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abzuringen. Meine Mutti erzählte mir später oft die Geschichte von der Suppe. Die ging so: Die Frauen hatten einen Riesentopf Kartoffelsuppe gekocht, der auf den Tisch gestellt wurde und zwar genau dahin, wo zwei Tische zusammenstießen. Als eine der Frauen den einen Tisch wegzog, um darunter sauber zu machen, passierte es: Der Topf sauste auf den Fußboden, wo natürlich auch die Suppe landete. Da nahmen zwei Frauen die Löffel und löffelten die Suppe zurück in den Topf. Schaden behoben! Nur nichts verkommen lassen!

      Kurz nach Weihnachten wurde ich sehr krank und ins Krankenhaus gebracht. Ich hatte Knochenhautentzündung im Fuß, Scharlach und Diphtherie. Wegen der Ansteckungsgefahr durfte ich keinen Besuch empfangen. Als ich durch Zufall meinen Bruder am Fenster sah, schrie ich so fürchterlich, dass ich einige Tage lang nicht sprechen konnte. Mein Fuß heilte nicht und die Ärzte sahen keine Möglichkeit mehr, ihn zu retten. So wurde ich Ostern entlassen und wir hofften, dass der Fuß von allein gesundwerden würde, was er auch wirklich tat. Im Fieberwahn sah ich häufig Gespenster. Alle Mäntel und Jacken mussten aus unserem Schlafraum verschwinden. Ich fürchtete mich vor ihnen. Es dauerte viele Jahre, bis ich diese Angst überwunden hatte.

      Kapitel 2

       ABENTEUER IM KINDERGARTEN

      Meine Mutti, meine Geschwister und ich zogen aus dem Feuerwehrhaus zu Familie Just. Das waren Leute aus Pratau, die uns zwei kleine Räume ihrer Wohnung zum Wohnen und Schlafen anboten. Im Vergleich zum Feuerwehrhaus war das eine klare Verbesserung.

      Nicht weit weg war ein Kindergarten eingerichtet worden, der uns für die nächsten Jahre wie ein Paradies erschien. Meine Mutti meldete mich dort an. „Die Tanten sind sehr nett, hoffentlich bist du es auch?“ Ich wollte ganz lieb und artig sein, aber ob die Tanten das auch so sehen würden? Auf jeden Fall war ich sehr gut aufgehoben, traf andere Kinder zum Spielen und zum Dummheiten machen. Wir konnten spielen, schliefen zur Mittagszeit, und vor allen Dingen bekamen wir zu essen. Wir aßen fast alles, und was wirklich mal nicht schmeckte, verschwand hinter dem Schrank oder unter der Bank.

      Als wir älter wurden, wollten wir mittags nicht mehr schlafen. Wir waren zu dritt: die fünfjährigen Zwillingsbrüder Frank und Paul, die nur Unsinn im Kopf hatten, und ich, auch nicht der Artigste. Wir fühlten uns ungeheuer stark. Unser großer Auftritt begann immer nach dem Mittagessen. Es fing harmlos an, indem wir mit den Kissen warfen, wie die Schweine grunzten und den anderen Kindern die Decken wegnahmen – oder wir spielten Gespenster. Das ging so lange, bis uns die Kindergartentanten völlig verzweifelt aus dem Schlafraum holten und zum Abwaschen einteilten: „Raus mit euch Rabauken und ab in die Küche!“ Das war besser als Schlafen, weil man da Reste vom Mittagessen in sich hineinstopfen konnte!

      Fast sechzig Jahre später bestellte eine meiner Lieblingstanten über ihre Pflegerin viele Grüße an mich. „Sie hat viel von Ihnen erzählt“, sagte sie.

      „Na, das war bestimmt nicht viel Gutes?“, fragte ich etwas zögernd.

      „Ja, das stimmt!“, meinte sie und lachte.

      Manchmal machten wir es den Tanten sehr schwer. Als wir an einem wunderschönen Sommertag zu dem in der Nähe gelegenen Badeteich „Das große Loch“ gehen wollten, gab es Ärger. „Badesachen bleiben hier, wir baden nackt!“, rief Tante Rosa. Das konnte ich auf keinen Fall akzeptieren, also fing ich an zu diskutieren. „Ohne Hose ist mir das viel zu kalt“, schrie ich los. Ich wollte mich vor den Mädchen nicht nackt zeigen, weil sie mein „Stückchen” nicht sehen sollten. „Dann bleibst du so lange im Klo, bis wir wieder da sind. Und ich werde deiner Mutti sagen, was du hier immer anstellst!“

      „Aber ich möchte doch nur mit Badehose baden gehen“, heulte ich. Leider gab es kein Entgegenkommen von der Tante. Sie sperrte mich in die Frauentoilette. Nachdem die Badekinder mit den Tanten zum Teich aufgebrochen waren, schaute ich mich um. Sehr schnell erkannte ich, dass ich mein Gefängnis ohne große Anstrengungen verlassen konnte. Ich kletterte heraus – und nach kurzer Zeit war ich am Badeteich. Natürlich mit meiner Badehose! Das folgende Theater war sehr heftig. „Du gehst auf keinen Fall ins Wasser, Strafe muss sein“, meinte die Kindergartentante Rosa. Ich grinste und verschwand im Wasser, aber nicht ohne die Tante zu bespritzen.

      Der Sommer verging viel zu schnell, und irgendwann würde der Weihnachtsmann im Kindergarten auftauchen. Natürlich hatten die Zwillinge und ich große Angst vor dem Weihnachtsmann. Wir wussten genau, dass er irgendwann kommen würde, und wollten auf diesen Tag vorbereitet sein. Als es soweit war, wäre ich am liebsten zu Hause geblieben. Aber meine Mutti wusste von den Tanten, dass sich der Weihnachtsmann ihr Söhnchen vorknöpfen wollte, und brachte mich in den Kindergarten.

      Wir hatten gebastelt und einige Lieder gelernt, die wir dem Weihnachtsmann vorschmettern sollten. Das waren Dinge, die ich absolut nicht mochte. Dann war es soweit! Tante Rosa verkündete: „Liebe Kinder, heute kommt der Weihnachtsmann, wir freuen uns doch bestimmt alle darauf!“ Hatte sie „alle“ gesagt? Mir wurde ganz mulmig! Wir schoben die Tische zusammen und stellten die Stühle in einem Kreis auf. Nach den vielen Anspielungen der Tanten in den letzten Wochen ahnte ich, dass ich neben dem Weihnachtsmann eine große Rolle spielen sollte. Deshalb sah ich mich nach Fluchtmöglichkeiten um, fand aber zu meinem Entsetzen keine. Doch unter den Tischen war reichlich Platz. Der alte Weihnachtsmann hatte bestimmt kaputte Knie und würde mir dorthin nicht folgen können.

      Als es dunkel wurde, hämmerte es gegen die Tür. Die kleinen Kinder fingen alle gleichzeitig an zu heulen und riefen nach Mama und Papa. Wir Großen waren von der Tür abgerückt und warteten auf die Dinge, die da kommen sollten. Die Tanten ließen den Gast ein. Da stand er nun: der Weihnachtsmann. Seine Mütze war so komisch, dass ich am liebsten daran gezogen hätte. Die Stiefel waren groß und schwer, sein Mantel war dick und hatte viele Taschen. Der große Sack über seinem Rücken war sicher für solche schlimmen Kerlchen gedacht, wie ich eines war. Die feste Rute in seiner Hand, die dunklen Augen und die großen Hände warnten mich. Was mir zuletzt auffiel, und das war das Wichtigste: Er war viel zu rund, um unter die Tische zu kriechen. Ich atmete auf.

      Die Tanten stimmten ein Weihnachtslied an, und die Zwillinge und ich murmelten so vor uns hin. Danach sprach der Weihnachtsmann: „Ich möchte von jedem ein Gedicht hören, also, zu mir stellen und dann los!“ Genau darauf lief es also hinaus: Er wollte mich anlocken, in den Sack stecken – und dann ab mit mir in den düsteren Winterwald. Also blieb ich in sicherer Entfernung stehen und brüllte ihm ein Gedicht zu, das der Junge vor mir auch schon aufgesagt hatte.

      Natürlich meckerte der Weihnachtsmann: „Hab‘ ich schon gehört, haste nicht was Anderes?“

      „Nee, weiß nischt“, brüllte ich zurück. „Naja, darüber sprechen wir später“, meinte er. Dann bekam jeder von uns, auch die Tanten, eine kleine Weihnachtsüberraschung. Ich konnte mich über ein kleines Holzpferd freuen, das schnell in meine Hosentasche wanderte. War’s das nun? Ich wartete sehnsüchtig darauf, dass der Weihnachtsmann in seinen Wald zurückkehrte.

      Der Gabensack war leer. So ein schmächtiges Kerlchen wie ich passte da ganz sicher hinein. Oder? Dann war es soweit. „Ja, liebe Kinder, nun hat jeder etwas bekommen. Ich würde jetzt gerne auch etwas mitnehmen – und zwar das frechste Kind unter euch!“ Alle zeigten auf mich. Was er dann sagte, erlebte ich bereits unter den zusammengeschobenen Tischen in der hintersten Ecke. Kein Weihnachtsmann und keine Tanten würden mich jemals hier hervorziehen können. Ich hatte große Angst. Der Weihnachtsmann sah unter den Tisch und fragte: „Wirst du jetzt immer artig sein?“

      „Immer und immer“, fiepte ich. Mein kleines Herz schlug heftig, als wollte es in den Sack des Weihnachtsmannes hüpfen. Aber der Weihnachtsmann hatte noch andere unartige Kinder zu besuchen und machte sich endlich auf den Weg, nicht ohne mir noch einmal mit der Rute zu drohen. Dann ging das Weihnachtsfest im Kindergarten zu Ende.

      Doch wir wollten ja auch zu Hause Weihnachten feiern. Allerdings hatte meine Mutter zu dieser Zeit keine Arbeit. So besaßen wir kein Geld, um uns einen Weihnachtsbaum zu kaufen.

      Das wusste ich mit meinen fünf Jahren damals

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