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tat es auch noch innerlich weh. – Und nicht zu vergessen: Das alles fand vor der Öffentlichkeit des Klassenzimmers statt! Da gab es neben Mitgefühl und Solidarität auch Schadenfreude!

      Einmal ging es ganz dramatisch zu. Einer aus dem vierten Schuljahr, der „Schimpanse“ – so nannte ihn auch der Lehrer mit Spitznamen – wollte sich partout nicht bücken. Immer wieder schnellte er mit dem Oberkörper jäh hoch, wenn der Lehrer zum Schlag auf das Gesäß ausholte. Schließlich drückte ihn der Lehrer mit fester Gewalt nach unten und klemmte den Kopf des Schülers zwischen seine Beine, um ungehindert auf den Hintern schlagen zu können. Da hatte wohl der „Schimpanse“ versucht, dem Lehrer ins Bein zu beißen, was dann ein furchtbar unkontrolliertes Dreinschlagen mit dem Stock zur Folge hatte. Der Lehrer war außer sich, und wir saßen wie erstarrt. Solch eine Exekution hatte es noch nie gegeben. Ich glaube zu wissen, dass danach im Dorf die Rede davon war, die Eltern hätten sich beschwert. Wenn wirklich, dann sicher ohne Erfolg … .

      Ja, so war das damals mit dem Rohrstock in der Schule. Er war für uns Kinder eine ständige imaginäre Drohung, ein Mittel, das uns mit Angst disziplinierte. Ich will mit all dem nicht so sehr meinen Lehrer belasten. Die Erziehung mit dem Stock entsprach den althergebrachten Erziehungsprinzipien und Gewohnheiten in den meisten preußischen Provinzdörfern und den gesellschaftlichen und staatlichen Bedingungen, in die der Lehrer – wie wir alle – eingebunden war.

      Über unseren Lehrer herrschte im Dorf die allgemeine Meinung: Der macht seine Sache gut. Und Vater höre ich heute noch sagen: „Er bringt euch was bei.“ Wir Schulkinder fanden ihn mal so, mal so. Wir akzeptierten ihn, ohne dass wir ihm besonders zugetan gewesen wären oder ihn gar geliebt hätten. Es gab ja auch kaum Vergleichsmöglichkeiten. Wenn unser Lehrer krank war, fürchteten wir die Vertretung durch den Lehrer aus dem Nachbardorf. Der trat – dick und massig – durch die Tür unseres Klassenzimmers und versuchte mit kolossalem und strengem Gehabe zu beweisen, dass er besser sei als der unsrige. Er muss wohl auch unsere verhohlene Abneigung gespürt haben. Wir waren dann froh, wenn unser Otto endlich gesund war und den Unterricht wieder aufnahm.

      Nur einmal gab es so etwas wie ein Aufleuchten. Für ein paar Wochen wurde uns vorübergehend ein ganz junger Lehrer zugeteilt. Ich weiß nicht mehr, aus welchen Gründen. Jedenfalls stand es für mich fest: Das war einer! Der lachte auch froh, stand locker vor uns, war freundlich und strahlte rund herum jugendliche Frische aus. – Das ganze Gegenteil von unserem Otto, den wir mit seinen 54/​55 Jahren schon als alten Mann ansahen und der durch Jahrzehnte anstrengender Volksschultätigkeit schon recht gequält wirkte. Man weiß nicht, ob jener junge Lehrer sein schönes, frisches Erscheinungsbild hat auf Dauer aufrecht erhalten können. Fest steht: Das Jungsein ist für angehende Lehrer ein unverdientes wertvolles Pfand, das man bei Kindern zu beiderseitiger Freude einbringen kann, das man aber auch verspielen kann, wenn man trotz Jugend nicht reif genug ist für die Arbeit mit Kindern. Kurz und gut: Darüber habe ich natürlich damals nicht nachgedacht. Unser Otto war eben so, wie er war, und damit basta.

      Eins hat mir und anderen Mitschülern nicht gefallen: der Spucknapf im Klassenzimmer. Dieser eigens dem Lehrer vorbehaltene Spucknapf, ein schüsselförmiger, weiß emaillierter Napf, stand neben dem dreibeinigen Waschschüsselständer in der Nische hinter dem Lehrmittelschrank. Wenn der Lehrer ihn benutzte und – wie er den Gebrauch vor aller Augen praktizierte, das verursachte mir eine Pein, die sich selbst über jahrelange Gewohnheit nicht mindern ließ. Dann sehe ich noch, wie eines der größeren Mädchen gemäß ihren Aufgaben als Ordnungsdienst den Spucknapf, weit von sich haltend, mit verzogenem, abgewandtem Gesicht, hinaustrug um diesen draußen zu entleeren und zu reinigen.

      Und da war noch etwas, was mich gestört hat: Unser Lehrer nannte bzw. rief uns mit unseren Spitznamen. Er war aber nicht konsequent; es traf nicht alle, einige ließ er aus. Andererseits förderte er mit ironischen Kommentaren oder gar Vorschlägen die Erfindung und den Gebrauch von Spitznamen, manchmal unschöner auf das Äußere hinzielender wie z. B. „Muppe“ oder „Schimpanse“. Mich nannte er, wie schon gesagt, in den unteren Schuljahren „Bahner“. Das war seine Erfindung. Später war ich der „große Kiebitz“, dieweil mein jüngerer Bruder Helmut „kleiner Kiebitz“ genannt wurde. Spitznamen können nett sein und freundschaftlich wirken, manche aber können verletzen oder auf Dauer schmerzen. Kaum einer kann sich dagegen wehren. – Ich bin für das Anreden und Rufen mit Vornamen. Wie gesagt: Was ein Lehrer sich gegenüber seinen Zöglingen leisten kann, woran er sich halten darf oder halten muss, das erlaubt ihm die Gesellschaft, oder der Staat schreibt es ihm vor. Zwar lässt sich manches, wenn einer Manns genug ist, auf ein vernünftiges menschliches Maß bringen. Und ich denke, dass sich diesbezüglich auch unser Lehrer ernsthaft seine Gedanken gemacht hat. Er muss wohl, denn er war ja trotz einiger Unarten kein schlechter Lehrer. Ob ihn seine gesellschaftliche Stellung im Dorf und seine Macht auch selbstherrlich werden ließ – ich glaub’ nicht. Immerhin gehörte er zu den wenigen Honoratioren unseres Dorfes, mit ihm der Bürgermeister Robert Förster und der Gutsbesitzer Richard Dunkel, mit denen er sich einmal in der Woche im Dorfgasthaus bei „Hübners“ zum Skat traf. Da wird man sich neben dem Spielgeschäft noch mehr zu sagen gehabt haben: vielleicht das Neueste aus der Gemeinde, aus der Schule, aus Wald und Feld, aus der Politik und gewiss auch aus der nahen Kreisstadt, die der Gutsbesitzer – als einziger Autobesitzer im Dorf – mit seinem „Opel P4“ schnell erreichen konnte. Nein, halt, da war noch einer mit Auto, der Major Freitag, ein Pensionär, der ziemlich abgeschieden in der „Villa“ (die eigentlich gar keine war) am Ortsausgang zur Stadt hin wohnte.

      Und das war schon die ganze Prominenz im Dorfe.

      Einen Pfarrer im Dorf gab’s nicht, da wir auch keine Kirche hatten. Bis auf wenige Katholiken gehörten alle Bewohner des Dorfes zur evangelischen Kirchgemeinde unserer 3 km entfernten Kreisstadt Löwenberg. Schade, denke ich heute. Ob ein Pfarrer mit Kirche im Dorf bei uns hätte etwas mehr ausrichten können? Auch bei uns Kindern? Gerade in der Hitlerzeit!? So blieb es für uns, für mich, bei dem pflichtgemäßen Konfirmandenunterricht durch Pastor Frenzel oder bei einem langweiligen Vikar in der Kreisstadt. Diese Männer in ihrer schwarzen Kleidung waren weit weg von mir. Sie gaben mir nichts. Sie forderten ein Lernpensum, und alles blieb für mich im luftleeren Raum. Keine dieser Autoritäten, weder Lehrer, Pfarrer noch sonst wer, ist nahe an mich herangekommen. Kinder brauchen Nähe und Zutrauen. Dies zu spüren hätte auch mir sicherlich gut getan.

      Was den Bürgermeister betrifft, so sei noch Folgendes gesagt: Er wohnte vier Häuser weiter von uns in seinem kleinen, aber schmucken, mit schönen Blumen garnierten Haus, kinderlos, mit seiner gütigen Frau, er kriegsverletzt und gehbehindert, mit Sachs-Motorrad und bescheidener Kohlenhandlung nebenbei. Uns Jungen war er halb zugetan. Wir durften, wenn wir nicht über die Stränge schlugen, hinter seiner Gartenlaube neben hohen Stauden und Büschen unsere Spielecke einrichten, auch uns mal in seiner Hängematte wiegen. Und als wir schon „größer“ waren, lieh er uns sein Luftgewehr, mit dem wir mittels Bolzen auf eine aufgehängte Scheibe am Scheunentor schießen durften. Er zeigte auf diese Weise Verständnis für uns Jungen. Aber wir merkten, dass er uns irgendwie auch erziehen wollte. So stand er ab und zu frühmorgens vor seiner Haustür, wenn wir an ihm vorbei, ordentlich grüßend, zur Schule gingen, und prüfte uns mit gezieltem Blick. „Deine Schuhe sind wieder nicht richtig geputzt!“ mahnte er streng. Einmal hat er mich zurückgeschickt. Ich bin verschämt heim und hab’ schnell die Schuhbürste aus dem Kasten geholt … . Hier muss ich einflechten: Schuhkontrollen dieser Art waren nur im Winterhalbjahr möglich; im Sommer gingen wir in den frühen Dreißiger Jahren noch barfuß zur Schule oder in Holzpantoffeln.

      Unter den Honoratioren, im Kreise seiner Skatbrüder, war unser Otto vielleicht der Gebildetste, wenn man Kenntnisse und Erfahrungen in der Ökonomie absetzt. Andererseits war er wahrscheinlich der Ärmste unter ihnen. So an die 330,—Mark monatlicher Gehaltsüberweisung glaube ich gelesen zu haben, als ich irgendwann für ihn Geld von der Stadtsparkasse holen musste. Seine drei Kinder – die gescheite Tochter studierte, der jüngste Sohn quälte sich auf dem Gymnasium, der erwachsene Älteste war irgendwo – mussten versorgt oder unterstützt werden. Da blieb wohl nicht viel Geld übrig. Der Garten vor und neben dem Schulhaus, den teilweise wir Schüler bearbeiten mussten, brachte Zusätzliches für die Küche der Lehrerfamilie. Die schönen roten Erdbeeren stachen uns Kindern in die Augen. Vor seinen Bienen, die zu etwa 20 Völkern in gestaffelter

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