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      Das hat die Tochter von ihren Eltern oft zu hören bekommen: Gott liebt die lieben Kinder; die Bösen aber straft er. Mindestens mit Nichtbeachtung. Also Liebesentzug.

      Die Tochter hat im Elternhaus auch Demut gelernt. Nur ja nicht hochmütig werden! Nur ja nicht zu früh mit sich zufrieden sein! Sich immer bewusst sein, dass es gewiss andere gibt, die besser sind als man selbst, deren Können und Leistungen besser sind als die eigene. Sich immer bewusst sein, dass auch man selber, wenn man sich nur genügend Mühe gibt, immer besser werden kann. Und muss! Sich nur ja nicht über eine schöne eigene Leistung freuen. Denn das macht hochmütig. Das macht bequem. Und träge. Und – eben! – nur ja nicht vor lauter Freude vergessen, dass es keine Leistung gibt, die so gut ist, dass man sie nicht noch verbessern, übertreffen könnte.

      Ja, das hat diese Tochter begriffen. Darum ist sie eine gute Tochter. Eine von Gott und der Mutter geliebte Tochter. Sie hat den rechten Geist. Man kann stolz sein auf sie.

      Die Tochter wäre oft gern allein, am Abend, wenn sie todmüde heimkommt. Nach Überstunden. Von Sitzungen, an denen sie ehrenamtlich teilgenommen hat. Manchmal sehnt sie sich schon danach, zusammen mit Freundinnen in den Ausgang zu gehen. Aber sie hat keine Freundinnen. Sie hat nur Arbeitskolleginnen. Die sie sehr schätzen! Was man sich erhalten muss! Da muss man sich anstrengen! Sie hätte gern einen Freund. Sie war schon oft verliebt. Aber gestanden hat sie es keinem. Sie läge gern abends in den Armen eines Mannes. Sie würde sich gern liebkosen lassen, sich gern liebe Worte sagen lassen. Sie sehnt sich sehr nach Sex. Nach ihren anerzogenen Massstäben geradezu unanständig! Sie ist mit Masturbation nicht zufrieden; sie ist mit sich selbst nicht zufrieden, wenn sie es tut; sie findet sich dann unbeherrscht und unsauber. „Es“ wäre von ihr aus gesehen besser mit einem Mann, einem Ehemann natürlich. Aber da ist die Mutter. Um die muss sie sich kümmern. Es wäre nicht recht vor Gott und würde diesen traurig oder gar zornig machen, wenn sie es nicht täte. Es muss ja nun einmal sein, dass sie das macht. Wer denn sonst täte es? Die Geschwister haben Kinder und schliesslich auch viel zu tun, leben weit entfernt. Also macht sie es. Die Mutter, die Geschwister, sie lieben sie dafür. Es geht schon.

      Es muss ja gehen. Also geht es.

      Ihre Leistungen schätzt sie nicht sehr hoch ein. Mit diesen Leistungen genügt sie nicht, dessen ist sie sicher. Sie ist auch nie sicher, ob sie die Leistung, die man von ihr erwartet, wird erbringen können. Versagensängste sind zwar nicht ihr tägliches, aber doch ein ihr wohlbekanntes „Brot“. Und hat sie eine Leistung erbracht, für die der Chef sie lobt, die Kolleginnen und Kollegen sie bewundern („Mein Gott, wie peinlich mir das ist!“, ist dann meist ihr Gedanke), so kann sie sich nicht daran freuen. Denn wenn man sich zu sehr daran freut, dann hebt man ab und bringt beim nächsten Mal die Leistung nicht! Oder dann wird man hochmütig und dafür von Gott mit Scheitern bestraft. Und vielleicht geht ohnehin beim nächsten Mal alles schief, was bis jetzt unerwarteter und wundersamer Weise gut gegangen ist. Und wenn man die Leistung nicht erbringt, dann verliert man die Anerkennung. Die des Chefs. Die der Kolleginnen und Kollegen. Und wohl auch die Gottes. Und wenn man nicht jederzeit einsatz- und hilfsbereit ist, dann muss man mit Liebesentzug rechnen. Liebesentzug des Chefs, der Kolleginnen, der Kollegen – und sicher auch Gottes. Davor fürchtet sie sich. Trotz dieser Furcht, jenu: Es geht schon.

      Es muss ja gehen. Also geht es.

      An diesem Tag lässt der Chef sie nicht zu sich bestellen, sondern sucht sie an ihrem Arbeitsplatz auf. Es gebe da eine relativ heikle Sache zu erledigen. Er erklärt diese kurz. Da müsse ein Mitarbeiter hin. Unbedingt. Und ihm komme wieder einmal niemand sonst in den Sinn als sie.

      „Oh“, sagt sie, „das kann ich doch nicht! Da wäre ich überfordert.“

      „Ach“, erwidert der Chef lächelnd, „das sagen Sie jedes Mal. Sie betreiben understatement. Oder trauen sich tatsächlich zu wenig zu. Das müssen Sie nicht. Sie sind eine gute Kraft!“

      Da hört sie sich fragen: „Warum fragen Sie eigentlich immer mich?“ Sie erschrickt über ihre eigenen Worte. „Unbotmässigkeit!“, dieses Wort geht ihr geradezu schneidend durch den Kopf. Der Chef lächelt und dann kommt ihm ein Satz über die Lippen, den er eigentlich gar nicht hat sagen wollen: „Man muss halt immer die Dummen fragen, die nicht Nein sagen können.“ Kaum sind die Worte heraus, erschrickt er über sie und bedauert er sie. „Entschuldigung“, schiebt er rasch nach, „das sollte ein Scherz sein. Ein Witz! Es war ein sehr schlechter Witz.“

      Sie lächelt und sagt ohne die geringste Hemmung und ohne verlegen zu werden – sein Bekenntnis, es sei ein schlechter Witz gewesen und seine Entschuldigung dafür geben ihr die Kraft dazu – sagt sie: „Das von wegen, man müsse immer die Dummen fragen, habe ich dann jetzt sehr gut gehört, Herr Doktor G. Und darum: Nein!“ Sie fühlt sich merkwürdig erleichtert.

      „Liebe Frau …“, versucht der Chef noch einmal.

      Aber „Nein“, sagt sie, „es bleibt beim Nein!“

      Der Chef lacht kurz laut auf.

      „Gut gekontert!“, grinst er dann. Und lacht nochmals laut vor sich hin. Dann sagt er: „Also gut. Muss ich mir halt jemand anderen suchen. Sie haben ja Recht, mein Gott!“ Er berührt leicht ihre Schulter und begibt sich wieder in sein Büro zurück. An der Tür dreht er sich nochmals um, hebt grüssend die Hand, schüttelt lachend den Kopf: „Einen schönen Feierabend wünsche ich Ihnen“, sagt er, lacht nochmals auf und verschwindet in seinem Büro.

      Sie ist ungeheuer erleichtert. Dass sie sich eine Zusatzaufgabe hat vom Leibe halten können, das ist eine befreiende Erfahrung und tut ihr gut. Dass sie nicht mit Anerkennungs- und Liebesentzug bestraft wurde, freut sie. Und sie weiss, dass sie richtig geantwortet hat, endlich einmal richtig, so, wie es ihren Empfindungen und Bedürfnissen entspricht. Wenn sie mit Liebesentzug bestraft worden wäre, hätte sie dann jetzt wohl Angst? Sie vermutet eher nicht, sie wäre dennoch erleichtert. Dass sie nicht mit Liebes- und Anerkennungsentzug bestraft wurde, sagt ihr, dass der Chef sie wirklich schätzt. Vielleicht, weil sie beruflich besser ist als sie selbst glaubt? Sie summt eine Melodie vor sich hin, als sie am Abend ihre Wohnung betritt. Und merkt es nicht einmal. Die Mutter spricht sie darauf an. Und sie berichtet der Mutter das Vorgefallene.

      Die Mutter fällt aus allen Wolken: „Kind, wie konntest du das tun? Bist du denn von allen guten Geistern verlassen?“

      „Nein“, sagt die Tochter, „ich habe eher das Gefühl, die bösen Geister haben mich verlassen, hoffentlich für immer. Und jetzt erst – erst jetzt! –, Mutter, bin ich wirklich auf der Wellenlänge der Geist Gottes, die Menschen nicht schindet und treibt, sondern die eine Geist der Freiheit ist. Und des Lachens!“

      Die Mutter staunt mit offenem Mund.

      „Hoffentlich ist das nicht bloss ein kurzes euphorisches Strohfeuer, was ich jetzt erlebe“, denkt die Tochter, „die Welt sieht auf einmal so heiter aus, hoffentlich folgt dem nicht etwas Dunkles, ein Absturz, auf dem Fusse.“

      Aber trotzig sagt sie dagegen an: „Stopp!“ Das nennt man Gedankenstopp, ein autosuggestives Gegenmittel gegen negative Gedanken. Das hat sie in einem Buch gelesen. Es ging darin um Biblisch-Therapeutische Seelsorgeausbildung.

      „Ich sollte einmal etwas für mich tun“, denkt sie und nimmt sich vor, sich einmal einen Kurs zu gönnen, der ihr gut tun wird, dessen Besuch keinen anderen Zweck haben soll als eben diesen.

      Als sie sich wieder ihrer Mutter zuwendet, lacht sie ein, wie ihr scheint, Geistes gegenwärtiges Lachen, das sogar auf die überraschte Mutter ansteckend wirkt.

      Ein Mann geht durch die Stadt.

      Den Kopf hält er gesenkt. Auf seiner Stirn stehen steile Falten. Sie ist umwölkt.

      Der Mann hat ein Ziel. Dennoch wirkt er ziellos.

      Er wirkt ziellos, weil ihn das Ziel, das er hat, keinen Deut interessiert. Er ist zu seinem Ziel verpflichtet. Nur darum hat er es.

      Leer fühlt sich der Mann.

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