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dieser gern, die „Güetzi“ nicht, denn Essen ist ihm zuwider; wie alles, im Moment; die Depression raubt ihm neben der Lebenslust auch den Appetit.

      „Genug von mir geredet, Herr Pfarrer!“, befindet Frau Trummer.

      „Wie geht es eigentlich Ihnen?“

      „Och, eigentlich ja gut, wenn nur die liebe Seele nicht manchmal so spinnen würde“, versucht der Pfarrer zu scherzen. Und merkt im gleichen Moment, wie lahm dieser Scherz ist und wie kraft- und witzlos. Aber er ist schliesslich als Seelsorger gekommen und will nicht Frau Trummer mit seinen Problemen belasten. Er kann doch nicht sich selbst und seine gegenwärtige Situation zum Thema machen. Das wäre ja unprofessionell und hiesse ja, Frau Trummer geradezu zu missbrauchen.

      Aber er kann nicht verhindern, dass Frau Trummer ihn behutsam in ein Gespräch hineinzieht, in dem zunehmend sie die Seelsorgerin ist und ihn bewegt, seine Probleme auszusprechen.

      Zunächst bemerkt er gar nicht, was da abläuft, so getrübt ist sein Blick und so zuvorderst sind ihm seine Gedanken zu seinem Gemütszustand. Als er es aber dann doch bemerkt, blockt er ab. Er entschuldigt sich bei Frau Trummer. Das sei jetzt nicht recht, sie auch noch mit seinen Problemen zu belasten, schliesslich habe sie selber deren genug, erklärt er tieftraurig. Er fühlt sich als fertiger Versager.

      „Das ist schon in Ordnung“, sagt Frau Trummer nach kurzem Überlegen, er müsse sich nicht entschuldigen, „schliesslich habe ja ich verursacht, dass unser Gespräch in diese Richtung gelaufen ist!“

      „Ja, aber ich bin doch der Seelsorger“, sagt der Pfarrer matt.

      Ohne zu zögern, geistesgegenwärtig, erwidert Frau Trummer: „Ja. Und? Jetzt haben wir halt für einmal die Rollen getauscht. Wo ist das Problem? Sind wir nicht Brüder und Schwestern, die sich umeinander kümmern sollen? So heisst es doch immer, oder? So fromme Sprüche gehen mir zwar nur schwer über die Lippen. Aber wenn wir das mit dem Christsein auch nur ein bisschen ernst nehmen, dann müssen wir doch so handeln. Muss denn immer nur der Pfarrer der Gemeinde etwas geben? Wäre das christlich? Darf es nicht auch umgekehrt sein? Jetzt bin halt einmal ich Ihre Seelsorgerin gewesen. Beim nächsten Besuch sind dann vielleicht wieder Sie so gut „z’wäg“ (zu Wege = gut drauf), dass wieder Sie mein Seelsorger sein können. Oder dass wir einfach sonst miteinander reden. Auf Augenhöhe. Partnerschaftlich. Gefällt mir übrigens besser als das fromme ‚als Bruder und Schwester’.“

      Leidenschaftslos und sachlich tönt das. Typisch Frau Trummer. Und ist doch nicht ohne Wärme gesagt.

      „Aber ig by haut glych zaut derfür.“ (Aber ich werde halt gleichwohl dafür bezahlt), bewegt sein schlechtes Gewissen, sein Gefühl, hier versagt zu haben, den Pfarrer kraftlos zu erwidern, und darum müsse er doch …

      „Herr Pfarrer, gäuitt, daisch jitz aber nid Öich gsy, wo das gseet het?! (Herr Pfarrer, nicht wahr, das sind aber jetzt nicht Sie gewesen, der das gesagt hat?!)“, tadelt Frau Trummer ihn leise, eine solch materialistische Äusserung sei doch sonst nicht sein Ding; das sei ihr fremd an ihm.

      Nun muss der Pfarrer doch auch ein bisschen, wenn auch matt, lächeln, trotz der Betrübnis, die ihn ausfüllt.

      „Naja, vielleicht sollte ich mich irgendwie für Ihren Dienst an mir erkenntlich zeigen“, druckst er.

      Plötzlich ist ein ganz ungewohntes lausbübisches, verschmitztes Lächeln in Frau Trummers herbschönem Gesicht. Und wie aus der Pistole geschossen kommt ihre Replik: Sie setzt ganz bewusst einen Satz ein, um quasi den Pfarrer zu „entwaffnen“, einen Satz, der ihr gerade spontan in den Sinn gekommen ist, einen Satz, den sie aus des Pfarrers Mund etwa einmal gehört hat, wenn sie ihn gefragt hat, ob sie ihm nicht für seine treue Begleitung während des Krankenlagers ihres Mannes einmal etwas „z’lieb“ (zuliebe) tun könne, den Satz nämlich: „Tun Sie’s in die Kollekte!“

      Unwillkürlich entfährt dem Pfarrer ein spontaner, kurzer, verhaltener Lacher. Und als Frau Trummer daraufhin in lautes Lachen ausbricht (so hat sie der Pfarrer noch nie erlebt!), lacht auch er kräftiger, befreiter.

      Für den Moment fühlt er sich leicht und geborgen. Nicht mehr von Gott und dessen guter, heiliger Geist verlassen.

      Freilich: Dieser Zustand hält nicht an. Schon kurz nach dem Abschied von Frau Trummer, bei seiner Heimkehr, als auch die Heimfahrt mit dem Velo ihre therapeutische Wirkung langsam wieder verliert, beginnt das trübe Gewölk der Depression, zäh und giftfarben, den Pfarrer wieder auszufüllen. Erst Monate später wird er, plötzlich, unversehens, aus seiner Depression auftauchen in die grosse Erleichterung wie in ein heimeliges, wärmendes Licht, und seine Depression wird so unvermittelt gegangen sein, wie sie vor Monaten gekommen war.

      Er wird sich immer dessen bewusst bleiben, dass nicht zuletzt der „Rollentausch“ mit Menschen, in denen die Geist Gottes gegenwärtig war, ihm in seinem Pfarrerleben oft geholfen hat: Der „Rollentausch“ mit Menschen wie Frau Trummer.

      Sie ist eine tüchtige Kraft. Ihre Kollegen schätzen ihren Teamgeist, ihren Humor, ihre Menschlichkeit, ihre Zuverlässigkeit: Was sie zusagt, führt sie aus und hält sie ein; man schätzt auch ihre Hilfsbereitschaft. Niemand denkt daran, dass diese in einer Selbstunsicherheit begründet sein könnte. Dass sie etwa meinen könnte, Anerkennung und Liebe gewinne man nur, wenn man jederzeit als „Chummerz’hiuf“ (Komm-mir-zu-Hilfe) zur Verfügung stehe. Jedermann lobt ihre Hilfsbereitschaft und verlässt sich auf sie – und niemand fragt sich, ob er damit, dass er sich in „schöner Selbstverständlichkeit“ auf sie verlasse, sie nicht in Tat und Wahrheit ausnütze. Und damit dazu beitrage, dass sie sich irgendwann an ihrer Hilfsbereitschaft übernehmen, „überlüpfen“ werde.

      Manchmal ärgert sie sich über die eigene Kollegialität und Hilfsbereitschaft. Warum immer ich? Warum fragen alle immer nur mich um Hilfe? Manchmal fühlt sie sich eingeengt, gefangen in all den ihr auf diese Weise zugewachsenen Aufgaben, die sie ja eigentlich gar nicht übernehmen müsste. Manchmal sehnt sie sich nach mehr weitem Raum um sich her, nach Luft zum Atmen. Aber dann lässt sie sich doch wieder auf Hilfsbegehren ein, lässt sich belasten. Es „geht“ ja dann doch auch immer wieder.

      Es muss ja gehen. Also geht es.

      Der Chef schätzt ihre Kompetenz, ihren Einsatz, ihre Teamfähigkeit. Immer „liegt sie im Strick“ (setzt sich voll ein). Immer ist sie bereit, Zusatzaufgaben zu übernehmen, auch Ehren- und Nebenämter im Betrieb. Wenn niemand es machen will, sie macht es. Nicht immer begeistert, gewiss, meist traut sie sich’s ja auch nicht zu, aber einer müsse es ja schliesslich machen, pflegt sie sich zu sagen. Also macht sie es. Das anerkennt der Chef. Sehr! Manchmal ist er aber auch besorgt deswegen. Betreibt sie nicht Raubbau mit ihrer körperlichen und seelischen Kraft? Müsste sie sich nicht mehr Ruhe und Entspannung gönnen? Aber ein wenig denkt er dabei auch an sich und seinen Betrieb! Denn: Wird nicht auf Dauer ihre Leistung abnehmen, werden nicht auf Dauer ihre Arbeitsergebnisse schlechter werden, wenn sie sich immer so verausgabt? Aber das sagt er ihr nicht. Es ist für ihn bequemer, wenn er es nicht sagt. Wenn sich seine Befürchtungen erfüllen würden, wenn ihre Leistung abnähme, ihre Arbeitsergebnisse schlechter würden, dann würde er es ihr wohl sagen. Aber vorerst nicht. Er profitiert ja von ihrem Einsatz. Ihr gegenüber nennt er ihn „unermüdlich“. Oft nennt er sie „unermüdlich“. Manchmal freilich – was er ihr nicht gesagt, was man ihr aber überbracht hat – argwöhnt er hingegen auch, dass sie möglicherweise doch weniger kompetent sein könnte als es den Anschein hat, dass sie vielleicht mit Hilfe ihres Einsatzes über Kompetenzdefizite hinwegtäusche.

      Unermüdlich, manchmal gesteht sie es sich ein, ist falsch! Sie ist nicht unermüdlich. Sie fühlt sich oft müde und ausgebrannt. Aber sie beisst sich durch. Es muss ja gehen. Also geht es.

      Daheim schaut sie zu ihrer Mutter. Diese nennt sie „eine gute Tochter“. Manchmal betont sie sogar, dass sie „besser herausgekommen“ (besser geraten) sei als die anderen Kinder, die leider oft egoistisch seien und leider auch vergessen hätten, was sie, die Mutter, für sie geleistet habe. Diese Tochter sei eben

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