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Name geht zurück auf den griechischen Seefahrer Pytheas, der im 4. Jahrhundert vor Christus weiter nach Norden vordrang als jeder andere Mensch der Antike. Er sprach davon, mit seinem Schiff bis an den Rand eines »geronnenen Meeres« gelangt zu sein, also wohl eines gefrorenen. Die Griechen waren ja einiges an Fabulierkünsten von ihren Reiseschriftstellern gewohnt – aber das ging eindeutig zu weit! Und doch tauchte der Name durch die Jahrhunderte immer wieder auf, gern mit dem Zusatz »Ultima Thule«: Thule, nach dem nichts mehr kommt, der letzte, extreme Raum, wo sich noch Menschen halten konnten. Ultima Thule, so nennen die Geografen bis heute das nördlichste Stück Land auf dem Globus, immer eine andere, neue Klippe vor der grönländischen Küste, denn im geronnenen Meer lassen sich Fels und Eis schwer unterscheiden. Gretchen im »Faust« singt ihr Märchenlied vom König in Thule; aus Thule ist Prinz Eisenherz gebürtig. Die Thule-Gesellschaft träumte in der Zwischenkriegszeit von einem hochnordischen Atlantis der Arier und übte beträchtlichen Einfluss auf Himmler und die SS aus. Die Amerikaner nannten ihren nördlichsten Luftwaffen-Stützpunkt, 1200 Kilometer jenseits des Polarkreises, Thule. Wer »Thule« in die Suchmaschinen eingibt, dem purzeln Angebote eines Produzenten von Wintersportgerätschaften entgegen.

      Das Thule von Fräulein Smilla und unserer Briefmarke aber ist das geheimnisvollste von allen. Denn hier kam ein Bodenschatz vor, den es nur hier gab: Kryolith. Schon der Name weckt Assoziationen von Seltenheit und Gefahr. Kryolith verbindet die griechischen Wörter für Stein und Frost; und genau so, glasig und von einer milchigen Weiße, sah der Stoff auch aus, wie Eis, das unter dem ungeheuren Druck der Gletscher einen höheren Grad von Festigkeit erlangt hatte. Es erwies sich als unentbehrlich bei der Produktion von Aluminium. Thule mit seinen arktischen Bergwerken besaß das Weltmonopol auf diesen Froststein. Seiner Abgeschiedenheit wegen erhielt es eine eigene Post mit eigenen Marken zugebilligt. Erleichterten diese schönen, originellen, obwohl sehr kühlen und gleichsam mit frostklammer Hand entworfenen Postwertzeichen die Kontrolle der Kommunikation? Peter Høegs Roman gibt zu verstehen, dass alles, was mit Thule zusammenhing, der Zensur, Vertuschung, Geheimhaltung unterworfen war. Fräulein Smilla hat es mit einer dicht gewobenen Verschwörung zu tun.

      Was wohl seither mit den Leuten von Thule geschehen ist? Ich weiß es nicht. Schon in Høegs Buch häufen sich die Zeichen des Verfalls. Die einstmals freien Robbenjäger, die von einer sozialdemokratischen Politik als »Norddänen« zur Sesshaftigkeit gezwungen werden sollen, begehen Selbstmord, so Smillas Bruder, oder verschwinden einfach im Eismeer, so Smillas Mutter. Und was ist mit Smilla selber? Sie hat sich jedenfalls entschlossen, keine Kinder zu haben. Das Buch schließt: »Erzähl uns, werden sie kommen und zu mir sagen. Damit wir verstehen und abschließen können. Sie irren sich. Nur was man nicht versteht, kann man abschließen. Die Entscheidung bleibt offen.«

      Sie wissen sicherlich, was ein Palindrom ist: ein Satz, der von vorn wie von hinten gelesen das Gleiche ergibt, z. B.: »A man, a plan, a canal: Panama.«

      Der Mann war Theodore Roosevelt; der Plan bestand darin, den Isthmus von Panama unter den Auspizien der USA zu durchstechen; und zur Rechtfertigung seines Projekts hielt er einen Satz wie diesen für völlig ausreichend. Die abgebildete Briefmarke – einige Jahrzehnte nach jener unbeschwerten Pionierzeit gedruckt – leistet schon etwas mehr Argumentationsarbeit: »The Land Divided – the World United« ist hier als Motto des Kanalwappens zu lesen.

      Tatsächlich hatten die USA nicht nur ein Land geteilt, um ihren Kanal zu erhalten, sondern gleich zwei. Panama war ein Bestandteil Kolumbiens; als sich aber das kolumbianische Parlament einen bereits unterzeichneten Vertrag, der den USA freie Hand auf dem Isthmus gegeben hätte, zu ratifizieren weigerte, da ermunterten die USA eine örtliche Revolte. Im November 1903 erklärte sich die bisherige Provinz Panama für unabhängig, wurde unverzüglich von den Vereinigten Staaten anerkannt und gewährte diesen ebenso postwendend den gewünschten Vertrag, in dem ihnen die Hoheitsrechte über den zu bauenden Kanal und einen Saum von acht Kilometern Breite zu beiden Seiten eingeräumt wurde. Der neue Staat wurde so gleich zu Beginn in zwei separate Hälften zerlegt und verzichtete auf jeden Einfluss auf die Kanalzone und ihre Nutzung. Er beklagte sich nicht: Denn nur zu diesem Zweck war er schließlich ins Leben gerufen worden. Am 15. August 1914 fuhr das erste Schiff durch den neuen Kanal – ein Ereignis, das damals in Europa, das andere Sorgen hatte, fast nicht zur Kenntnis genommen wurde.

      Verwaltet wurde die Kanalzone von der Panamakanal-Gesellschaft, deren Aufsichtsrat das amerikanische Verteidigungsministerium ernannte; einziger Gesellschafter war die US-Armee. Die Vereinigten Staaten hatten nämlich noch einen zweiten Verwendungszweck für dieses Territorium gefunden: als Militärstützpunkt und Trainingsgelände für die Elitetruppen befreundeter Staaten, die hier besonders den Häuser- und Dschungelkampf erlernten; 42 Prozent der Fläche in der Kanalzone war oder ist militärisch genutzt.

      Die Präsenz der USA, die so fühlbar ins Fleisch der Souveränität schnitt, wurde in Panama und anderen Ländern der Region zunehmend als Provokation empfunden. Schließlich lenkte der Demokrat Jimmy Carter ein und handelte einen neuen Kanalvertrag aus, der den alten, »ewigen« ersetzte und die schrittweise Übertragung des Kanals an Panama bis zum Jahr 2000 vorsah. Die republikanischen Präsidenten, die ihm folgten, zeigten beim Abzug indes keine Eile. George Bush stellte die Verhältnisse klar, als er 1989 aus der Kanalzone heraus Panama angriff und dessen amtierenden Präsidenten, Manuel Noriega, wie einen gewöhnlichen Kriminellen jagte, stellte und vor ein US-Gericht brachte.

      Im Weißen Pferd zu Milbenau sitzen sie zusammen, die Männer und die Mümmelgreise mit ihren langstieligen Pfeifen und schlafmützenartigen Kopfbedeckungen und politisieren, teils ängstlich, teils empört, aber einig in der Grundfrage: »Kreuzhimmel-tausenddonnerwär,/​uns’ olle König mot weer her!!«

      Der olle König, den die Stammtischrunde in Wilhelm Buschs »Der Geburtstag oder die Separatisten« meint, ist Georg V. von Hannover, der blinde König Georg – die Briefmarke deutet sein Gebrechen behutsam durch das schwere Lid und den vergrößerten Tränensack an. Er war der zweite König, seit Hannover im Jahre 1837 seine mehr als 100 jährige Personalunion mit Großbritannien aufgekündigt hatte, weil es die weibliche Erbfolge, die Thronbesteigung der Prinzessin Victoria, nicht akzeptieren wollte. In den 29 Jahren seiner eigenstaatlichen Existenz bewies das Königreich keine glückliche Hand, weder nach innen noch nach außen. Es begann sein Dasein, indem König Ernst August die Verfassung aufhob, die »Göttinger Sieben«, die dagegen protestierten, angeführt von den Brüdern Grimm, aus ihren Professuren verjagte und die Empörung des gesamten liberalen Deutschlands erregte.

      Sein ebenso erzkonservativer Nachfolger Georg verärgerte nicht nur das Bürgertum, sondern stieß auch seinen mächtigsten und bedenklichsten Nachbarn, Preußen, durch Unnachgiebigkeit vor den Kopf. Obwohl Hannover zwischen den preußischen Kernlanden im Osten und den rheinisch-westfälischen Gebieten Preußens im Westen wie in einen Schraubstock eingezwängt lag, kam es, nach einem missglückten Versuch der Neutralität, im Krieg von 1866 auf die Seite Österreichs zu stehen. Das Ergebnis konnte niemanden überraschen: Bismarck ergriff mit Freuden die Gelegenheit, eine Landbrücke zwischen den beiden bislang getrennten Teilen Preußens zu bauen, vertrieb den König ins Exil und errichtete die Provinz Hannover. (Den sogenannten Welfenschatz, der dem Herrscherhaus gehört hatte, strich Bismarck in seine Privatschatulle ein und benutzte ihn später z. B., um dem bayerischen König den Bau seiner Schlösser zu finanzieren, womit er ihm den Beitritt zum Reich schmackhaft machte.)

      Die Revolte der königstreuen Bauern in Buschs Bildergeschichte beschränkt sich schließlich darauf, ihrem blinden vertriebenen König etwas zum Geburtstag zu schenken. Aber ach, selbst das wird vereitelt: Die Kiepe voll Branntwein Marke »Busenfreund« wird vom betrunkenen Fritze Jost in den Dorfteich gekippt, zum Gaudium der Gänse und Schweine; der Wagen mit den Eiern fällt von der Brücke, so dass die Ehrenjungfern »in Dotter merklich eingehüllt« werden; die aus Butter vom Bäckermeister Knickebieter geformte Statue einer Henne – schon vorher vom Künstler etwas im Umfang verringert (»Und, da das Ganze ein Symbol,/​So kann’s

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