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mein Sohn. Nein, ich sehne mich nicht zurück. Es war nicht schön damals.«

      »Man sagt aber, alle Erwachsenen fänden im Rückblick, ihre Kindheit sei eine schöne Zeit gewesen.«

      Hagar nickte. »Das mag für die meisten zutreffen. Aber nicht für mich.«

      »Für mich trifft es zu«, meinte träumerisch der junge Mann. »Ich erinnere mich gern an die Zeit, als mein Vater mich als Kind auf den Schultern getragen hat, oft weite Strecken, wenn er zu den Weideplätzen ging. Oder wie er mir abends Geschichten erzählt hat, von seiner Heimat im Land der zwei Ströme oder in Haran am oberen Euphrat. Auch, wie er von Gott sprach. Oder wie er mir erklärte, wie ich den Bogen handhaben sollte, den er mir gemacht hatte.«

      Hagar schabte eine Weile schweigend weiter und achtete nicht auf die Fliegen, die sich auf ihrem Gesicht niederließen. Schließlich sagte sie: »Es ist gut, Ismael, behalte das nur in guter Erinnerung. Die schöne Zeit war ja dann bald zu Ende.«

      »Stimmt. Als ich … wie alt war ich, als Isaak geboren wurde?«

      »Vierzehn Jahre. Ungefähr so alt, wie ich war, als ich als Sklavin Abram und Sarai geschenkt wurde, die heute Abraham und Sara heißen, und mit ihnen aus Ägypten fortzog.«

      Ismael setzte sich neben sie und scheuchte die Fliegen von ihr fort. »Ich weiß, dass es eine schwere Zeit für dich war, Mutter. Dass Sarai eifersüchtig war. Und als Isaak geboren war, wurde es noch schlimmer. Bis sie uns dann aus dem Zelt gejagt haben. Aber ich habe es als Kind nicht so schrecklich empfunden, wie du es wohl empfinden musstest.«

      »Das ist gut so, mein Sohn. Du sollst nicht mit Groll an deinen Vater denken. Aber du verstehst sicher auch, dass ich enttäuscht bin. Ich war gut genug für ihn, ihm einen Sohn und Erben zur Welt zu bringen. Aber als seine erste Frau doch noch einen Sohn bekam, galt ich nichts mehr.«

      »Es ist nicht seine Schuld, Mutter, dass er uns vertrieben hat. Es geschah auf Saras Betreiben.«

      »Na und? Hätte er sich nicht dagegen behaupten können? Ist er nicht der Patriarch, das Oberhaupt der Sippe?«

      Ismael stand auf. Er wollte das Gespräch nicht fortsetzen. Es schmerzte ihn, wenn von seinem Vater so gesprochen wurde. Er nahm seinen Bogen, legte einen Pfeil auf und schoss auf die Terebinthe, die schon vorher das Ziel seiner Schießübungen gewesen war.

      Hagar spürte, was in ihm vorging. Er hatte recht, sie sollte nichts Böses über Abraham sagen, nicht ihm gegenüber. Um das Thema zu wechseln, rief sie ihm zu: »Lass es gut sein, Ismael! Jetzt hast du zwölfmal auf den Baum gezielt und zwölfmal getroffen. Was willst du noch verbessern?«

      Ismael lachte, und das freute Hagar, denn es zeigte ihr, dass die Missstimmung schnell vergangen war. »Ich will fünfzigmal darauf zielen und fünfzigmal treffen.«

      Als er die letzten Pfeile verschossen hatte – sie steckten alle im Stamm der Terebinthe –, rannte Ismael hin und holte sie. Dann kam er wieder zu ihr zurück in den Schatten der kleinen Hütte. Die bestand aus Ästen, die mit Fellen überzogen waren.

      Er drückte den Bogen mit dem Knie durch und hängte die Sehne aus, um ihn zu entspannen. Hagar beobachtete ihn dabei und bewunderte mit mütterlichem Stolz das Spiel der Rückenmuskeln unter der sonnengebräunten Haut. »Du wirst mal ein großer Jäger«, murmelte sie. »Ach nein, du bist ja schon einer.«

      Ismael legte sich zurück, verschränkte die Arme hinter dem Kopf und schaute in den blauen Himmel hinauf.

      Eine Weile sprach niemand, nur das schabende Geräusch von hagars Werkzeug war zu hören und das Summen der Fliegen.

      »Ich verstehe nicht«, unterbrach Ismael schließlich die Stille, »dass du nach Ägypten zurück willst, wenn du so schlechte Erinnerungen daran hast.«

      »Nicht meinetwegen will ich dort hin, sondern deinetwegen.« »Meinetwegen? Aber ich will gar nicht nach Ägypten!«

      »Du sollst dir dort eine Frau nehmen.«

      »Es gibt hier bei den Wüstenstämmen auch geeignete Frauen.«

      »Kennst du eine?«

      »Nein. Nein, aber ich werde sicher eine finden.«

      Hagar antwortete nicht. Sie spannte das Schaffell, das sie behandelt hatte, zwischen die Pflöcke, die dafür in passendem Abstand in den Boden getrieben waren. Ismael half ihr, die Schnüre zu spannen, ohne dabei aufzustehen, er wälzte sich nur etwas hinüber.

      Schließlich sagte seine Mutter: »Ägypten ist ein besseres Land als diese trockene, menschenleere Gegend, Ismael. Da gibt es viele Häuser und Tempel, sogar die gewaltigen Pyramiden, die Grabstätten der alten Könige. Es gibt Händler, die von weit her ihre Waren bringen und ihre Berichte von allem, was in der Welt vorgeht. Es gibt Schiffe, die der Wind treibt, und Streitwagen, die von schnellen Pferden gezogen werden. Es gibt Gelehrte, die erzählen können, was früher war, und die die Kunst beherrschen, das alles in Zeichen festzuhalten, die wieder andere lesen und in Worte zurückverwandeln können. Es gibt Meister des Bauens, Meister des Malens von schönen Bildern, Meister der Musik, Meister der Steinmetz- und der Goldschmiedekunst. Es gibt Heilkundige und Sterndeuter und Strategen und … ach, es gibt alles, was du dir vorstellen kannst. Und was gibt es hier? Sand und ein paar Sträucher, Bäche, die drei Viertel des Jahres keinen Tropfen Wasser führen, Springmäuse und Schlangen und ab und zu einen Wüstenfuchs oder einen Springbock. Und Fliegen.«

      »Na und?«, erwiderte ihr Sohn und setzte sich auf. »Mir reicht es. Ich bin ein Jäger, wie du selbst gesagt hast. Was soll ich in Ägypten jagen? Heilkundige und Goldschmiede und Baumeister? Oder die Rinder, die immer jemandem gehören, der mich dann ins Gefängnis werfen lässt, wenn ich auf sie schieße? Ich bin ein Sohn dieses Landes, Mutter, ein Sohn der Wüste und der Steppe. Mein Vater musste immer da hinziehen, wo noch kein anderer Besitzansprüche geltend machte. Wenn ich in einem Haus leben müsste und links und rechts daneben wohnten hundert andere Leute, wenn ich zum Horizont sehen wollte und könnte ihn nicht finden, weil lauter Häuser davorstehen, wenn ich in die Weite gehen wollte und müsste dabei immer auf festgelegten Linien bleiben, den Straßen, weil ich niemandes Acker zertrampeln darf – dann würde ich verzweifeln.«

      Er ist kein Kind mehr, dachte Hagar. Ich kann ihn nicht zu etwas drängen, das er nicht will. »Lass uns ein anderes Mal darüber reden«, sagte sie und hoffte, dass bei anderer Gelegenheit die Stimmung besser sein würde.

      »Außerdem«– Ismael wollte sich nicht so leicht von seinen Gedanken abbringen lassen –, »außerdem sagst du doch, Gott habe dir versprochen, meine Nachkommen sollten ein großes Volk werden. Wo soll das Volk denn wohnen? In Ägypten ist kein Platz mehr.«

      Als Hagar nichts sagte, bohrte Ismael nach einer Weile nach: »Weißt du keine Antwort?«

      »Nein, mein Sohn, ich weiß nicht, wo dieses Volk leben wird.«

      »Vielleicht stimmt es gar nicht, dass ich der Vater von zwölf Fürsten werde, die auch wieder viele Kinder haben. Wer kann schon wissen, was in der Zukunft liegt.«

      »Gott weiß es.«

      Hagar ging in die Hütte und legte ein paar trockene Äste auf das Feuer. Dann schürte sie es und hängte einen Bronzetopf mit Wasser an das dreibeinige Gestell darüber.

      Ismael folgte ihr und sagte: »Weißt du, was ich nicht verstehe, Mutter?«

      »Sag es mir!«

      »Dass du so fest mit dem Gott Abrahams rechnest.«

      Sie sah ihn erstaunt an. »Wie meinst du das?«

      »Du hast in deiner Kindheit andere Götter gehabt. Vom Gott meines Vaters hattest du keine Ahnung. Auch bei den Völkern um uns her werden ganz andere Götter angebetet. Warum vertraust du darauf, dass der Gott Abrahams der einzige wahre Gott ist?«

      Hagar holte Luft, um zu antworten, aber Ismael sprach schnell weiter: »Ich kann mir denken, was du sagen willst. Du hast es eben in Abrahams Zelt so gelernt. Die meisten glauben ja so, wie man es sie gelehrt hat. Aber man lernt weniger durch Worte als durch Vorbilder. Sara,

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