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lassen. Es kam durchaus vor, im Sommer, dass die „Frau Lehrer“ plötzlich ins Klassenzimmer hereinplatzte und halblaut aber dringlich dem Manne zurief: „Die Bienen schwärmen!“ Das freute uns, denn darauf folgte stets eine willkommene Unterbrechung des Unterrichts. Der Lehrer musste sogleich hinaus, sehen, wohin sich der Schwarm bewegte, wo er sich niederließ, wie man ihn wieder einfangen könne. Zeigte sich Ungewöhnliches, holte er uns heraus, damit wir draußen beobachten und miterleben konnten, was da an Besonderem passierte. Mit der Zeit kannten wir uns in der Welt der Bienen ganz gut aus. Wenn unser Lehrer sonntags Honig geschleudert hatte, durften wir montags vom Resthonig kosten, der noch an Waben oder Gerätschaften haftete. So bezog er uns ein in seine Bienen- und Gartenwirtschaft, um uns praktisch zu unterweisen, vor allem aber, um uns gleichzeitig als Helfer zu seinem Nutzen zu gebrauchen.

      Das alles war für uns Kinder wie für die Erwachsenen im Dorf selbstverständlich. Das durfte der Lehrer! Und warum auch nicht. So begütert war er nicht; und man sagte auch, manche Bauern trügen ihm in der Dunkelheit Geschlachtetes in die Wohnung. Aus Dankbarkeit – oder aus Berechnung? – Wie auch immer, für meine Eltern kam so was auf Grund eigenen Mangels gar nicht in Frage, und ich brauchte das nicht.

      Unser Lehrer Otto L. – ich sehe ihn vor mir – er fuhr kein Auto, keine Pferdekutsche wie die besser gestellten Bauern, auch kein Fahrrad wie wir Dreizehnjährigen – er lief zu Fuß! Überall hin, auch wenn es sein musste, in die nah gelegene Kreisstadt, immer mit dem Stock in der Hand, hustend und prustend und eilig drauflos. Zu beliebigen Besorgungen schickte er gelegentlich den einen oder anderen älteren Schüler. Ich erinnere mich, dass ich für ihn auf die Sparkasse im Rathaus gehen und einmal auch einen neuen Rohrstock in der Papierhandlung Hubrig kaufen musste. Ich weiß noch: Der Verkäufer hatte mir den Stock grinsend vor’s Gesicht gehalten und mich gefragt: „Ist das der Richtige?“

      Ich glaube, in den Anfangsjahren der Naziherrschaft vermied unser Otto in die Stadt zu gehen. Als er dann die braune Uniform trug, musste er wohl öfter hin, als ihm recht war. – Später, selber als Lehrer im „Staatsdienst“ und ebenso Zwängen ausgesetzt, habe ich mich manchmal rückblickend, meinen kindlichen Eindrücken von einst folgend, nach der politischen Position und Haltung unseres Lehrers Otto L. gefragt. Von seinen Erzählungen im Unterricht damals konnten wir natürlich so manches über seine Person erfahren. Aus Westpreußen stammend, ich glaube von Dirschau, war er nach Studium und Teilnahme am 1. Weltkrieg nach Schlesien gekommen und hier als Dorfschullehrer eingesetzt worden. Leutnant und Zugführer, vor allem aber Träger des „Eisernen Kreuz’ I. Klasse“, und dann und wann Berichte von harten Frontkämpfen – das kannten wir zur Genüge. Er trug sein EK I mit Stolz am Schwarzen Rock wie auch an seiner braunen Uniformbrust, das war nicht zu übersehen. Er konnte auch flammende Reden halten – bei Schulfeiern oder öffentlich im „Gerichtskretscham“. Seine kämpferische Begeisterung verspürten wir, wenn er uns patriotische Gedichte vortrug, die wir dann auch lernen sollten oder mussten, wie „Die Fahne der Einundsechziger“ oder „Der Todesritt von Mars-la-Tour“. Dann auch Gedichte der „neuen Bewegung“ von Heinrich Annacker. – Ich würde meinen, wie auch mein Vater sagte: Unser Lehrer war ein „Deutschnationaler“. Doch das änderte sich wohl im Laufe der ersten Nazijahre.

      Anfangs, vielleicht bis 1934, begannen wir täglich den Unterricht mit einem Morgengebet und mit der ersten Strophe eines Kirchenliedes. Bald wurde das fallengelassen. Anstelle des christlichen Rituals trat ein neues, ein politisches. Zunächst bestand es darin, dass zu Beginn der Woche ein in einem Wechselrahmen an der Wand lesbarer „Wandspruch der Woche“ gemeinsam gelesen und danach entsprechend interpretiert und besprochen wurde. Zum Beispiel: „Es ist nicht nötig, daß ich lebe, wohl aber daß ich tätig bin.“ (Friedrich der Große) Also jede Woche ein neuer Spruch, als Autor immer öfter: Adolf Hitler! Eines Tages wurden wir Zeuge, wie man am Eingang zum Schulgrundstück ein Fundament mit Halterung und Fahnenstange montierte. Gar bald wussten wir wozu. Am Anfang der Woche fand nun vor jener Fahnenstange ein „Fahnenappell“ statt. Einer von uns Schülern musste den Wochenspruch laut vorlesen, danach sangen wir gemeinsam ein „politisches Lied“, meistens „Auf hebt unsre Fahnen, in den frischen Morgenwind, lasst sie wehn und mahnen, … “ Dann folgte das Kommando: „Heißt Flagge!“ Und einer musste die Hakenkreuz-Fahne hochziehen. Wir fanden das nicht besonders interessant, zumal das Wetter nicht immer mitspielte. Zeitweise oder im Winter fiel der Appell auch aus.

      Eine Steigerung dieses politischen Auftaktes zu Beginn der Woche ergab sich, wenn wir Jungen wie auch die Mädchen zu diesem Appell, zum Beispiel in der so genannten Uniformwoche, am Montag in Hitlerjugend-Uniform erscheinen mussten. Auch unser Otto trat dann in brauner Parteiuniform vor uns. Aber ich meine, dass er sich bei dieser neuen Zeremonie zu Wochenbeginn nicht besonders ins Zeug legte. Er überließ das Ganze eher uns Jungvolk-Funktionären, ließ es abrollen, und korrigierte lediglich, wenn etwas erlahmte. Ich weiß nicht, ob unser Lehrer auf Dauer ein richtiger Nazi geworden ist. Wenn ich daran denke, mit welcher Inbrunst er an einer eigens für dieses Thema hergestellten Wandkarte uns „die Schmach von Versailles“ erklärte, dann stimmte er hier natürlich mit dem Hitler-Programm überein. Seine Parteizugehörigkeit, seine Uniform trug er meines Erachtens mit Zurückhaltung. Mir schien: Das wichtigste Gesinnungsmerkmal an seiner Parteiuniform war sein Eisernes Kreuz I. Klasse! So war er ganz gewiss einer der konservativen Deutschnationalen, deren Partei und Mitgliedschaft im März 1933 dem „Ermächtigungsgesetz“ zugestimmt und die als Treudeutsche oder Preußischdeutsche die Hitlersche Revision der Weltkriegsniederlage sowie Hitlers „Schaffung des Großdeutschen Reiches“ 1938 unterstützt hatten.

      Kennzeichnend für seine Grundhaltung, so glaube ich, war sein beliebtes Aufsatzthema: „Was mir mein Vater aus seiner Kriegszeit erzählte“. Meinen Aufsatz unter dieser Überschrift hatte er in einem Elternabend vorgelesen. Wahrscheinlich haben ihm meine kriegsgeschichtlichen Kenntnisse zugesagt.

      Seine Beziehung zu mir war normal. Nun ja, als Klassenerster genoss ich sicher sein Vertrauen, auch sein Wohlwollen, aber dass ich auch Jungvolkführer im Dorf war, hat er nicht sonderlich honoriert. Ich glaube, er schätzte mein auffälliges Interesse für Geschichte, meine Belesenheit in Erdkunde und meine lebendige Neugier auf alles, was so um uns herum und anderswo passierte.

      Einmal gab es einen Bruch in meiner Schüler-Lehrer-Beziehung. Davon will ich erzählen: Wie schon gesagt, wir waren ja ein Dorf ohne Kirche und ohne Pfarrer, und auch der Friedhof fehlte! Wenn jemand starb, musste er demnach auf dem Friedhof in der 3 km entfernten Kreisstadt beigesetzt werden. Die Leiche, zwei–drei Tage zu Hause gehalten, wurde am Beerdigungstag meist im Hausflur aufgebahrt, dann im Beisein der ganzen Trauergesellschaft per Leichenwagen in die Stadt gefahren und auf dem dortigen Friedhof während einer christlichen Trauerfeier beigesetzt. Vor der Abfahrt des von Pferden gezogenen Leichenwagens spielte vor dem Haus eine dörfliche Trauerkapelle, und ein Begräbnischor sang Trauerlieder. Zu diesem Begräbnischor gehörte ich drei Jahre lang, mit anderen Jungen und Mädchen der Dorfschule, etwa 12 oder14 insgesamt. Unser Lehrer leitete diesen Chor, er übte vorher mit uns, meist nach Unterrichtsende in seinem Wohnzimmer, wo er mit Hilfe des Klaviers uns zu führen gedachte, den „Ton zu halten“. Es waren immer die gleichen Lieder, aber sie mussten wieder in Erinnerung und vor allem wieder auf musikalisches Niveau gebracht werden. Das war langweilig für mich, obwohl ich, zur „zweiten Stimme“ eingeteilt, überprüfende Übungen am ehesten nötig hatte. Immerhin, als zweite Stimme erhielt ich 35 Pfennig für eine Beerdigung, die Sänger der ersten Stimme bekamen nur 25. Jedenfalls sangen wir fünf oder sechs Lieder: zwei am Haus des Toten, vielleicht „So nimm denn meine Hände … “; unterwegs, im Leichenzug zur Stadt, sangen wir dann im Wechsel mit den Bläsern noch weitere zwei, drei oder vier Lieder, strophenweise und wiederholend, am Grab auch noch eins, vielleicht „Jesus meine Zuversicht … “

      So, und nun kann ich endlich erklären, warum ich in Schwierigkeiten geriet zu meinem Lehrer, hier als Chorleiter, der mit uns an der Spitze des Trauerzuges schritt: Nach Ende der Beisetzung auf dem städtischen Friedhof entließ uns unser Otto nicht ohne uns aufzufordern, „unverzüglich und anständig“ in unser Dorf zurückzukehren. Aber so unverzüglich wollten wir das nicht. Da gab es in der Stadt Gelegenheiten, dies und jenes zu erkunden; oder es bestand sogar Anlass, eine interessante Kleinigkeit käuflich zu erwerben, vorausgesetzt, man hatte das nötige Kleingeld in der Tasche. Damit waren die Bauernkinder besser ausgestattet

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