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und damit seine Macht missbraucht. Im Grunde hätte ich noch ein Jahr warten müssen. Erst jetzt wurde mir auch klar, warum ich in meiner Klasse die jüngste Schülerin war. Das war also die Erklärung. Ich bin auch nicht einfach so eingeschult worden, sondern hatte zuvor einen Test machen müssen. Ich konnte mich noch genau daran erinnern, wie dieser Test aussah. Man zeigte mir zuerst zehn Gegenstände, wozu beispielsweise eine Schere, ein Pinsel, ein Lineal und ein Stempel gehörten, und verdeckte diese mit einem Tuch. Ich sollte diese mir jetzt verborgenen zehn Gegenstände wieder aufzählen. An sechs Dinge hatte ich mich noch erinnern können und hatte damit gerade noch den Test bestanden. Ein weiterer Test bestand darin, dass ich einige chinesische Zeichen, die man mir vorgelegt hatte, lesen und deren Bedeutungen erkennen musste, was mir zum Glück auch gelang. Damit hatte ich eigentlich die Qualifikation für die Einschulung erworben. Gegen mich sprach im Grunde genommen nur ein formaler Einwand, dass ich nämlich zu jung war. Und dieser Umstand wurde jetzt gegen meinen Vater ausgespielt. So überkam mich ein unerklärliches Unbehagen, ich fühlte mich meinem Vater gegenüber plötzlich schuldig. Meinetwegen musste er jetzt noch zusätzlich Kritik ertragen.

      Mit der Zeit nahmen die Wandzeitungen nicht nur Personen aufs Korn, bei denen die Funktion vermeintlich automatisch zu politisch und moralisch kritisierbaren »Sünden« geführt hatten, sondern sie thematisierten bald auch immer neue Fälle neuer an den Haaren herbeigezogener Enttarnungen. Immer wieder geschah es, dass man bisher gut getarnte »schwarze Flecken« bei manchen Personen mit einer dunklen Vergangenheit oder fraglichen Klassenzugehörigkeit entdeckte. Fast täglich wurde man mit derartigen vermeintlichen Nachweisen konfrontiert und überrascht. Auch die Lautsprecher wurden jetzt eingeschaltet, um gemeinsam mit den Wandzeitungen bisher verborgene Missstände aufzudecken. Es spielte keine Rolle mehr, wenn jemand, der heute denunziert wurde, früher vielleicht ein angesehener und beliebter Mensch gewesen war. Jeder hatte das Gefühl, auf einer dünnen Eisschicht zu gehen, die jeder Zeit einbrechen konnte.

      Immer wenn eine neue Wandzeitung aufgehängt wurde, versammelte man sich scharenweise davor, um den neuesten Stand der Spionageergebnisse zu erfahren. Man hatte nämlich längst registriert, dass sich die Spurensuche nicht mehr nur auf die ehemaligen Funktionäre konzentrierte, sondern sich auch auf die untere Ebene der Hierarchie ausgeweitet hatte. Jetzt standen die kleineren Funktionäre im Rampenlicht. Und zuletzt richteten die Rotgardisten sogar auf unsere sämtlichen Lehrer ihre gnadenlosen Angriffe. Die Liste der in ihre Kritik geratenen »Schlangengeister« und »Rinderdämonen« wurde mit jedem Tag länger und länger. Niemand konnte mehr sicher sein, ob er nicht am nächsten Tag als Feind des gegenwärtigen Gesellschaftssystems angeschwärzt und irgendeiner Kategorie von »Sündern« zugeschlagen wurde. Jedermann war jetzt besorgt um sich selbst. Jeder versuchte dem dadurch vorzubeugen, dass er seine revolutionäre Gesinnung so plakativ wie möglich demonstrierte. Jeder wollte als ein Roter erkannt werden und als zweihundertprozentiger Revolutionär auffallen.

      Als in den Wandzeitungen schließlich sogar Menschen mit Haustieren oder einer Haushälterin ins Visier der Kritik gerieten und auch dies als ein verräterisches Zeichen für den bourgeoisen Lebensstil reklamiert wurde, da hatte dies zur Folge, dass alle, die eine Haushälterin bei sich beschäftigten, aus Angst, sie könnten die nächsten Opfer der Denunzierung werden, in ihrer Nervosität in der Weise reagierten, dass sie ihre Haushälterinnen sofort entließen. Daraus entstand manche Tragödie, denn viele Haushälterinnen hatten entweder schon längst kein Zuhause und damit also keine Zufluchtsstätte mehr, oder sie hatten nach Verlust dieser Arbeitsstelle keine andere Chance mehr, für ihren Lebensunterhalt zu sorgen. Außerdem gehörten sie meist schon zur Familie, in der sie beschäftigt waren.

      Die Besitzer von Haustieren mussten auch sofort handeln und ihre Lieblinge entweder in einem Park oder in der freien Natur aussetzen, es sei denn, sie konnten diese Tiere einer Familie auf dem Land anvertrauen. Wer hier zu spät reagierte, der musste damit rechnen, dass die Rotgardisten ihm die Tiere wegnahmen. Meine Freundin hat mir einmal erzählt, als ihr Xiaohei, ein kleiner schwarzer Hund, von Rotgardisten mit Gewalt fortgenommen wurde, habe sie ihren Vater zum ersten Mal in ihrem Leben weinen sehen.

      Mit der Zeit veränderten sich auch Sprache und Stil der Kritik. Die Aggressionen nahmen mehr und mehr zu. Hass und Brutalität brach aus allen Zeilen hervor. Angesichts dieser streitsüchtigen Wandzeitungssprache konnte man in der Tat den Eindruck gewinnen: In der Luft roch es schon nach Schießpulver.

      Zum Erstaunen aller Bewohner unserer Schule hatte man eines Tages im Kreis der gewöhnlichen Mitarbeiter selbst unseren Hausmeister als einen raffiniert getarnten Feind entlarvt. Ein Handwerker wie dieser zählte doch im Grunde zu den Gewährsleuten revolutionärer Gesinnung und trug sozusagen einen roten Schutzpanzer. Niemand konnte glauben, dass dieser schweigsame und fleißige Mann, wie man herauszufinden geglaubt hatte, früher ein Ausbeuter gewesen war, nicht gerade ein Großbauer, aber doch ein Bauer mit Besitz, der einige kleinere Grundstücke vermietet hatte und deshalb eben auch der ausbeutenden Klasse zuzurechnen war. Jedenfalls stand das in diesem Sinn schwarz auf weiß auf einer Wandzeitung, signiert von Vertretern der revolutionären Masse.

      Diese Denunzierung hatte viele nicht nur unangenehm überrascht, sie musste geradezu reichlich Verwirrung stiften, denn alle hatten doch den Hausmeister als einen integren Zeitgenossen vor Augen und konnten sich beim besten Willen nicht erinnern, auch nicht vorstellen, dieser Mann hätte sich jemals eines Vergehens schuldig gemacht. Unser Hausmeister war immer hilfsbereit gewesen, war jemand, der als erster in der Schule aufstand und wohl als letzter ins Bett ging, der sich schlechterdings um alles kümmerte, immer sofort kam, wenn man ihn brauchte, selbst an den Wochenenden und wenn er frei hatte. Alle wussten das, viele hatten das selber erfahren. Und jetzt, seit dem Aushang dieser Wandzeitung, wurde er wie eine Ratte gejagt und denunziert. Wenn er nun wirklich ein Ausbeuter gewesen war, dann gab es den neuen Regeln entsprechend keine Gnade für ihn, dann gehörte er jetzt wirklich auch zu den Feinden des Volkes! Sogar mit einem verächtlichen und teuflischen Spruch hatte man ihn bedacht und ihn mit folgender bitteren Satire zu erniedrigen gesucht:

      »Der Hausmeister, eine getarnte Ratte, saugt das Blut der armen Bauern«.

      Es dauerte nicht lange und alle Kinder, viele Schüler nahmen diesen Spruch in den Mund und riefen ihm diese Schmähworte hinterher.

      Das traf den Hausmeister wie ein Pfeil mitten ins Herz. Drei Tage später, noch ehe man entschieden hatte, welche Art von Strafe man für diesen Ausbeuter anwenden sollte, wusste man doch nicht recht, ob man einen Hausmeister, der doch eigentlich zu den Arbeitern gehörte, genauso behandeln sollte wie die anderen »Schlangengeister« und »Rinderdämonen«, hatte der Betroffene selber ein Gift gegen die Ratte, die er verkörpern sollte, genommen, war auf den mindestens zehn Meter hohen Schornstein der Mensa gestiegen und hatte sich hinuntergestürzt. Niemand hatte das gesehen. Erst später hat man seine Leiche entdeckt. Ich sah von weitem nur die Füße unseres toten Hausmeisters, der mit einem zu kurzen Tuch notdürftig bedeckt neben dem Schornstein lag. Ich glaube, hier das erste Mal in meinem Leben einen Toten gesehen zu haben.

      Ein weiteres unerwartetes Opfer der Wandzeitungskampagne war unsere Englischlehrerin, obwohl sie gleich zu Beginn der Kulturrevolution vorsichtshalber ihren verdächtigen Namen, der auf eine bürgerliche Herkunft schließen ließ, geändert hatte. Auf einmal hieß sie von heute auf morgen nicht mehr Meimei Sun, übersetzt also die Schönheit Sun, sondern jetzt Weimin Sun, also Sun für das Volk. Sie hatte also ihren Vornamen offenkundig im politischen Interesse geändert. Aber das hat ihr am Ende nicht viel geholfen. Trotzdem ist sie nicht ungeschoren davongekommen. Man hat sie dennoch als ein typisches Beispiel für den bourgeoisen Lebensstil scharf kritisiert. Das konnte die meisten auch nicht überraschen, denn Meimei Sun hatte sich, wie ihr ursprünglicher und vielen noch bekannter Name besagt, wie ein Pfau (= Meimei) in der Schule, immer auffällig modisch gekleidet, hatte sich wie ein vornehmes bürgerliches Fräulein aufgeführt. Überdies wussten viele, dass sie viele englische Bücher besaß. War nicht England ein kapitalistisches Land? Jetzt also war diese Lehrerin das Ziel der Kritiken vieler Wandzeitungen geworden und ein dankbares Objekt vieler Karikaturen. Als demütigende Strafe hatte man dieser Person, der vornehmsten Frau unserer Schule, zugemutet, nun den Schulhof zu fegen und sie auf diese Weise der Lächerlichkeit preisgegeben. Früher hatte sie meist eine duftende Parfümwolke hinterlassen, wenn sie an einem vorbeiging, jetzt musste sie unfreiwillig eine Staubfahne hinter sich herziehen.

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