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als ich, konnte er sich an viele Einzelheiten von damals erinnern. Stenek zeigte uns wieder voller Stolz das Haus. Mit den immer noch leistungsfähigen Maschinen unseres Vaters hatte er – ebenfalls Stellmacher von Beruf – allein die komplette Ferienwohnung im oberen Stockwerk ausgebaut. Stenek hatte alles selbst geschreinert: die Fenster, die Böden, die Türen und die Möbel.

      Die Ferienwohnung war bestens in Schuss. Doch dann kam die politische Wende, und damit hatten die Urlauber aus dem Raum Halle-Leipzig plötzlich andere Ziele als Černý Důl. Nach einem gemütlichen Kaffeetrinken und Plaudereien begaben wir uns auf den Heimweg.

      Zum Abschied hatten Marta und Stenek noch eine Überraschung für uns. Sie schenkten uns eine vergrößerte Fotokopie unseres Elternhauses. Das Originalbild hatten sie von einem Fotografen kopieren lassen. Deshalb hatte Stenek beim ersten Besuch so spitzbübisch gelächelt. Wir trennten uns als gute Freunde.

      Auf dem Weg in das Hotel erinnerte sich mein Bruder Reinhard daran, wie wir vor dreiundsechzig Jahren das Haus hatten verlassen müssen: „Wir Kinder spielten im Garten, als plötzlich ein Mann aus dem Dorf kam und nach unserer Mutter fragte. Die Tante, die bei uns wohnte, schickte unsere Schwester los, die Mutti zu holen, die gerade auf den Heuwiesen war. Der Mann brachte eine unheilvolle Nachricht: Zwei Stunden hatten wir Zeit, um zu packen und unser Haus zu verlassen. Alle schrieen durcheinander und weinten, denn niemand wusste, was da geschah. Unsere Mutter packte das Nötigste für uns drei Kinder. Ich war sechs Jahre, unsere Schwester neun und du als Nesthäkchen drei Jahre alt. Der Vater war im Krieg. Unser Gepäck bestand aus einem Rucksack, einem Schulranzen und einem Handwagen. In einer kleinen Sportkarre hast du gesessen. Wir wurden in ein Lager in etwa vier Kilometer Entfernung eingewiesen. Die Mutter zog den Handwagen und trug den Rucksack. Unsere Schwester schob dich in der Sportkarre, und ich hatte den Schulranzen auf dem Rücken. Niemand wusste, wann wir aus dem Sammellager wieder zurückkehren würden.“

      Am nächsten Tag – unser Wanderziel war die Wiesenbaude – erzählte Reinhard weiter: „Das Leben in dem Lager war kein Leben, sondern ein Abwarten, was passieren würde. Nach etwa vierzehn Tagen hieß es, wir dürfen wieder nach Hause. Alle Familien waren glücklich und machten sich auf den Heimweg, doch an der nächsten Kreuzung hätten wir geradeaus gehen müssen, um nach Hause zu gelangen, wurden aber gezwungen, eine andere Richtung einzuschlagen.“

      „Wie haben die Leute denn reagiert? War das nicht schrecklich für sie?“, fragte ich erschüttert. „Ja, das war es! Unter den Menschen brach eine Panik aus, denn sie ahnten, dass es in die Stadt zum Bahnhof gehen würde. Nach etwa zehn Kilometer Fußmarsch waren wir wirklich auf dem Bahnhof in Vrchlabi zum Verladen. Hier wurden wir in offene Kohlewaggons gepfercht. Auf dem Fußboden lag Stroh. Und wir durften nur Sachen mitnehmen, die wir tragen konnten. Alles andere blieb auf dem Bahnhofsplatz zurück. Etwas Glück hatten wir aber doch. Die Familien Bock und Maiwald aus unserem Heimatort gehörten zu unserem Treck.“ So verließ unsere Familie im Juni 1945 den Heimatort, ohne zu wissen, ob der Vater noch lebte, wie er uns jemals finden würde und was aus uns werden sollte.

      Von Vrchlabi ging es über Zittau nach Dresden. Manchmal wurden die Waggons einfach auf Nebengleise gefahren und blieben stehen, bis es irgendwann weiterging. In den Nächten wurden wir oft von Einheimischen beklaut. Der Krieg hatte allen Beteiligten die letzte Würde genommen! Die Versorgung wurde manchmal über Suppenküchen organisiert, wobei eine solche Suppe aus Wasser und ein paar Nudeln oder aus Wasser und ein paar Erbsen bestand. Ansonsten hungerten wir oder stahlen Obst, manchmal blieb uns nur Betteln übrig.

      Wenn wir zu Fuß unterwegs waren, hatten sich die Bauern etwas Besonderes einfallen lassen: Sie luden uns rasch am Ortseingang auf Pferdewagen und fuhren im Galopp durch ihre Dörfer hindurch. Am Ortsausgang mussten wir das Gefährt wieder verlassen. Damit verhinderten die Leute, dass wir bei ihnen bettelten oder stahlen. Oft blieb uns nur das unreife Obst von den Bäumen an den Straßenrändern – mit den entsprechenden Folgen wie tagelangem Durchfall.

      Irgendwann kamen wir nach Dresden, aber zu spät, um den letzten Zug nach Bayern zu erreichen. Also ging es weiter: Vor uns lag die Strecke von Dresden über Riesa und Torgau nach Wittenberg, der Stadt an der Elbe, ein zweihundert Kilometer langer, nicht enden wollender Fußmarsch.

      In Wittenberg wurden wir in einer Schule vorübergehend einquartiert. Sie kam uns wie ein Hotel vor: Ruhe, gesichertes Essen und Schlafen im Trocknen, wenn auch auf dem Steinfußboden. Nach einigen Tagen wurden alle Neuankömmlinge auf die umliegenden Dörfer verteilt. Gemeinsam mit Familie Bock aus der Heimat wurden wir einem Dorf zugewiesen, das auf der anderen Seite der Elbe lag: Pratau.

      Wir mussten die Elbe überqueren, die hier wesentlich breiter als in unserer Heimat war. Einige Männer trugen Kinder wie mich einfach über die behelfsmäßige Brücke hinüber. Meine Geschwister und meine Mutti konnten auf breiten Brettern über den Fluss laufen. Auf der anderen Seite der Elbe warteten schon Pferdewagen, mit denen wir in unser zugewiesenes Dorf gebracht wurden.

      Nach ungefähr einer halben Stunde Fahrt hielt der Bauer sein Gespann an. „Halt, Brauner!“, rief der Bauer und drehte sich zu uns um. „Nu steigt mal runter von meinem Wagen, ihr seid jetzt zu Hause.“ Zu Hause? Was meinte er damit? Wir sahen nichts, was die Bezeichnung „Zuhause“ verdient hätte. Was wir erblickten, war eine Gaststätte, die auch schon bessere Zeiten gesehen hatte. „Wo ist denn unser Quartier?“ Aufgeregt riefen alle durcheinander. Mit unserer Familie sollten etwa zwanzig Personen hier einziehen. Es stellte sich heraus, dass der Bauer der Wirt dieser Gaststätte war. „Euer Quartier ist hinten, geht erst einmal ums Haus herum.“ Im hinteren Raum des Hauses war jedoch nur der Tanzsaal. Genau dieser sollte unser neues Zuhause sein.

      „Lasst uns zurück nach Hause, lasst uns doch nach Hause!“, schrien die Frauen außer sich vor Wut und Enttäuschung. Die Verantwortlichen für die Unterbringung hatten alle Hände voll zu tun, die aufgeregten Menschen zu beruhigen. „Lasst uns doch erst einmal den Saal angucken“, rief ein alter Mann, Opa Bock. Die Leute betraten den Saal und schauten sich um. Wenigstens hatten die Bauern für Stroh gesorgt, dass wir nicht auf dem blanken Fußboden liegen mussten. Uns blieb nichts anderes übrig: Der Tanzsaal wurde unser neues Quartier. Keiner der Ankömmlinge ahnte, dass wir mit der Ankunft in Pratau am Ende unserer großen Reise angekommen waren – für immer.

      Irgendwie musste das Leben weitergehen. Die Hauptlast lag auf den Schultern unserer Mütter, denn die Väter und Brüder waren gefallen, verschollen oder in Kriegsgefangenschaft. Der alte Mann – der einzige in dem Saal – übernahm das Kommando. Opa Bock entdeckte im Hof eine alte Schwengelpumpe, aus der wir unser Wasser zum Waschen holten. „Wenn ihr mal müsst, dann pinkelt dahinten in die Hofecke. Große Geschäfte könnt ihr in der Bretterbude erledigen“, wies er uns an. „Nachts nehmt ihr euch einen alten Stahlhelm mit rein. Das muss erst einmal reichen.“ Diese Dinger waren auch als „Nachtgeschirr“ geeignet – welch ein Wandel! In den Nächten wurde geschluchzt, geweint, laut geträumt – und die Kinder riefen nach dem Papa.

      Es war nur eine Frage der Zeit, bis sich ungebetene Gäste einstellten. Und das geschah schnell! Alles, was man an Ungeziefer haben konnte, gesellte sich zu uns: Flöhe, Wanzen, Mäuse. Die Mütter ergriffen sofort Gegenmaßnahmen und die waren alles andere als fein. Trotz lauten Protestes, Weinens und Geschrei schnitten sie allen Kindern eine Glatze. Auch die Mädchen mit ihren schönen langen Haaren hatten keine Chance. Nur ich mit meinen drei Jahren hatte nichts dagegen, weil nun meine Mutti endlich aufhörte, mich zu kämmen.

      Bei unseren Spaziergängen durch das Dorf fanden wir Schilder an den Hoftoren mit „Bissieger Hund“ (der war sicher sehr bissig), obwohl die Leute gar keinen Hund hatten. Die Umsiedler hatten keinen guten Ruf, weil sie alles mitnahmen, was irgendwo herumlag. Das wurde als Stehlen bezeichnet. Aber es gab auch viele Leute, die uns halfen.

      Doch schnell war der Zustand im Saal nicht mehr tragbar, so dass wir mit der Familie Bock und acht weiteren Umsiedlern in das Feuerwehrhaus des Ortes umquartiert wurden. Der Tanzsaal wurde später wieder als solcher genutzt, für uns Umsiedler wurde er am Sonntag auch als Kirche verwendet. Als ich viele Jahre später als Handballtrainer mit meiner Jungenmannschaft den ehemaligen Saal betrat, staunte ich nicht schlecht: Er war zu einer ansehnlichen Sporthalle umgebaut worden.

      Das Leben im Feuerwehrhaus war nicht einfach. Es

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