bisher hatte ich keine Augen für sie. Sie saß drei Bänke vor mir in der linken Bankreihe und war eine Mitschülerin, die ich jeden Tag sah wie andere auch. Jeden Tag hatten wir uns in diesem Klassenzimmer getroffen, hatten miteinander geredet, gelacht, vielleicht gestritten, hatten uns konzentrierte auf das, was der Lehrer an der Tafel erklärte.

      Auf einmal war alles anders. Marion hatte jetzt ein Gesicht, das von dunklem Haar umrahmt war und einen Schimmer von Schwarz trug. Sie trug das Haar linksseitig gescheitelt. Es bedeckte die eng anliegenden kleinen Ohren, war im Nacken länger geschnitten, fiel locker über den Blusenkragen. Das Haar war über der Stirn zur Seite gekämmt. Ihre Augenbrauen umwölbten als schmale dunkle Striche die Augenhöhlen. Ihre Augenlider gaben nicht das ganze Auge frei, machten aber den Blick ihrer braunen Augen offen, indem sie sich bis in die Augenwinkel fortsetzten. Das Schmale der Nasenwurzel führte bis hinunter zur Nasenspitze. Nur die Nasenflügel waren ein wenig grob und fleischig. Die kaum ausgeprägten Nasenfalten umrahmten den Mund mit den schmalen Lippen bis hinunter zu den Mundwinkeln. In der Mitte ihrer Oberlippe schob sich spitz eine Hautfalte über die Unterlippe. Die Hautfalte verschwand, wenn Marion lachte und ihre Zähne zu sehen waren. Über dem runden Kinn war die Haut vom ständigen Reinigen der großen Hautporen gerötet. Marion legte ihren Kopf kokett zur Seite, umfasste meine linke Hand, hob den Arm nach oben, forderte mich auf, meinen Arm um ihre Hüfte zu legen.

      Da war plötzlich ihr Arm, der auf meiner Schulter lag, ihre Hand, die meine Hand umfasste, war da die Berührung unserer Körper, die nur ein Ziel hatte, sich gemeinsam zu bewegen, zu drehen.

      Marion war leicht und wenn ich zu heftig drehte, ihren Körper fest an mich ziehen musste, um das Gleichgewicht zu halten, war auf einmal ihr Gesicht ganz nah, spürte ich ihren heißen Atem, aber auch die Verlegenheit, dem Anschmiegen nicht aus dem Weg gegangen zu sein.

      Friederike war hier in diesem Raum. Ich hatte sie vergessen. Immer wieder drängte es mich, mit Marion zu sein.

      Die Tanzstunde war zu Ende. Wir schoben die Tische und Stühle wieder an ihren Platz. Vor dem Schultor warteten junge Männer auf die Mädchen. Einer ging auf Friederike zu. Ich stand neben Marion: »Ich bring dich nach Hause.«

      Marion nickte. »Gehen wir noch ein Stück. Ich will noch nicht nach Hause. Zwischen meiner Mutter und meinem Vater ist nur Streit.«

      Wir bogen in eine Seitenstraße ein, die hinunter zum Marktplatz führte, an der ›Alten Apotheke‹ vorbei. Überall war Licht. Die Straßenlaternen leuchteten wie ein Lichtsaum rings um den Marktplatz. Die Kirche nahe dem Stadtkern stand mächtig in dem Wechsellicht des Abends. Ihr Turm zeigte angestrahlt in das Dunkel über den Hausdächern. Wir gingen ein Stück in die Ladenstraße hinein, schlenderten durch die schmale Riemengasse. Die Fachwerkwände rechts und links atmeten Vergangenheit. Unser Weg führte am Altersheim vorbei in den Kurpark. Das Kurparkcafé war hell erleuchtet. Seine Terrasse war mit birnenförmigen Leuchten begrenzt. Zwischen den Lampenpfählen waren Ketten gespannt, an denen die hellen Lampen den Zugang ausleuchteten. Der Hauptweg des Parks war mit roten Steinen sorgfältig gepflastert. Die rote Farbe der Pflastersteine gab dem Schatten der Baumstämme einen warmen Untergrund. Hinter den Stämmen warfen sich ihre Schatten auf die Rasenfläche bis hinter zu den Resten der Stadtmauer. Auf der anderen Seite hielten hoch gewachsene Sträucher das Licht auf. Hinter den Sträuchern stiegen Wohnblöcke steil nach oben. Die Fensterlichter der Wohnungen waren helle Vierecke in den weißgetünchten Hausmauern. Zwei junge Männer in meinem Alter kamen direkt auf uns zu, als wollten sie uns angreifen. Kurz vor uns sprangen sie zur Seite, lachten hell über unser Erschrecken. »Die haben alle Mädchen. Nur ich habe keins«, hörte ich. Marion und ich sahen uns an, lächelten. Ich umfasste ihre Schulter. Sie lehnte sich an mich, hob den Kopf. Wir küssten uns so, als hätten wir noch nie geküsst.

      Der Spaziergang war ein Umweg. Als wir zurückgingen, mussten wir wieder an dem Schulgebäude vorbei. Friederike und noch andere Mädchen standen mit den Jungen zusammen, redeten und lachten. Wir mussten an ihnen vorbei. Julius, ein vierschrötiger Junge, der schon vor zwei Jahren von der Schule abgegangen war, kam drohend auf uns zu: »Lass Marion gehen. Sie ist meine Freundin.«

      Unschlüssig stand ich, überlegte, ob ich mich mit ihm prügeln sollte, um mich nicht zu blamieren, obwohl ich wusste, ich würde den kürzeren ziehen.

      Marion stellte sich entschlossen vor mich. »Wer mein Freund ist, bestimme ich. Johann und ich haben uns gerade verlobt.«

      Der Andere öffnete staunend den Mund, sah Marion an, dann mich, war sich nicht sicher, stellte sich wieder in die Gruppe.

      Marion wohnte mit ihren Eltern in einem Neubaublock an der Hauptstraße. Bevor wir uns dem Hauseingang näherten, wies sie auf ein erleuchtetes Fenster im zweiten Stock. »Das ist die Küche. Mein Vater und meine Mutter sind zu Hause.«

      In unmittelbarer Nähe des Wohnblocks querte das Gleis der alten Hafenbahnstrecke die Ausfallstraße.

      Marion und ich standen vor ihrer Haustür, beobachteten schweigend, wie ein Streckenposten auf die Fahrbahn ging, die Sperrung der Straße signalisierte. Aus der nahen Kleingartenanlage kam eine Lokomotive heraus, überquerte die Straße im Schritttempo, verschwand mit ihren drei Güterwaggons zwischen den Lagerhallen auf der anderen Straßenseite.

      »Wie gefällt dir das mit der Verlobung?«

      »Gut.« Ich zog Marion fester an mich, küsste sie. »Das ist der Verlobungskuss.«

      »Aber nur verlobt«, drängte sie mich zurück. Im Treppenhaus ging das Licht an.

      »Ich muss jetzt hoch«, deutete Marion in Richtung des erleuchteten Fensters, verdrehte die Augen. »Nachher werden sie sich wieder streiten.«

      »Hat dein Vater eine andere Frau?«

      Marion zuckte die Schultern. »Er geht sonnabends zu seinem Fußball, mittwochs zu seinem Skatabend, aber ansonsten ist bei uns nicht mehr viel los.«

      »Und deine Mutter?«

      »Sie ist unzufrieden. Nur zum Fremdgehen ist sie zu feige.«

      Es war auf einmal alles so neu. Das verspielte Verliebtsein, das Suchen einer erregenden Berührung mit anderen Mädchen war in mir zu etwas Flüchtigem geworden. Mit Marion war etwas Festes, Beständiges da. Wenn ich mit ihr zusammen war, war ich ein Teil von ihr, achtete darauf, dass die Übereinstimmung, die wir in unserer Berührung, unseren Gedanken fanden, nicht verloren ging. Ich spürte, wie sie immer auf mich zuging, meine Zärtlichkeiten entgegennahm wie etwas, was sie sich erobert hatte, zuerst noch schüchtern, aber mit jedem Tag fordernder, ihre eigene Zärtlichkeit an mich gab.

      Marion saß in ihrer Bankreihe zwei Sitze vor mir. Ich hatte ständig ihren Rücken vor meinen Augen, ihr Haar, beobachtete, wie sie ein Buch aufschlug, wie sie schrieb, sich meldete. Ab und zu, wenn der Lehrer Begriffe an die Wandtafel schrieb, drehte sie sich zu mir um, zwinkerte mit den Augen, winkte lächelnd.

      Einmal hatte sie sich vom Unterricht befreien lassen, weil sie einen Arzttermin hatte. Ich sah sie vom Fenster unseres Klassenzimmers über den mit Kies bestreuten Schulhof gehen, sah ihr zu, wie sie mit ihren kurzen Schritten zielstrebig in die Seitenstraße einbog. Sie war weit weg und doch war es mir, als würde ich in ihr sein, nicht neben ihr, sondern in ihr gehen. Die Gewissheit, dass das Mädchen, das da draußen ging, zu mir gehörte, es ein Teil von mir war, weckte in mir das Gefühl von Angst, sie würde nicht zurückkehren.

      Ich bemerkte, wie Friederike sich zurücknahm, nicht mehr auffällig laut redete. Sie war nicht eifersüchtig, begegnete Marion und mir mit nachdenklichem Respekt.

      Marion

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