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gewundert: Entgegen allen Erfahrungen mit unserem Lehrer griff dieser diesmal nicht zum Stock, um mich zu strafen, und er erschien mir trotz seiner unmissverständlichen Zurechtweisung nachsichtiger als sonst. So geschah mir nichts weiter, als dass ich künftig die Sonnabende in der Schule verbringen musste, darauf hoffend, in einem halben Jahr als Zehnjähriger dann mit den anderen „Jungvolkjungen“ wieder sonnabends zu spannenden Geländespielen hinausziehen zu können. Doch diese ganze Geschichte endete für mich schließlich mit einer Enttäuschung. Als ich im Februar 1935, nach meinem zehnjährigen Geburtstag, mit Zustimmung meiner Eltern regulär in das Jungvolk eintreten durfte, hatte man inzwischen schon von staatlicher Seite den „Staatsjugendtag“ wieder abgeschafft! Man hatte längst nicht mehr nötig, durch einen schulfreien Sonnabend für den Eintritt in das „Deutsche Jungvolk“ zu werben. Inzwischen waren so gut wie alle Mädchen und Jungen im Alter von 10 bis 14 Jahren in den nationalsozialistischen Jugendorganisationen „erfasst“. Nicht dass die Jungen aus purer naziideologischer Begeisterung beigetreten wären. Nein, sie sind meistens – wie ich – durch anreizende abenteuerliche Freizeitbeschäftigungen geradezu hineingelockt worden. Ein Jahr später sorgte Hitler mit dem „Gesetz über die Hitlerjugend“ (vom 1. Dez. 1936), dass „die gesamte deutsche Jugend innerhalb des Reichsgebietes in der Hitlerjugend zusammengefasst ist“. Von diesem Gesetz und der damit verbundenen politischen Strategie habe ich als 11-jähriger kaum oder so gut wie gar nicht Notiz genommen.

      Wir Jungen waren nun alle „drin“ im Jungvolk, fanden daran nichts Anstößiges, im Gegenteil: Das war schon in Ordnung. Und die Erwachsenen hatten dagegen auch nichts mehr einzuwenden. – Wir waren zur „Jugend des Führers“ geworden, ohne dass wir das genau gemerkt hätten!

      Nun möchte ich hier aber das Thema „Hitlerjugend“ vorübergehend in den Hintergrund stellen und zu dem am Anfang des Kapitels genannten Thema „In der Schule“ zurückkommen. Wie’s in der Schule war, auf unserem schlesischen Dorf, damals, in den Jahren 1931 – 939, davon will ich jetzt hauptsächlich erzählen.

      …. Mancher wird sich wundern, wenn ich „von unserem Lehrer“ spreche – im Singular! Ja, in der Mehrzahl wäre das nicht möglich, denn wir hatten in unserer Dorfschule nur einen Lehrer! 67 Schulkinder im Alter von 6 – 14 Jahren und dazu nur ein Lehrer! Man nannte so was eine „einklassige Volksschule“. Diese Bezeichnung ist irreführend. Daher muss hier erklärt werden, was man darunter versteht und wie so eine einklassige Volksschule bei uns funktioniert hat:

      Im Winter um acht, im Sommer um sieben Uhr begann in unserem Schulhaus der Unterricht. Er erfolgte im Laufe des Vormittags für alle Schüler in einem Klassenraum! – In den ersten beiden Stunden unterrichtete der Lehrer die „Großen“; das waren die Schüler des 5. bis 8. Schuljahres, zusammengefasst in einer Abteilung, die Mädchen rechts vom Mittelgang in den hinteren Viererbänken sitzend, die Jungen gegenüber ebenso in Viererbänken zur Linken des Mittelganges. Aber wir saßen nicht nur dem Alter nach geordnet. Die schulischen Leistungen eines jeden Schülers waren ein zweiter gewichtiger Wertmaßstab für die Reihenfolge in der Sitzordnung. Der „Beste“ war „Klassenerster“. Dieser saß auf dem „ersten Platz“. Hinter ihm folgten die nächstbesten, der zweitbeste, der drittbeste, … . Rechts auf der anderen Seite des Mittelganges, also auf dem Eckplatz der Mädchenseite, saß die „Klassenerste“ der Mädchen.

      In der Mitte des Klassenzimmers saßen die Schüler der 2. Abteilung, die Mädchen und Jungen des 3. und 4. Schuljahres, deren Unterricht mit der 3. Stunde begann. – Ganz vorn, die niedrigen Viererbänke rechts und links, nahmen die „Kleinen“ auf, die Schüler vom 1. und 2. Schuljahr, die im Laufe des Vormittags zuletzt kamen und die vorwiegend in der 5. und 6. Stunde vom Lehrer unterrichtet wurden.

      Es war also für unseren Lehrer geradezu ein echtes Kunststück, während der sechs Unterrichtsstunden abwechselnd die Schülerinnen und Schüler der verschiedenen Abteilungen und Altersgruppen so zu unterrichten, dass er sich jeweils für eine bestimmte Zeit unmittelbar einer Abteilung zuwendete, während die anderen „still beschäftigt“ die erteilten Aufgaben lösen mussten.

      Für unseren „Otto“, so nannten wir unseren Lehrer in der Schülersprache nach seinem Vornamen, war das gewiss ein sehr anstrengendes Pensum: 6 mal 6 Unterrichtsstunden in der Woche mit über 60 Schülern verschiedener Altersgruppen, hinzu Unterrichtsvorbereitungen und die Korrekturen der schriftlichen Schülerarbeiten und was noch so alles dazu kam! Zum Glück verfügte unser Otto, wie alle anderen Schullehrer in den Nachbardörfern, über einen harten Rohrstock, mit dem er sich auf wirksame Weise Respekt und Disziplin verschaffen konnte. Da er dieses Mittel nicht gerade sparsam einsetzte, hatten wir eher Angst vor ihm als Respekt. Doch lassen wir zunächst den Stock im Schrank stehen. Von dort soll er später noch mal zu kurzer Betrachtung hervorgeholt werden. –

      Ich fand diesen Abteilungsunterricht in unserer Dorfschule keinesfalls langweilig. Waren wir selbst „nicht dran“, unterrichtete der Lehrer gerade eine andere Abteilung, genoss ich die auferlegte „Stillbeschäftigung“ auch als individuellen Spielraum. Zuerst hatte ich natürlich mit den „aufgegebenen“ Aufgaben zu tun. Mal schneller, mal dahintrödelnd, je nachdem, was sich sonst noch Interessantes unter Banknachbarn oder im Unterrichtsgeschehen der nächsthöheren oder -niederen Abteilung ergab. Gelegentlich sah man sich von dort abgelenkt, wenn laute Worte des Lehrers, komische Schülerantworten oder interessantes Reden so nebenbei zum Mithören anregten. – Es war auch ganz unterhaltsam, wenn man als Jüngerer so beiläufig aufschnappte, was eigentlich für die Älteren hinter uns gedacht war, oder wenn man als Älterer im Zuhören bei den Jüngeren vor sich bereits Gelerntes oder nur Halbgelerntes unaufgefordert wiederholen bzw. vertiefen konnte. Gleichzeitige Aufmerksamkeit aller Stillbeschäftigten wurde meist dann wachgerufen, wenn beim Unterricht der anderen Abteilung etwas Dramatisches passierte. Wenn sich einer saublöd anstellte, wenn der Lehrer in Zorn geriet, wenn der Stock mit entsprechenden Kommentaren in Aktion gesetzt wurde und sich für uns alle ein fesselndes Schauspiel in Szene setzte. Die meiste Zeit jedoch war man mit sich selbst beschäftigt. Ich zum Beispiel bei Rechenaufgaben, wo ich mich arg konzentrieren musste oder unauffällig Kontakt zu dem besseren Rechner neben mir zu knüpfen versuchte! – Waren die „stillen“ Aufgaben aber im Handumdrehen gelöst, blieb auch noch Zeit für interessanten Zeitvertreib. Manchmal las ich heimlich unter der Bank meinen 20-Pfennig-Schmöker. Zu zweit konnte man „Schiffe versenken“, „Städte raten“ oder „Mist fahren“ oder gar zu dritt mit Mini-Spielkarten „Schafskopf“ spielen. Letzteres war bei uns sehr beliebt, aber auch riskant, verlangte es doch gekonnte Schläue und gut entwickelte Verstellungskünste. Nicht erwischt werden dabei – das war schon eine Leistung! So ein Trio flog öfter auf. Der erfahrene Blick des Lehrers hatte unser Spiel im Untergrund durchschaut. Die Spielkarten mussten nach vorn gebracht werden, und die Anzahl der Stockschläge wurde verkündet.

      Wobei ich angelangt bin bei der bereits erwähnten Absicht, den Stock noch einmal aus dem Schrank hervorzuholen. Dort stand der Rohrstock (aus 8 – 10 mm Bambusrohr) in einem vertikal angelegten Fach neben den zusammengerollten Anschauungstafeln, es sei denn, er war wegen wiederholten Gebrauchs auf dem Katheder liegen geblieben. Wir fürchteten natürlich den Rohrstock, denn die Schmerzen, die körperlichen, die er verursachte, trieben vielen von uns die Tränen in die Augen.

      Ich habe als Schulkind den Stock des Lehrers akzeptiert, wenn er nach meinem Dafürhalten zu Recht eingesetzt worden ist. Ich glaube, alle fanden es normal, wenn in der Schule mit dem Stock „erzogen“ wurde. Auch die meisten Eltern, denke ich, waren damit einverstanden. Vater höre ich sagen: „Es wird schun netig sein und konn nie schoden.“

      Unser Otto hatte ein bestimmtes Strafsystem. Je nach Schwere des Vergehens wurden 1, 2, 3 oder im Extremfall (was seltener vorkam) noch mehr Stockschläge „verabreicht“: den Mädchen grundsätzlich auf die ausgestreckte innere Hand, uns Jungen im Winter auf die gleiche Weise, jedoch im Sommerhalbjahr bei gebücktem Oberkörper auf den dünnbehosten Hintern. Unser Lehrer holte tüchtig aus, und wenn er bei Schlägen auf die Hand die Fingerpartie traf, tat es besonders heftig und anhaltend weh. Einige weinten vor Schmerz. Manch einer heulte auf wie ein getroffenes Tier. Nur wenige hielten sich stark, verzogen lediglich das Gesicht, rieben sich die getroffene Hand und gingen aufrecht auf ihren Platz. Wer die Hand aus Angstreflex vor dem zu erwarteten Schlag spontan zurückriss, musste – bei

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