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uns fast allein, und so hatten wir Gelegenheit, das kommende Großereignis zu kommentieren. „Hoffentlich ist genug Wind und du kommst hoch?“, neckte meine Frau. „Eigentlich habe ich mehr Angst davor, nicht wieder runterzukommen“, lachte Tante Ute. „Na ja“, redete ich ganz schlau. „Oben geblieben ist noch keiner.“ In dieser Stimmung näherten wir uns dem Ziel. Nur das Navi nervte uns – „Bitte wenden, bitte wenden!“ – bis wir es endlich abstellten.

      Das Wetter war unserer Stimmung angepasst, wir hatten uns nicht ein einziges Mal verfahren und der Blick aufs Riesengebirge war wundervoll. Wir machten eine Pause, um das Panorama zu genießen. Es war wie in einem Film: Im Vordergrund sahen wir eine unendlich lange Waldkette, an die sich steinige Gipfel im Hintergrund anschlossen, dazu ein strahlend blauer Himmel. Wir kamen uns vor, als würden wir vor einer phantastischen Kulisse träumen und hatten Mühe, uns von dieser Postkarte in Natur zu trennen.

      „Du wirst es noch besser sehen, nämlich von oben“, machten wir der „Flugschülerin“ Hoffnung. „Mir wäre wohler, ich hätte es schon hinter mir“, sagte Tante Ute. Ihre Stimme verriet Unruhe. „Ich freue mich zwar riesig, aber ich habe ja keine Ahnung, was mich erwartet.“

      Wir waren kaum in unserem Hotel, als der Portier zu uns kam. „Sind Sie die Flieger für die Berge?“, fragte er uns in gebrochenem Deutsch. Wir wussten sofort, was er meinte, und bejahten. „Sie möchten anrufen mit der Nummer wegen Flug!“ Er gab uns einen Zettel.

      Wir wählten die angegebene Nummer. Doch der Mann am anderen Ende der Leitung hatte vielleicht schon einmal einen Touristen aus Deutschland gesehen, sprach jedoch selbst so wenig Deutsch, wie wir Tschechisch. Also baten wir unseren Portier, er möge den Termin und weitere Einzelheiten für uns telefonisch regeln, was er auch gern tat. „Ein Mann mit großen Taschen suchen an der Seilbahn, der ist Flieger“, sagte er uns. „Es ist 10 Uhr die Zeit.“ Wir bedankten uns für seine Hilfe, aber ein Scheinchen wollte er uns nicht abnehmen.

      Wir verbrachten den Abend im Salon mit einigen Gläschen Rotwein und genossen den sagenhaften Sonnenuntergang mit Blick auf das Riesengebirge. Da unser Hotel nur über Serpentinen zu erreichen war, lag das Gebirge wie auf einem Teppich vor uns ausgebreitet. Die Sonne beschien die Berggipfel und tauchte sie in Goldfarben. Wir beobachteten das Gebirge, wie es schlafen ging.

      Am nächsten Morgen fuhren wir zu unserem Treffpunkt nach Špindlerův Mlýn. Am Lift warteten wir auf einen Mann mit großen Taschen. Endlich kam er. Der Portier hatte ihn sehr treffend beschrieben: Er war wirklich mit riesigen Taschen beladen. Wir unterhielten uns kurz, er verteilte die Taschen auf uns, dann ging es mit dem Sessellift auf den Berg. Oben angekommen, machte er uns verständlich, dass er auf entsprechend günstigen Wind warten müsse. Er kontrollierte ständig die Windrichtung und -stärke. Dann kam die „Verkleidung“: Tante Ute musste die entsprechende Ausrüstung anziehen. Dazu gehörten ein Overall, ein Helm und jede Menge Gurte. Wir konnten ein Schmunzeln nicht unterdrücken, denn sie sah – ebenso wie der Chef – ein wenig wie ein Kosmonaut aus. Viele der Wanderer blieben stehen und warteten wie wir auf den Start.

      Als sich der Pilot am Oberarm ein kleines Gerät umschnallte, fragte ich ihn: „Du willst wohl unterwegs deinen Puls messen?“ Da lachte er sich fast kaputt. „Kontakt mit der Kontrollstelle“, grinste er. Meine Schwägerin war noch immer ohne Angst und wartete auf die Dinge, die da kommen sollten. Als alle Vorbereitungen erledigt waren, standen beide startbereit und aneinander geschnallt im Gras. Sie hofften, genauso wie wir und die anderen Zuschauer, auf den richtigen Wind. Plötzlich rief der Chef: „Rennen, rennen!“ – und im Doppelpack rannten sie den Berg ein Stück hinunter. Ohne Schwierigkeiten hoben sie ab und schwebten über dem Boden. Schnell gewannen sie an Höhe. „Geil!“, rief Ute, und sie segelten in den blauen Himmel hinein. Sie flogen mehrere Kreise und genossen den Wahnsinnsblick über die herrliche Landschaft. Viel zu schnell war der Flug vorüber und sie landeten auf einem großen Platz im Tal. Meine Frau und ich waren mittlerweile mit der Gondel den Berg hinunter gefahren und freuten uns riesig, dass alles so problemlos geklappt hatte.

      So richtig glücklich waren wir aber erst, als unsere Segelfliegerin uns munter und aufgekratzt im Tal mit den Worten begrüßte: „Ich lebe noch! Es war herrlich, aber viel zu kurz!“ Für unsere Ute war es eines der schönsten Erlebnisse in ihrem Leben.

      Noch am selben Tag hatten wir das Glück, die Schneekoppe bei strahlendem Sonnenschein zu erleben. Es war so, als hätte sich das Riesengebirge besonders herausgeputzt. Das herrliche Wetter hatte viele Besucher angelockt und es herrschte wahre Volksfeststimmung auf dem Berg.

      Wir stiegen bis zur Mittel-Station der Seilbahn ab und fuhren hinunter ins Tal. Auf unseren Stammplätzen im Hotel klang der Abend aus. Wir stellten fest: Es war wundervoll, aber auch anstrengend gewesen. Deshalb planten wir für den folgenden Tag einen halben Ruhetag. Frisch und ausgeruht würden wir einen Bummel durch meinen Geburtsort unternehmen und dabei meinem Elternhaus einen Besuch abstatten. Ich hatte vor, Tante Ute mein Geburtshaus zu zeigen. Meine Geschwister Reinhard und Maria und auch ich waren viele Male an diesem Haus vorbeigegangen, ohne Kontakt zu den jetzigen Bewohnern aufgenommen zu haben. Man wusste ja nicht, wie sie reagieren würden. Dabei war es mehr als 60 Jahre her, dass wir unser Haus verlassen mussten. Es zog mich förmlich dorthin! Dann kam der Tag, den ich nie vergessen werde.

      Wir parkten an der Poststelle von Černý Důl. Das Wetter war noch genauso toll wie gestern. Heute würde ich es wagen, heute würde ich mein Geburtshaus besuchen und hoffentlich nach all den Jahren zum ersten Mal die Schwelle übertreten. Ich wollte Kontakt zu den neuen Besitzern aufnehmen und hoffte, dass es nette Menschen seien. Die beiden Frauen weihte ich jedoch nicht in meinen Plan ein.

      Sie gingen zehn Meter vor mir, als wir nach einigen Minuten mein Elternhaus erreichten. So hatte ich es mir immer vorgestellt: Es lag im Tal und wurde links und rechts von Bergen eingesäumt. Die Sonne schien, als wollte sie mich ermutigen: „Geh ruhig!“ Als ich eine Frau und einen Mann im gepflegten Garten mit vielen Blumen und Obstbäumen stehen sah, tat ich es wirklich. Mein Herz schlug mir bis zum Hals. Lächelnd und mit einem flauen Gefühl im Magen ging ich auf das Grundstück zu. An der Gartentür blieb ich stehen. Die Beiden hatten etwa unser Alter und sahen mich fragend an.

      „Guten Tag, ich bin … bin hier in diesem Haus geboren“, stammelte ich. Sie sahen mich einen Moment lang an, als müssten sie überlegen. Dann tauschten sie kurz einen Blick und fragten plötzlich: „Du hier Baby?“ Ich konnte nur nicken. Wir waren uns sofort sympathisch, lachten und waren glücklich. Sie stellten sich vor: Sie hieß Martha, er Stenek.

      Es war auf beiden Seiten eine Riesenfreude, und als ich Martha und Stenek sagte, dass ihr Häuschen sehr schmuck sei, freuten sie sich noch mehr. Meine Frau und ihre Schwester kamen langsam auf uns zu. Auch sie wurden freudig begrüßt. Martha und Stenek baten uns in ihr Haus, und ich erlebte einen für mich historischen Augenblick: Nach mehr als 60 Jahren machte ich den ersten Schritt in mein Elternhaus. Dieser Moment rückt mir immer wieder ins Gedächtnis, wenn wir darüber sprechen. Das freundliche Ehepaar zeigte uns alle Räume. In der ehemaligen Stellmacher-Werkstatt meines Vaters wartete eine Überraschung: Hier standen noch alle Maschinen und waren voll funktionstüchtig – von der Säge bis zur Schleifmaschine.

      Stenek hielt plötzlich ein Bild in der Hand. „Kennst du dieses Bild?“, fragte er mich. Es war mein Geburtshaus zu der Zeit, als wir noch darin wohnten. „Hast du noch eins davon?“, fragte ich. Er schüttelte den Kopf, lächelte aber vor sich hin. Wir unterhielten uns mit Händen und Füßen. „Kapitalisten“ und „Kommunisten“ sind internationale Begriffe, zu denen Stenek und ich sehr schnell die gleiche Meinung hatten. Martha zauberte Kaffee und Kuchen und bediente uns wie alte Freunde. Die Zeit verging viel zu schnell und wir mussten uns auf den Heimweg machen.

      Beim Abschied drückten wir uns, als würden wir uns seit hundert Jahren kennen, und versprachen wiederzukommen. Es fiel uns allen sehr schwer, die Tränen zurückzuhalten.

      Als wir am Abend bei einem Gläschen Wein diesen Tag noch einmal an uns vorüberziehen ließen, hing jeder seinen Gedanken nach. Tante Ute hatte einen wunderschönen Urlaub mit einem richtigen Happy End verbracht. Meine Frau und ich waren glücklich, nach über 60 Jahren in meinem Geburtshaus gewesen zu sein und nette und liebe Menschen kennengelernt zu haben.

      Drei

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