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Hause, verwehrte mir den Anblick des Geburtsvorgangs mit dem Argument, ein Mädchen dürfe dies nicht sehen. Ich verstand das nicht und war richtig sauer.

      Doch von diesem Tag einmal abgesehen war das im Großen und Ganzen damals eine richtig schöne Zeit auf dem Land gewesen. Wir Kinder, mein Bruder und ich, durften hier fast alles tun, was uns gefiel, auch was wir normalerweise bei uns zu Hause nicht hätten machen dürfen. Natürlich haben wir auch manches Abenteuer erlebt. So etwa, wenn meine Großmutter auf einem riesigen Mühlstein vor dem Haus, der mindestens einen Umkreis von einem Meter hatte, Getreide mahlen ließ. Um diesen Stein herum zog dann ein Esel mit verbundenen Augen einen rollenden Läuferstein, der das Mahlgut zerkleinert und zerrieben hat. Meine Großmutter ging direkt hinter dem Esel her, um mit einer Handschaufel das festgepresste Mahlgut immer wieder zu lockern. Diese Beobachtung fand ich aufregend, sie weckte meine Lust, es der Großmutter gleichzutun. Ich wollte unbedingt auch hinter dem Esel herlaufen. Nach wiederholter Bitte erlaubte mir das meine Oma sogar, doch sie tat es mit der entschiedenen Warnung, ich solle meine Hand nie ausstrecken. Aber schon nach wenigen Runden um den Mühlstein herum hatte ich alle Warnungen und Ermahnungen vergessen und streckte hin und wieder heimlich meine Hand aus, um wie die Großmutter das Mahlgut damit zu lockern. Es dauerte nicht lange und dann war’s passiert: Natürlich überrollte der Mühlstein meine ausgetreckte Hand und presste mir zwei Fingernägel ab. Das war nicht nur sehr schmerzhaft. Es war für alle ein großer Schrecken. Glücklicherweise wuchsen meine Fingernägel allmählich wieder nach, und dieser Unfall hatte keine schwerwiegenden gesundheitlichen Folgen für mich.

      Ein anderes Mal hatten mein Bruder und ich unbedingt mit einem vorbeifahrenden Kutscher mitfahren wollen. Der Kutscher, ein fröhlicher Bauer, ging dann auch darauf ein und erlaubte uns, bis zum nächsten Dorf mitzufahren. Wir saßen stolz oben auf dem Wagen, der voll beladen war mit allen möglichen Getreidesäcken und mit uns über die unebenen Landstraßen holperte, vorbei an den Maisfeldern, kleinen Teichen und einsamen Gehöften. Unser Weg führte über mehrere kleine Brücken und Bächlein. Das alles war für uns Großstadtkinder faszinierend, die ganze Gegend so malerisch schön. Wir schauten neugierig umher und kamen aus dem Staunen nicht heraus. Wir genossen nach Herzenslust den goldenen Überfluss der Welt: die herrliche Landluft, den Duft des Getreides, selbst den Geruch des Viehmistes. Darüber vergaßen wir vollkommen die Zeit und verloren schließlich das Gefühl dafür, dass wir uns schon recht weit vom Haus unserer Großeltern entfernt hatten. Erst am späten Abend kamen wir endlich auf dem gleichen Weg wieder nach Hause zurück, wo unsere Großeltern und Onkel schon unruhig, ja fast verzweifelt am Dorfrand auf uns gewartet hatten.

      Diese Erlebnisse waren mir sofort wieder in Erinnerung gekommen, als mein Vater von Großmutters Besuchsabsicht geredet hatte. Endlich war’s dann soweit. An einem frühen Sommertag sollte die lange und sehnsüchtig erwartete Großmutter ankommen. Mein Vater fuhr mit mir zum Bahnhof, um sie abzuholen.

      Als wir sie auf dem Bahnsteig in Empfang genommen hatten, machte mein Vater zu meinem Erstaunen aber überhaupt keine Anstalt, unseren Besuch sofort nach Hause zu bringen. Er steuerte vielmehr einen leeren Platz unter einem Baum vor dem Bahnhof an und verhielt sich damit für mich völlig unbegreiflich und sonderbar. Er legte dann Zeitungspapier auf dem Boden aus und bat meine Großmutter sich dort hinzusetzen. Mir erklärte er nur, er habe etwas Wichtiges mit Oma zu besprechen, ich möge sie deshalb für kurze Zeit allein lassen und in seiner Sichtweite doch ein bisschen spielen. Ich sah ihn etwas ungläubig und irritiert an, verstand die Situation überhaupt nicht und wollte natürlich dabei bleiben und auch hören, was denn für wichtige Angelegenheiten mein Vater mit der Oma zu bereden hätte. Doch mein Vater schaute mich ernst an wie ein General, dessen Befehlen man unbedingt zu gehorchen hatte. Und so fügte ich mich als gehorsame Tochter und entfernte mich.

      Unwillig ging ich zum nächsten Baum, wollte mich dort allein beschäftigen, summte vielleicht ein Liedchen, spielte mit einem Zweig herum, grub in der Erde oder zeichnete irgendetwas in den Boden, erfasste einen kleinen Baumstamm wie eine Stange und drehte mich um ihn im Kreis. Immer wieder schweifte mein Blick in Richtung meines Vaters, der mit ernster Miene meiner Großmutter gegenüber saß und ständig zu reden schien, wobei er eine Zigarette nach der anderen rauchte. Meine Oma hörte offensichtlich aufmerksam zu, und ab und zu wischte sie sich mit ihrem Ärmel die Augen. Ich konnte leider nicht hören, worüber sie redeten, doch den ernsten Gesichtern der beiden konnte ich ablesen, dass es sich wohl um ein besonders schwieriges und ernstes Thema handeln musste.

      Ich hörte mit meiner Spielerei auf und lehnte mich nur noch an meinen Baum, um die beiden noch genauer beobachten zu können. Meine Oma saß mit dem Rücken zu mir im Schneidersitz mit gekreuzten Füßen, ihre beinahe noch weißen Schuhsohlen stachen mir in die Augen. Offenbar trug sie ein Paar neue Schuhe, weil die Sohlen noch nicht gedunkelt waren. Und sie hatten eine zierliche nußartige Form, vorne spitz, hinten rundlich. Großmutter hatte mir einmal gesagt, dass sie schon seit vielen Jahren, seit die herkömmliche Sitte des Füßebindens verboten worden war, ihre Füße nicht mehr so fest band wie früher und diese damit ein wenig größer geworden waren, obwohl sie immer noch winzig schienen. Selbst meine Füße, so mein Eindruck, waren noch größer als ihre. Einmal hatte sie mir auf meine Bitte hin ihre Füße gezeigt. Schön waren die wirklich nicht mit den vorne krummen, verbogenen Zehen und dem hinteren ziemlich dicken, geschwollenen Teil, der wie eine Kugel aussah. Doch die Füße waren ihr ganzer Stolz, so hatte sie mir erzählt. Mit sechzehn Jahren war sie wegen ihrer besonders winzigen Lotosfüße gerühmt worden, und ihr Ruf als schönfüßige Frau war sogar in die Nachbardörfer gedrungen. Wen wundert es da, dass die Ehevermittlerinnen die Türschwellen ihres Elternhauses beinahe plattgetreten hatten! Jede von ihnen hatte damals um ein Muster ihrer Schuhsohlen als Beweis dafür gebeten, dass die Oma damals in der Tat wunderschöne winzige Füße hatte, und hatte dies immer in Familien mit heiratsfähigen Söhnen gezeigt. Zuletzt hatte ihr Vater, also mein Urgroßvater, einen Sohn aus einer mittelreichen Bauernfamilie als Prinzen auserwählt, und so war meine Großmutter eines Tages in einer Sänfte, deren Vorhänge mit Mandarinentenpärchen und Blüten geschmückt waren, ins Haus meines Großvaters getragen worden. Als die Braut dann aus der Sänfte gestiegen war, hatten alle ihre Blicke auf deren Füße geworfen (ihr Gesicht war ja noch mit einem roten Tuch bedeckt). Erst nach dem Ritual aller möglichen Verbeugungen vor dem Himmel und vor der Erde, vor dem Altar der Vorfahren, vor den Schwiegereltern, vor sämtlichen Verwandten und nach dem gegenseitigen Verbeugen der beiden Brautleute sowie anderen feierlichen Zeremonien hatte dann mein Großvater das Kopftuch seiner Braut heben dürfen und sie zum ersten Mal sehen können. Das gleiche war in diesem Augenblick auch meiner Großmutter widerfahren: Erst jetzt hatte sie ihren künftigen Mann zum ersten Mal gesehen. Doch selbst in diesem Moment hatte sie sich damaliger Sitte gemäß verhalten und sich geniert, hatte ihrem Mann nicht direkt ins Gesicht schauen können und verschämt ihre Augenlider gesenkt. So war das früher gewesen, und keineswegs nur bei den Großeltern, erfuhr ich nun. Man hatte nicht geheiratet, weil man sich kennengelernt und verliebt hatte, sondern man hatte sich eben erst nach der Heirat lieben gelernt. Und im Grunde waren meine Großeltern ein durchaus glückliches Paar, obwohl sie das doch nie ausgesprochen hatten. Jedenfalls so viel ich wusste, auch sagte mir das mein Gefühl.

      Meine Gedanken waren vorübergehend ganz in Erinnerung an Großmutters Lebensgeschichte versunken. Doch jetzt schaute ich wieder hinüber zu meinem Vater, der immer noch auf die Großmutter einredete, und dachte, wann die beiden endlich fertig wären mit ihrem ernsten Gespräch, wann es endlich nach Hause gehen würde. Denn so langsam spürte ich meinen Magen knurren. Mein Vater schien meine Ungeduld bemerkt zu haben und rief mich zu ihnen. Meine Großmutter öffnete ihr mit einem Tuch umspanntes Gepäck und holte eine große Tüte mit geschälten und sogar gerösteten Erdnüssen heraus. Mein Vater ergriff eine Handvoll davon und steckte sie in meine Jackentasche. Und damit schickte er mich erneut zum Spielen in seiner Nähe fort. Die wichtige Unterredung hatte also doch immer noch kein Ende gefunden. Ich setzte mich wieder unter meinen Baum und begann, die Nüsse zu essen. Als ich die ganze Portion verdrückt hatte, schaute ich wieder hinüber zu den beiden, die immer noch einander gegenüber saßen, kaum noch miteinander sprachen, immer wieder sich schweigend ansahen. Mir riss so langsam die Geduld, wann würden wir denn endlich nach Hause gehen? Mein Vater schien sich damit immer noch Zeit zu lassen. Mir blieb nichts anderes übrig, als doch weiter zu spielen und mich selbst zu beschäftigen. Ich tauchte erneut in meine Erinnerungen ein.

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