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      Und wie hat der hannoversche Untertan Busch sich zum Sturz seines Landesvaters gestellt? Das ist nicht so leicht zu sagen. Im Proömium, das er seiner Geschichte voransetzt, mischen sich Furcht vor dem Neuen, gemütlicher Rückzug ins Private, Zerknirschung über den eigenen »Hochverrat« und der Zynismus des »bösen Menschen«, der da denkt: »Na, die hat’s erwischt!« 20 Jahre zuvor hatte die Aufregung noch zur Revolution gereicht; jetzt langt es nur noch zu einer kräftigen Prise aus der Tobaksdose.

      Folgender Aufruf ging im August 1968 durch die deutschen Zeitungen: »Jedermann weiß es oder kann es wissen: Der Bürgerkrieg in Biafra ist zum Völkermord gesteigert worden. Die Blockade verursacht täglich den Hungertod von mehreren tausend Zivilisten, hauptsächlich Kindern. Die Ausrottung von acht Millionen Ibos steht bevor. In wirtschaftlicher und machtpolitischer Konkurrenz fördern west- und osteuropäische Staaten ein Verbrechen. West und Ost werden an Biafra scheitern, wenn sie dem Begriff Koexistenz nicht durch gemeinsame Hilfe einen humanitären Sinn geben. Die Not in Biafra fordert alle zur Entscheidung.«

      Im August 1968 war Deutschland ja eigentlich ziemlich stark mit sich selbst beschäftigt und höchstens noch mit seinem tschechoslowakischen Nachbarn, wo gerade die sowjetischen Panzer einrollten. Aber dieser Aufruf, unterzeichnet von Marion Gräfin Dönhoff, der Herausgeberin der »Zeit«, dem Schweizer Schriftsteller Max Frisch und dem deutschen Schriftsteller Günter Grass, drang dennoch durch. Ich war damals acht Jahre alt, doch ich erinnere mich lebhaft an das allgemeine Entsetzen, das die Bilder von Kindern auslösten, deren Beine wie Stengel und deren Bäuche wie Trommeln wirkten, mit Nabeln, die darüber hinaus noch einmal halbkugelig vorquollen, Haut und Haare von einer absurden Kupferfarbe und die Augen unglaublich groß. Wer so aussah, dem war nicht mehr zu helfen, das war klar, der hatte nur noch Tage, vielleicht Stunden zu leben. Im »Biafra-Kind« fand das Schicksal Afrikas seinen in den Augen der Welt bis heute wirksamen katastrophalen Ausdruck.

      Doch helfen wollten alle. Ein Hamburger Rentner spendete 4000 Mark, sein gesamtes Vermögen. Selbst der Playboy Gunter Sachs veranstaltete im fernen Sylt ein Benefiz-Fußballspiel. Allein, es erwies sich als sehr schwierig, die eingesammelte Hilfe auch an Ort und Stelle zu schaffen. Denn Ursache dieser Hungersnot war eine Blockade.

      Wie konnte es dazu kommen? Als Nigeria, das bevölkerungsreichste Land Afrikas, 1960 seine Unabhängigkeit von der britischen Kolonialherrschaft erlangte, war man sich einig: Zustände wie im Kongo, der in Krieg und Anarchie zerfiel, seien in diesem gut organisierten Land nicht möglich. Aber es wurde noch schlimmer.

      Der junge Staat umfasste Völkerschaften, die sich zwischen Savanne und Regenwald verteilten, 500 verschiedene Sprachen hatten und teils Muslime, teils Christen waren oder ihren alten lokalen Religionen anhingen. Die Gegensätze konnten nicht größer sein. Jedes Volk hatte das Gefühl, sich der Übervorteilung durch die anderen notfalls mit Gewalt erwehren zu müssen. Nach einer Serie von Putschen und Gegenputschen im Jahr 1966 wurden im ganzen Land Angehörige des südöstlichen christlichen Volks der Ibo gejagt, zwei Millionen von ihnen flohen zurück in ihre alte Heimat. Eine neue Aufteilung der nigerianischen Bundesstaaten sollte ihr Gebiet vom Nigerdelta trennen, wo es Erdöl gab, die wichtigste Einnahmequelle des ganzen Landes.

      Da entschieden die Ibo sich zur Sezession. Der Militärkommandant der Region, Oberleutnant Chukwuemeka Odumegwo Ojukwu, rief am 30. Mai 1967 die Republik Biafra aus; die Ölquellen sollten selbstverständlich dazugehören. Die Reaktion des nigerianischen Zentralstaats ließ nicht lange auf sich warten. In zwei Speerspitzen stießen nigerianische Truppen über den Niger nach Biafra vor. Doch Biafra, das so gut wie keine ausgebildeten Streitkräfte hatte, das seine Rekruten in dreiwöchigen Crash-Kursen mit Stöcken exerzieren ließ (Gewehre waren Mangelware) und über genau zwei veraltete Militärflugzeuge verfügte, schlug sich unerwartet gut. Nach einem Jahr Krieg bestand die Republik immer noch. Am 18. Mai 1968 fiel jedoch Port Harcourt, Biafras einziger Hafen. Von nun an sperrte Nigeria alle Importwege auf dem Land, und aus der Luft lässt sich keine komplette Bevölkerung ernähren. Das Rote Kreuz stellte die Arbeit ein, nachdem mehrere seiner Versorgungsflugzeuge abgeschossen worden waren.

      Trotzdem hielt Biafra, dessen unbesetztes Territorium zusehends schrumpfte und das zweimal vor dem anrückenden Feind die Hauptstadt wechseln musste, noch bis zum Januar 1970 aus. Über die Zahl der Toten durch Kämpfe, Massaker und Unterernährung gibt es bis heute keine verlässlichen Zahlen, die meisten Schätzungen gehen von einer bis zwei Millionen aus, ein rundes Zehntel der Bevölkerung. Das Land war weitgehend zerstört, es wurde unter Militärverwaltung gestellt, Angehörige des Volks der Ibo für Jahrzehnte nicht in Verwaltung und Armee zugelassen. Die Versöhnung, zu der Nigerias Präsident Yakubu Gowon nach dem Sieg aufrief, fand nicht statt.

      Aber es ist auch etwas Positives bei diesem Krieg herausgekommen. Bernard Kouchner, damals Aktivist vor Ort, hatte die Ohnmacht der offiziellen Hilfsorganisationen erlebt, besonders des quasi regierungsamtlichen Roten Kreuzes, das sich auf Absprachen mit der Staatsgewalt einlassen musste, die fast einer passiven Mittäterschaft gleichkamen. Hier musste etwas Neues ins Leben gerufen werden, eine Einrichtung, die sich von Staaten nichts sagen ließ und selbst entschied, wo und wie zu helfen sei. So gründete er, mit seiner Biafra-Erfahrung im Rücken, die »Médecins Sans Frontières«, die Ärzte ohne Grenzen.

      Als die Bewohner der südlichen Niederlande, die mit den nördlichen durch den Wiener Kongress zwangsvereint worden waren, sich 1830 gegen ihre Regierung erhoben, da wollten sie nur eines: die Holländer los sein. Was sie sonst noch wollten, blieb höchst unklar; selbst um auch bloß einen Namen für den neuen abgespaltenen Staat zu finden, der nicht an die niederländische Gemeinschaft erinnerte, musste man einen tiefen Griff in die Geschichte tun: Belgien sollte er heißen, nach der römischen Provinz Belgica 1800 Jahre zuvor.

      Belgien schloss zwei ganz verschiedene Völkerschaften ein. Die Flamen im Norden, die Niederländisch sprachen, fühlten sich den französischsprachigen Wallonen im Süden gegenüber benachteiligt. Der Norden war landwirtschaftlich orientiert, konservativ, ärmer, und bis zum Ende des Jahrhunderts war Flämisch nicht einmal offizielle Landessprache.

      Das gedachte die deutsche Besatzungsmacht auszunutzen, die zweimal, in beiden Weltkriegen, das neutrale Belgien überrannte. Im Ersten Weltkrieg sorgte sie für die Gründung einer flämischen Universität, im Zweiten appellierte sie an die rassische Solidarität der Germanen, zu denen die Flamen schließlich auch gehörten.

      Eine »Freiwillige Legion Flandern« wurde aufgestellt, die man jedoch sicherheitshalber nur im Osten kämpfen ließ, wo die Versuchung, zum Feind überzulaufen, geringer schien. Die Briefmarke der Feldpost »voor onze jongens an het oost front« ist ein propagandistisches Juwel. Es kämpft das Gute schlechthin gegen das Böse schlechthin. Die bildliche Tradition ist die des Engelsturzes, nur dass der Erzengel Michael vor dem Wolkenhimmel um seine Flügel und den Schild mit der Aufschrift »Wer ist wie Gott« verkürzt wurde; umso wuchtiger kann er das Schwert mit beiden Händen schwingen und den Satan vor die Brust treten. Dieser lässt sich, im Gegensatz zum zeitlosen Minikleid der germanischen Lichtgestalt, an seinem zeitgenössischen Kostüm, besonders der spitzen Mütze, ohne weiteres als Angehöriger der Roten Armee identifizieren. Mit einer Hand scheint er um Gnade zu flehen; aber mit der anderen hält er noch die Waffe gefasst (unklar, was für eine: Wäre es ein Schwert, käme ein lächerlicher Kontrast zur Uniform heraus; wäre es aber ein Gewehr, wie hat er diesen Kampf verlieren können?). Pardon braucht ihm also nicht gewährt zu werden.

      Aneinander gerieten Flamen und Wallonen erst, als der Krieg vorüber war. Nun standen sich nämlich die Regierung, die ins englische Exil gegangen, und König Leopold, der in der Hand der Deutschen geblieben und von ihnen bei ihrem Abzug mit nach Österreich genommen worden war, feindlich gegenüber. Die Flamen ergriffen überwiegend Partei für den König, die sozialistisch und liberal gesinnten Wallonen aber wollten ihn nicht mehr haben. Ein Bürgerkrieg wurde nur vermieden, indem Leopold weise zurücktrat und Platz für seinen Sohn Baudouin machte – den

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