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Beziehungen gelernt hatte, dann, dass Frauen keine Kumpels und Männer keine besten Freundinnen waren. Das klärte sich spätestens, wenn die Gespräche auf Sport oder Shopping kamen.

      »Haben Sie Geschwister?«, fragte sie ihn plötzlich.

      »Nein, Einzelkind. Und bei Ihnen?«

      »Drei Schwestern«, begann sie mit einem tiefen Seufzer. »Es war nicht immer einfach.«

      »Kommen Sie mir jetzt bloß mit so einer kleinbürgerlichen Schreckensgeschichte.«

      »Sie haben echt das Einfühlungsvermögen eines Hammers.«

      »Aber dafür die Aufnahmefähigkeit eines Ambosses. Na kommen Sie, erzählen Sie schon!«

      Estella musste lachen. »Okay, ja, ich bin in einer kleinbürgerlichen Familie aufgewachsen, und ja, ich wollte schon immer mehr erreichen als nur Kassiererin an einer verstaubten Supermarktkasse zu werden. Nur wie überzeugt man als Zwölfjährige seine Eltern, die beide im Baumarkt arbeiten, auf das Gymnasium gehen zu wollen? Irgendwie habe ich es dann doch geschafft, und als ich alt genug war, auszuziehen, war ich auch schon weg. Ich jobbte neben dem Studium, um mich über Wasser zu halten. Solche Zustände haben Sie sicherlich nie kennengelernt – als Einzelkind.«

      Shanes Miene nahm etwas Melancholisches an. »Nein, solche Probleme habe ich in der Tat nicht gekannt. Wenn Sie mich für so elitär halten, wieso unterhalten Sie sich dann mit mir?«

      »Ich entdecke gerade ein neues Talent an Ihnen«, wich sie der Frage geschickt aus. »Sie verfügen über die Begabung, blitzschnell die Stimmung kaputtzumachen. Patrick meinte, ich solle mich vor Ihnen in Acht nehmen … genau das hat meine Neugier geweckt.«

      »Das Bad-Guy-Phänomen, hm.«

      Shane nutzte den Moment, um in ihren tiefblauen Augen nach der Persönlichkeit zu suchen, die dahinter steckte, denn er hatte den Eindruck, dass sie ihm etwas vormachte. Das hinderte ihn allerdings nicht daran, sie immer anziehender zu finden. Der Alkohol tat sein Übriges, und schon rauschte eine Welle unterschiedlichster Gefühle durch seinen Körper. Es kam nicht oft vor, dass ihn etwas so überrumpelte, und er wollte den Moment auskosten. Innerhalb kürzester Zeit hatte Estella etwas geschafft, woran bis jetzt noch jede Frau gescheitert war: das in ihm zu berühren, was ihn wirklich ausmachte.

      »Es ist sehr … stickig hier drinnen, meinen Sie nicht?«, stammelte er etwas unbeholfen. »Vielleicht sollten wir ein paar Schritte …«

      Sie überlegte einen Moment und nickte dann. »Ich kenne eine schöne Strecke.«

      Draußen hatte es sich deutlich abgekühlt, und ein frischer Wind blies von Nord-Ost. Er reichte ihr sein Jackett, während sie sich in Richtung der Solarkollektoren auf den Weg machten. Die Strecke führte sie außen um den See herum, durch einen kleinen Palmenwald, der von Scheinwerfern farbig angestrahlt wurde. Danach kam eine Rasenfläche, auf der sie stehen blieben, um in den Himmel zu schauen.

      »Die Sterne sind hier viel heller als bei uns in Deutschland«, sagte sie und streckte die Hand aus, als wollte sie einen der strahlenden Himmelskörper einfangen und zu sich heranziehen. »Zum Greifen nah.«

      Shane folgte ihrem Blick. Alltägliches wie Sterne wurden zu etwas ganz Besonderem, wenn man sie mit einem anderen Menschen betrachtete.

      »Ich hatte nie wirklich die Zeit, Dinge zu genießen.« Ein Hauch von Bedauern lag in seiner Stimme.

      »Ich habe einen Weg gefunden, wie ich mich von der Zeit frei machen kann. Einmal im Jahr nehme ich Urlaub und reise an Orte, wo Zeit nur in Form von Sonnenaufgang und Sonnenuntergang besteht. Ohne Uhren lebt es sich mitunter leichter. Wenn man erst einmal das Gefühl abgestreift hat, alles akribisch planen zu müssen, wird die Welt augenblicklich farbenfroher, freundlicher, ja sogar friedlicher. Manchmal wünschte ich, ich hätte vor zweitausend Jahren gelebt. Schade, dass so vieles von dieser Lebenseinstellung verloren gegangen ist.«

      Shane nickte zustimmend. »Als ich noch ein kleiner Junge war, ist mein Vater oft verreist und manchmal durfte ich ihn sogar begleiten. Er brachte mich an zahlreiche außergewöhnliche Orte, und ich bin dankbar, dass ich an seiner Seite so viel lernen durfte. Aber die Erlebnisse waren auch … behaftet.«

      »In welcher Hinsicht?«

      »Mein Vater war Diplomat im Dienst der Queen, ein Weltverbesserer. Ich kam also nicht umhin, die Schattenseiten dieser Länder kennenzulernen. Nicht, dass er mich in direkte Krisengebiete mitgenommen hätte, aber ich habe vieles erlebt, was meine Weltsicht für immer verändert hat.«

      »Es hat dich zu dem gemacht, was du heute bist«, sagte Estella und ging damit zum ›Du‹ über, was Shane nur recht war. Er hasste Höflichkeitsfloskeln, auch wenn sie manchmal notwendig waren, um in entsprechenden Gesellschaftsschichten verkehren zu können.

      »Es gibt Momente, da wünschte ich, dass es nicht so wäre.«

      Estella stand ihm nun genau gegenüber. Sie spürte, dass er etwas zurückhielt.

      »Wie verarbeitest du die Gewissheit, dass die Welt, wie du sie kennst, nicht mehr lange existieren wird?«, fragte er nach einem Moment. »Kannst du dabei ruhig schlafen?«

      »Ich kann nachvollziehen, wie du dich fühlst«, sagte Estella verständnisvoll. »Die meisten Menschen blenden einfach aus, was ihnen Angst bereitet; wir dagegen müssen uns tagtäglich damit auseinandersetzen. Ich für meinen Teil bin für ein Unternehmen tätig, das es sich zur Aufgabe gemacht hat, die Welt zu einem besseren Ort zu machen und unsere Zukunft zu sichern. Ich arbeite hart und wenn ich nach Hause komme, weiß ich, dass ich alles in meiner Macht Stehende getan habe. Dann verbanne ich die Angst aus meinem Kopf und versuche, mein Privatleben zu genießen.

      Ich kenne dich erst seit Kurzem, aber aufgrund dessen, was ich über dich gelesen habe und was Patrick mir über dich erzählt hat, kann ich davon ausgehen, dass auch du hart arbeitest. Du leistest einen wichtigen Beitrag, sorgst für Aufklärung, deine Artikel rütteln die Leute wach, und du hast bereits viel erreicht. Wir können die Zukunft ändern, aber nicht allein. Akzeptiere, was du bist und was du tust.«

      Ihre Worte gaben ihm neuen Mut. Noch bis eben hatte er befürchtet, in eine weitere tiefe Sinneskrise zu verfallen, doch nun erschien ihm alles leichter, in einem neuen Licht. Er hatte seine Ängste mit ihr geteilt, zum ersten Mal einem anderen Menschen offen gesagt, was ihn wirklich beunruhigte; seit Langem konnte er wieder er selbst sein, ein gutes Gefühl, das nicht einmal Chantal, die er wirklich geliebt hatte, in ihm hatte auslösen können. Sie hatte ihn schlichtweg nicht verstanden.

      »Was macht dein Vater heute?« Estella versuchte, das Thema zu wechseln, um ihn aufzuheitern, erreichte aber nur das Gegenteil.

      »Er ist gestorben, vor vielen Jahren.«

      »Tut mir leid, das wusste ich nicht.«

      Ihre Überraschung war echt, obwohl es Shane wunderte, dass Patrick ihr nichts davon erzählt hatte; immerhin hatte Rod zu seinen besten Freunden gezählt, und Estella war seine Nichte. Aber vielleicht hatte sich Shane für wichtiger gehalten, als er es in Patricks Augen je gewesen war. Und dass Rod gestorben war, lag länger zurück als Estella alt war.

      Shane wollte sich nicht weiter damit befassen und verwickelte die Frau stattdessen in ein Gespräch über die jüngsten kulturellen Ereignisse daheim – und sie stellten fest, dass sie beide eine Passion für Theater und Freilichtkinos hegten.

      »Dort vorn ist eine kleine Anhöhe, von der aus man weit über die Kollektorfläche schauen kann«, sagte Estella.

      Sie führte ihn zwischen einer Reihe über ihnen hinwegPalmen hindurch zu einem Zaun, der das Freizeitgelände von den Solarkollektoren abgrenzte. Im Licht der Sterne, das durch den umherfliegenden Sand seltsam surreal verwischt wurde, wirkten die Siliziumkolosse fast ein wenig wie mit Mottengarn umsponnene Bäume, die aus einem Moor ragten.

      Shane deutete auf die riesige Fläche. »Ist das unsere Zukunft?«

      Estella überlegte. »Vielleicht ein Teil von ihr«, entgegnete sie auf verstohlene Weise. »Aber lassen wir die Arbeit für den Moment ruhen.«

      Sie

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