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er sie nicht einfach zertrümmern; fiel eine der Sicherungen aus, wurde das im Kontrollzentrum angezeigt. Shadow würde deshalb präparierte Sicherungen einsetzen, die zwar zum betreffenden Zeitpunkt versagen, vorher aber nicht als defekt angezeigt werden würden. Dabei kam ihm zugute, dass in der Anlage viele experimentelle Technologien zum Einsatz kamen. Niemand würde später mehr mit Bestimmtheit sagen können, was genau zu dem Unfall geführt hatte.

      Shadow erlaubte sich ein kleines Lächeln angesichts der Raffinesse, mit der er vorging.

      Mit seiner Schlüsselkarte, deren Zugriffe glücklicherweise nicht gespeichert wurden, öffnete er den Verteilerkasten. LED-Lampen erwachten zum Leben und erhellten den Arbeitsbereich.

      Er hatte so lange geübt, dass er das Auswechseln der Sicherungen im Schlaf hätte durchführen können, und so nahm das Prozedere lediglich ein paar Sekunden in Anspruch: Überbrückungsgerät anschließen, alte Sicherung ausbauen, neue einsetzen … es war ein Kinderspiel.

      Er war nun fast am Ziel. Bald würde er nach Hause zurückkehren können.

      Shadow blickte hinauf zur Überwachungskamera, die direkt auf ihn gerichtet war und winkte ihr dreist zu – sein eingeschleuster Trojaner II übertrug anstelle der echten Bilder eine alte Aufnahme. Der Trojaner II, eine komplizierte Weiterentwicklung des ursprünglichen Trojaners, war mit Abstand sein bisher bester Einfall gewesen. Das Programm gaukelte dem befallenen System vor, ein einfacher Trojaner zu sein, während es im Hintergrund trotz Entfernung ebenjener Schadsoftware weiterarbeitete. Somit gingen die Netzwerkadministratoren davon aus, die Gefahr gebannt zu haben, obwohl sie weiterhin aktiv war.

      Shadow schraubte die letzte falsche Sicherung ein, schloss den Kasten und verschwand erneut in der Dunkelheit.

      Kapitel 10

      Das Dinner näherte sich dem Ende, was schon anhand der stark gemischten Gefühlsausbrüche festgemacht werden konnte. Zu Beginn hatten sich noch alle diszipliniert verhalten und halbwegs die Etikette gewahrt, doch nachdem die Diskussionen erst einmal in Gang gekommen waren, hatten sich die Gesprächsteilnehmer in unterschiedliche Lager aufgespalten und versuchten nun, das jeweils andere von ihren Idealen und Vorstellungen zu überzeugen. Hochrote Köpfe und drohende Zeigefinger waren die Folge.

      Thalia Morgans bebende Unterlippe verriet, dass sie Meier am liebsten quer über den Tisch mit einem Stück ›Tart au chocolat‹ beworfen hätte – was vermutlich jeder gern getan hätte, selbst Crosswind, der als republikanischer Energiepolitiker noch annähernd auf Meiers Seite stand. Er war der einzige Amerikaner in einer Gruppe aus Europäern, was wahrscheinlich daran lag, dass Hawkes Enterprises seinen Hauptsitz in Deutschland hatte und vor allem auf europäischen Märkten führend war.

      Shane schüttelte den Kopf, als er Meier puterrot anlaufen sah. Der Mann war schon immer unangenehm gewesen, doch heute setzte er dem Fass die Krone auf. Es schien, als stünde er unter noch größerem Druck als sonst, und das ließ ihn unvorsichtig werden, was man von ihm nicht gewohnt war. Sein Assistent – wie hieß er doch gleich? – flüsterte ihm etwas ins Ohr, woraufhin er sich wieder ein wenig beruhigte.

      Shane hatte allmählich keinen Nerv mehr, den Gesprächen zu folgen, geschweige denn, sich selbst daran zu beteiligen. Ihm stand jetzt der Sinn nach Abwechslung. Tagein, tagaus wurde sein Leben von Wirtschaftskomplotten, der Aussichtslosigkeit der Energiepolitik und anderen wirtschaftspolitischen Scharmützeln geprägt, und es wäre gelogen, würde er behaupten, dass es ihn nicht belastete. Wenn man sich der Problematik und den daraus zeitigenden katastrophalen Folgen erst einmal bewusst war, suchte einen zwangsweise die Angst heim. Die Ressourcenknappheit war kein fernes Schreckensgespenst, von dem zukünftige Generationen betroffen sein würden, sondern eine ganz reale Bedrohung im Hier und Jetzt. Selbst Shane, der mehr Tage hinter als vor sich hatte, könnte noch miterleben, wie die Infrastruktur zusammen- und das Chaos ausbräche. Wo es keine Energie mehr gab, konnte der gewohnte Lebensstandard nicht mehr aufrechterhalten werden.

      Derlei Prognosen konfrontierten Shane stets aufs Neue mit seiner eigenen Sterblichkeit. Was, wenn das Klima plötzlich total umkippte und eisige Stürme Europa heimsuchten oder Vulkanausbrüche das Land verwüsteten? Es gab unzählige Szenarien, die denkbar waren, und fast alle gingen schlecht aus: schlecht für die Menschheit.

      Mit einer kurzen Entschuldigung verabschiedete er sich von Mrs. Blinow, die ihm freundlich zuzwinkerte und verließ den Saal. Die Diskussionen waren so hitzig und der Geräuschpegel so hoch, dass ihm niemand Beachtung schenkte.

      Er atmete erleichtert auf, als er die Tür hinter sich geschlossen hatte und durch die große Empfangshalle wanderte, wo ihn angenehme Stille einhüllte. Ein paar Dienstmädchen warfen ihm vom Tresen aus heimliche Blicke zu und als sie dachten, er würde sie aus den Augenwinkeln nicht mehr sehen, tuschelten sie leise miteinander.

      Sein Zimmer lag im ersten Stock, doch er nahm nicht die Treppe nach oben, sondern nach unten, wo sich ein kleines Spielcasino und die Bar befanden. Es fühlte sich seltsam an, allein durch die Gänge zu spazieren. Alles wirkte so leblos – was sich in Zukunft ändern würde, sobald sich hier haufenweise Touristen tummelten.

      Shane hatte nicht damit gerechnet, die Bar geöffnet vorzufinden, aber anscheinend gab es einen Säufergott, der seine Gebete erhörte. Er trat ein und sah sich erst einmal um.

      Ja, das war nach seinem Geschmack: ein lauschiges Plätzchen mit vielen Séparées, einem langen, stilvoll geschwungenen Bartresen und edlem Echtholzparkett. Im Hintergrund plätscherte ein Springbrunnen, das Licht war gedimmt und aus den Deckenlautsprechern rieselte dezente klassische Musik.

      Shane setzte sich auf einen der Barhocker und gab dem jungen Barkeeper einen Wink.

      »Sagen Sie, haben Sie Balvenie vorrätig?«

      »Bedauere, Sir.« Der junge Mann suchte sicherheitshalber die langen Reihen funkelnder Whiskyflaschen ab, schüttelte dann aber den Kopf.

      »Wie steht es mit Glenmorangie?«

      Die Mundwinkel des Barkeepers schnellten nach oben. »Ich habe eine Flasche Jahrgang 2009.«

      Shane nickte zufrieden und sah zu, wie sich die bernsteinfarbene Flüssigkeit in seinem Glas verteilte.

      Der Barkeeper beugte sich ein wenig vor. »Wenn Sie mich fragen, kommt die leichte Vanille-Note erst durch den Oloroso Sherry wirklich zur Geltung.«

      »Oh, Sie sind ein Kenner, angenehm erfreut!«, sagte Shane beeindruckt.

      »Einen Gast, der zu mir in die Gruft hinabsteigt, während oben die Party in vollem Gange ist, muss man angenehm erfreuen.« Es lag weder Zynismus noch sonst eine Spur von Ironie in seinen Worten, nur Verständnis für Shanes Situation.

      Der Geschmack des Whiskys und die gediegene Atmosphäre ließen Shane allmählich zur Ruhe kommen. Seine Gedanken hörten auf zu kreisen und eine wohlige Wärme breitete sich in seinem Bauch aus.

      »Hier stecken Sie also«, sagte plötzlich eine vertraute Stimme, und Estella Meinhard ließ sich neben ihm auf einem Barhocker nieder.

      Shane musterte sie von der Seite. »Sollten Sie nicht da oben sein?«, fragte er ein wenig schelmisch und deutete auf die Decke. Andererseits überraschte es ihn nicht, sie hier zu sehen. Im Speisesaal schlugen sich in diesem Moment wahrscheinlich alle die Köpfe ein.

      »Wer im Glashaus sitzt …«

      »Schon gut, schon gut«, sagte Shane beschwichtigend. »Besorgen wir Ihnen erst einmal einen Drink!«

      ***

      »Sie sind ganz schön gesprächig für jemanden, der mich gestern noch am liebsten in den Wind gestoßen hätte.«

      »Sie hören nur nicht zu«, entgegnete Estella. »Ich sagte lediglich, dass ich noch einiges zu tun hätte.«

      »Ja, stimmt, das sagten Sie.« Shane prostete ihr zu.

      Er war gleichermaßen überrascht wie erfreut, dass sie bei ihm an der Bar geblieben war. Estella fühlte sich von seiner unverblümten Art offensichtlich weder abgestoßen noch schien sie davon sonderlich beeindruckt. Nach drei Drinks

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