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sind. Ich bin auf jeden Fall dafür, die Hochzeitsnacht mit einzubeziehen.”

      „Wir können auch nur die Hochzeitsnacht nachspielen”, bemerkte Britta in einem ironischen Unterton, der mir allerdings glatt entging. „Oh Britta, du hast immer so gute Ideen!”, begeisterte ich mich. Aber Britta unterbrach mich kalt und sagte bestimmt: „Das hätte dir so gepasst! Nein, wir spielen alles, wirklich alles, so nach, wie es sich wirklich abgespielt hat und meinetwegen darfst du mich in der 89. Spielminute dann auch mal am Arm streicheln und von mir aus dabei denken, was du willst. Aber eines sage ich dir schon jetzt: Es wird sich an die Fakten gehalten! Und Flossen weg von meinem Busen!”

      Der siebte Juni vor sieben Jahren war ein schöner, sonniger Tag. Mein Tag begann wie üblich: Nach dem Frühstück in der Kantine mit Frau Stöhr, Herrn Goller und Elke wollte ich in die Materialausgabe im Erdgeschoss gehen. Donnerstags war von 11:00 Uhr bis 12:00 Uhr Materialausgabe. Papa hatte mich gestern gefragt, ob ich ihm mal einen neuen Locher mitbringen könne und vielleicht noch ein paar Leitz-Ordner. Außerdem hätte Mama nächste Woche Geburtstag, vielleicht fände ich noch was Nettes für sie. Mama freute sich immer riesig, wenn ich ihr etwas aus der Materialausgabe mitbrachte. Als ich ihr zum 60. Geburtstag eine Tackerkralle mitgebracht habe, rief sie gleich am nächsten Tag an und erzählte begeistert, dass sie mit der Tackerkralle bei Papa sogar einen Holzbock erfolgreich entfernt hatte. Nach den Blessuren könnte manjetzt zwar vermuten, Papa sei von einer Klapperschlange gebissen worden, aber Hauptsache das Ding war draußen.

      Papa war im Gegensatz zu Mama richtig unverschämt. Er dachte, das liefe bei uns in der Materialausgabe immer noch so ab wie früher, als er noch im Amt war. Papa hatte immer seinen ganzen Freundeskreis mit allem versorgt, was die Materialausgabe hergab. Manchmal musste ich mich mit Papa richtig anlegen: „Was, Junge, nur sieben Tacker?”, schmollte er. Und ich erwiderte: „Das ist nicht mehr so wie zu deiner Zeit. Du kennst den Schroeder nicht, der sitzt auf jeder Büroklammer.” Schroeder war unser neuer Hausmeister und der bewachte die Materialausgabe als beherberge sie die britischen Kronjuwelen.

      Im Foyer ging ich an der Tür des Sprechzimmers vorbei. Vor der Tür warteten etliche Steuerpflichtige darauf, dass ihre Nummer aufgerufen wurde.

      Steuerpflichtige sind eigentlich keine richtigen Menschen, so wie zum Beispiel Nachbarn oder Freunde. Sie sind die Grundlage eines Aktenaufbaus: Name, Vorname, Geburtsdatum, Steuernummer, Gewerbekennziffer. Von da aus teilt sich die Zelle immer weiter und wird zum Steuerpflichtigen. Sie machen eigentlich nur Arbeit, genauso wie Meerschweinchen eigentlich nur Dreck machen. Meerschweinchen sind aber dabei wenigstens noch niedlich anzuschauen. Steuerpflichtige machen darüber hinaus nur Ärger. Ärger, weil die Steuererklärung nicht rechtzeitig abgegeben wurde, Ärger, weil ständig die Belege fehlten, Ärger, weil die Zahlen in die falschen Zeilen eingetragen worden waren und Ärger, weil sie womöglich noch anriefen. Am Schlimmsten aber sind die Steuerpflichtigen, die dem Wahn verfallen sind, sie müssten ihre Steuererklärung persönlich bei ihrem Sachbearbeiter abgeben und könnten dann auch noch eine Belohnung erwarten. Oder aber er lege Wert darauf, den Steuerbescheid am Telefon mit ihnen auszudiskutieren.

      Aus den Augenwinkeln bemerkte ich eine Steuerpflichtige, eine junge, große, blonde Frau mit Kurzhaarschnitt, die hilflos in demStänder mit den Steuererklärungsvordrucken ein Formular suchte. Ich war schon fast an ihr vorbei, da drehte sie sich plötzlich zu mir um und sprach mich an: „Entschuldigen Sie, ich suche diesen Lohnsteuer-Erstattungsantrag.”

      An Sprechtagen sollte man gar nicht erst in die Nähe des Sprechzimmers kommen, um nicht von Steuerpflichtigen angefallen zu werden! Ich wollte mich zunächst gar nicht umdrehen, sondern einfach so tun, als hätte ich sie nicht gehört. Einem Impuls folgend drehte ich mich dann aber doch nach ihr um.

      Es gibt nicht viele Momente, in denen es einfach nur „Dong” macht. Es war der Super-GAU! Ich glaube, ich starrte sie fast eine halbe Minute lang an. Es ist kaum zu glauben, dass ich überhaupt so etwas wie einen vollständigen Satz heraus brachte. Ich sagte so etwas wie: „Sie suchen sicherlich eine Einkommensteuererklärung.” Nein, ich bin mir sicher, dass es kein vollständiger Satz gewesen ist. Wahrscheinlich hatte sie auch gar nicht verstanden, was ich gesagt hatte. Sie antwortete ein bisschen ungeduldig, aber nicht unfreundlich: „Nein, ich bekomme was wieder.”

      Mit zittriger Hand reichte ich ihr das Formular und: Sie lächelte mich an! Dieses Lichtwesen lächelte mich an!

      Ich brachte nur ein stockschüchternes „Dann Tschüss” heraus. Sie sagte: „Nochmals Danke!” Und dann wieder dieses Lächeln!

      Steifen Schrittes und doch bemüht, betont locker zu wirken, ging ich weiter in Richtung Materialausgabe. Ich wagte nicht, mich noch einmal umzudrehen. Auf der Schwelle zur Tür der Materialausgabe flog dann die Sicherung bei mir komplett heraus. Es pochte in meinem Kopf: Dong! Du musst jetzt hinter ihr her. Das ist die Frau!

      Ich musste etwas unternehmen, rannte zurück in die Wartezone vor dem Sprechzimmer. Sie war nicht mehr da. Vielleicht ließ sie sich gerade von der Kollegin beraten. Panik stieg in mir hoch. Ich konnte unmöglich länger warten, riss die Tür zum Sprechzimmer auf. Eine Steuerpflichtige im verwesungsfähigen Alter saß miteinem Schuhkarton, aus dem Busfahrkarten, Zinsbescheinigungen und Rentenbescheide herausquollen, vor meiner Kollegin und heulte. Tür schnell wieder zu und wieder zurück in die Wartezone. Was sollte ich jetzt tun? Ich musste unter allen Umständen hinter ihr her, nahm meinen letzten Mut zusammen und fragte die wartenden Steuerpflichtigen: „Haben Sie die blonde, junge Frau gesehen, die eben noch hier war?” Keiner sagte einen Ton, alle glotzten nur wie bayerische Almkühe. Ich wollte gerade weiter rennen, da fragte endlich eine Steuerpflichtige mit Hausfrauenleggins Kaugummi kauend: „Wie sah sie denn aus?” Ich zögerte. Wie sah sie eigentlich aus? Toll, einfach toll! Und dieses Lächeln! Sie hat mich, Hartmut Schminke, dieses armseliges Würstchen, angelächelt! Aber wie konnte ich sie beschreiben?

      „War das diese große Blonde mit der hellen Windjacke?” „Ja, ja!”, sagte ich schnell, „das ist sie!” Wortlos deutete sie mit dem Kopf Richtung Südausgang. Südausgang, das bedeutete, sie würde jetzt durch den Stadtpark gehen in Richtung Busbahnhof. Zum Glück war ich heute mit dem Fahrrad im Amt, weil mein alter Ford Granada mal wieder nicht angesprungen war. Mit dem Fahrrad würde ich sie vielleicht einholen können. Es war nur eine winzige Chance, aber ich musste es versuchen.

      Im Stadtpark waren nur wenige Fußgänger unterwegs. Wenn ich sie jetzt nicht gleich einholte, war alles vorbei. Ich hatte die Hoffnung schon beinahe aufgegeben, da sah ich sie plötzlich von Weitem! Das musste sie sein. Ihre helle Windjacke reflektierte im Sonnenlicht, es bestand kein Zweifel, da ging sie. Mein Puls raste und mir war hundeelend. Hatte die Steuerpflichtige „groß” gesagt? Stimmt! Sie war riesig! Sie war bestimmt einen Kopf größer als ich. Es war Wahnsinn! Sie würde auf mich herunterschauen, meinen Kopf tätscheln, so wie man das bei einem Kleinkind macht, und sagen: „Na, Kleiner, was willst du denn?” Egal, sollte sie machen, was sie wollte. Wie programmiert fuhr ich weiter und zermarterte mein Hirn nach einer Möglichkeit, sie anzusprechen. Ich konnte siedoch nicht einfach überholen und zu ihr sagen: Hallo, ich bin ihr Finanzbeamter und habe mich gerade tierisch in sie verknallt. Nein, ausgeschlossen! Die Begegnung musste wie zufällig wirken. Es blieb mir nichts anderes übrig, als sie erst einmal in einem sicheren Abstand zu verfolgen. Hauptsache, ich wusste, wo sie wohnte. Ich durfte sie jedenfalls auf keinen Fall aus den Augen verlieren. Hoffentlich hatte sie nicht irgendwo ihren Wagen geparkt, dann hätte ich sie nicht einmal mehr verfolgen können. Halt! Ein Auto wäre sogar sehr gut! Anhand des Kennzeichens könnte ich im Finanzamt den Halter ermitteln. Und ich hätte sogar ihre Steuernummer! Ich könnte sie dann sogar wegen eines fadenscheinigen Grundes ins Finanzamt zitieren. Der Gedanke daran ermutigte mich.

      Ich hatte Glück. Sie ging tatsächlich auf direktem Weg zu dem Parkplatz am Rande des Stadtparks und stieg in eine knallrote Ente. Eine Ente – kein ordinärer VW Polo. Beinahe hätte ich nicht auf das Kennzeichen geachtet. BW 95 – sicherlich ihre Initialen. Wahrscheinlich hieß sie Bianca – ein wirklich schöner Name.

      Es war für mich ein Leichtes, im Amt per PC das Kfz-Kennzeichen abzufragen, um ihren Namen und Anschrift herauszubekommen. Bianca hieß Britta und mit Nachnamen Werner. Ich zog mir ihre Akte. Studentin der Sozialwissenschaften mit den Nebenfächern Sport und

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