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ziehen sollte. Erst nach einer beträchtlichen Zeit des Hinbrütens glaubte ich das richtige Opfer meiner Kritik gefunden zu haben: Dies sollte unsere damalige Grundschul-Vizedirektorin werden! Der wollte ich meine erste Wandzeitung widmen.

      Diese mittlerweile fünfzigjährige Dame fungierte seit Jahren als eine äußerst strenge Vizeleiterin der Schule. Unerbittlich im Umgang mit ihren Schülern konnte sie sogar Ohrfeigen austeilen. Eine Kettenraucherin mit »dunkler« Hautfarbe war sie, wodurch sie womöglich noch härter wirkte. Sie trug im Unterschied zu den meisten anderen Frauen keine kurzen Haare, hatte ihre Haare vielmehr zu einem hohen Knoten gebunden. Sie erschien immer perfekt gekleidet. Manchmal konnte man auch eine kleine silberne Kette an ihrem Hals ausmachen. Und sie lebte alleinstehend.

      Wie viele andere Schüler hatte auch ich große Angst vor ihr. Wenn wir ihr begegneten, dann wagten wir kaum mehr laut zu atmen. So ging es auch mir. Doch jetzt unter dem Einfluss der Kulturrevolution brauchten wir uns endlich vor ihr nicht mehr zu ducken. Jetzt fühlten wir uns ermutigt, ihr gegenüber selbstbewusster auftreten zu können. Wir schienen als Schüler mehr Macht gewonnen zu haben, konnten ihr endlich zeigen, wie ernst wir die neue uns zugemutete Aufgabe nahmen. Nicht nur als autoritäre Lehrerin und Funktionärin, auch als Person und Charaktertyp schien diese Frau für uns das schlechthin ideale Objekt kritischer Entlarvung und Diffamierung: Die Tatsache, dass sie Kettenraucherin war, passte doch wunderbar ins Bild typischer und althergebrachter feudalistischer Gewohnheiten. Die Halsketten, die sie wenn auch ziemlich unauffällig trug, der altmodische Haarknoten, dies alles schien für ihre offenkundige Zuneigung zum westlichbürgerlichen Lebensstil zu sprechen. Und wenn sie überdies Schüler auch noch mit Ohrfeigen strafte, dann sollte sich diese Gewohnheit mit der Vorstellung ihrer Sympathie für heimliche Brutalität fügen. Darin durfte, nein musste man ihre grundsätzliche Distanz, ihre gewollte Entfremdung von der neuen revolutionären Generation sehen. Ohne Zweifel, so dachte auch ich damals, kam in solchen Verhaltensformen die große Entfernung von der Gesellschaft der Zukunft zum Ausdruck. In ihren stets strengen Gesichtszügen musste sich die Unzufriedenheit mit dem gegenwärtigen neuen System und mit unserer neuen Gesellschaft widerspiegeln. Diese Vizeleiterin unserer Grundschule war zweifellos schon eine ältere Jungfer. Sie hatte keine Familie, war vielleicht ja noch auf heimlicher Suche nach einem Mann. Aber sollte sie wirklich eine Chance haben? Unwahrscheinlich, doch man konnte es nie genau wissen. Vielleicht, so dachten wir, dachte nicht nur ich mit ironischer Häme, vielleicht wartete ja ein Mann in Taiwan auf sie! Kurz, diese Frau schien als die Repräsentantin der von uns zu entlarvenden »Schlangengeister«, »Rinderdämonen« und »Revisionisten« ein geradezu mustergültiges Opfer. Alles sprach in der Tat dafür, dass unsere Grundschul-Vizedirektorin eine vorzüglich getarnte Feindin sein musste, die zu entlarven wir verpflichtet waren.

      In dieser Absicht verfassten wir jetzt eine Wandzeitung nach der anderen. Und auch ich beteiligte mich hier mit nicht ganz zu leugnenden Rachegefühlen und mit einem kaum zu überbietenden Eifer, schloss mich wie meine Mitschüler dem Zug der Revolution an, wollte nicht als abgehängter Waggon zurückbleiben. Da ich schon seit geraumer Zeit in einer Malgruppe unserer Schule mitwirkte, versuchte ich neben meinen Textbeiträgen zur Wandzeitung auch Karikaturen dieser Direktorin als Waffe einzusetzen und meiner Kritik damit noch ein zusätzliches Gewicht zu verleihen. Das war für mich ein gefundenes Fressen, denn erst mit dieser Frau hatte ich ein ideales Karikaturobjekt entdeckt. So malte ich sie als eine verruchte Kettenraucherin, als Frau in einem engen Kleid und mit dicken Beinen, an deren Hals eine Perlenkette mit pingpongballgroßen Kugeln hing, als eine Person mit bösen Grimassen, wobei ich ihre Schneidezähne übertrieben hervorhob und ins Groteske verzerrte. Mein Versuch, sie so hässlich wie möglich darzustellen, so dass sie als Inbegriff einer dämonischen Frau erscheinen musste, gelang dann auch zu meiner vollsten Zufriedenheit. Meine Mitschüler amüsierten sich köstlich über meine gelungene Karikatur. Ich war richtig stolz auf mich.

      Unser Eifer fand bei unseren Lehrern großes Lob. Jeden Tag registrierten sie mit Genugtuung, wie viel Tinte und Papier wir schon benutzt hätten und rühmten unsere große Aktivität, die ihnen als Beweis für unsere revolutionäre Motivation und Einstellung dienen konnte. Wir sollten nur so weiter machen! Wir fühlten uns gebauchpinselt und ermutigt, immer mehr Wandzeitungen und Karikaturen zu produzieren.

      Dabei steigerte sich unser Übermut ins Grenzenlose. Wir glaubten immer neue Personen zu identifizieren, die unserer Meinung nach zu den verdächtigen »Schlangengeistern« zu rechnen wären und die aus uns manchmal selber nicht erklärbaren Gründen ins Revier der Revisionisten geraten zu sein schienen. Der Kreis der kritisierten Opfer wuchs wie ein Schneeball. Unsere Wandzeitungen fielen wie Blätter vom Baum. Bald waren alle Wände voll gehängt. Nicht genug damit. Eine Wandzeitung hatte man kaum lesen können, der Klebstoff war noch nicht einmal richtig trocken, da wurde sie schon von einer neuen überdeckt, so dass am Ende viele Wandzeitungen übereinander hingen und deren Zeichen so gut wie nicht mehr lesbar waren.

      Als im Eifer des Gefechtes schließlich immer mehr Lehrpersonal karikiert und ein Pädagoge nach dem anderen vermeintlich als »Bösewicht« entlarvt und auf diese Weise verunglimpft wurde, begann ich doch langsam nachdenklich zu werden und mir Gedanken zu machen – meines Vaters wegen. Ich erinnere mich heute noch daran, eines Tages meine Mutter gefragt zu haben, ob mein Vater als Parteisekretär der Schule vielleicht auch in Gefahr geraten könnte, da jetzt so viele Funktionäre unserer Schule schon aus ihrem Amt gejagt worden waren. Meine Mutter hatte mich damals beruhigt mit den Worten, das sei höchst unwahrscheinlich. Denn gegen meinen Vater gebe es seiner makellosen Vergangenheit wegen kaum Gründe für eine solche diffamierende Kritik, wie sie gegenwärtig allerorten wütete. Schließlich war mein Vater schon mit sechzehn Jahren in die kommunistische Partei eingetreten, zu einer Zeit also, als diese Partei noch nicht einmal offiziell etabliert war. Damals galt er öffentlich lediglich als ein Grundschullehrer, der er tatsächlich war, aber in Wirklichkeit war er überdies hauptsächlich zuständig für die Werbung neuer Mitglieder der Kommunistischen Partei. Er versuchte alle möglichen Leute für die Partei zu gewinnen. Er hatte bei seinem Engagement für die Kommunisten viele Probleme und Gefahren zu fürchten, sogar sein Leben aufs Spiel setzen müssen. Denn wäre seine geheim gehaltene politische Tätigkeit von der damaligen Regierung vor der Gründung der VR China, d.h. bei den damaligen Gegnern der Kommunisten, herausgekommen, dann hätte er sogar mit der Enthauptung rechnen müssen. Dies müssten doch zumindest seine Parteigenossen zu schätzen wissen und somit für ihn bürgen. Deshalb sei er auch schon in jungen Jahren mit der hohen Position des Parteisekretärs betraut worden. Auch hinsichtlich seiner Herkunft würde man vielleicht keinen Kritikpunkt finden, denn mein Vater stammte aus einer mittelreichen Bauernfamilie, aber da seine Familie keine Knechte beschäftigt hatte, zählte sie deshalb regulär nicht zu den Großgrundbesitzern und gehörte mithin zu einer sozialen Klasse, die nicht zu den Ausbeutern rechnete. Mein Vater könne sich der Solidarität der Kommunisten im Grunde sicher sein. Meine Mutter betonte außerdem, seit der Gründung der Volksrepublik habe es schon so viele politische Bewegungen gegeben, doch mein Vater habe immer auf der Seite der überzeugten Kommunisten gestanden, welche die anderen entlarvt und aus den Ämtern gejagt hätten. Und deshalb, davon war sie fest überzeugt, könne ihm auch dieses Mal nichts Widriges zustoßen.

      Hinsichtlich ihrer selbst, so meine Mutter, brauchte ich mir auch keine Sorgen zu machen. Ihre Eltern wären einmal ziemlich reich gewesen, doch seit ihre Großmutter immer tiefer dem Opiumrausch verfallen sei, habe dies Folgen für ihre Familie gehabt, sie sei nämlich allmählich immer ärmer geworden, weil man wegen der Sucht ihrer Großmutter immer mehr Schmuck, später sogar Häuser und einiges Ackerland hatte verkaufen müssen. Entscheidend und zukunftsbestimmend war die Tatsache, dass ihre Familie bei der Bodenreform Anfang der fünfziger Jahre nicht der Klasse der Großgrundbesitzer zugeschlagen worden war. Dafür maßgebend war der Umstand gewesen, dass ihr Vater und dessen zwei Brüder kurz vor der Bodenreform das übriggebliebene Eigentum der Familie unter sich aufgeteilt hatten. Außerdem hatte ihr Vater seine Nebenfrau gehen lassen müssen, weil die Sitte der Polygamie inzwischen abgeschafft worden war. Ihr Vater hatte deshalb eine Heirat seiner Nebenfrau mit einem seiner älteren Knecht arrangiert. Dafür hatte er zudem einen beträchtlichen Teil seines Vermögens eingesetzt. Alle dieser eigentlich unglücklichen Umstände hatten schließlich doch zu einem glücklichen Ende geführt. Denn bei der Bodenreform hatten sich diese Momente als eine Rettung erwiesen: Der Vater meiner Mutter war verschont geblieben

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