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für unsere Schulbibliothek. Auf der Bühne, auf der früher der Kaiser den Zeremonien beigewohnt hatte, stand nun morgens ein Sportlehrer, der allen Schülern das Kommando zur Gymnastik gab. Um die ehemaligen funktionslos gewordenen und im Freien stehenden Altäre entdeckten wir Schüler geradezu ideale Spielplätze. Hier konnten wir alle möglichen Versteck- und Jagdspiele inszenieren. Die kleinen Pavillons, wo früher im Rahmen der Zeremonien Opfertiere geschlachtet wurden, dienten heute als Abfalldeponien. Die weitläufigen Gelände um die Altäre herum wurden jetzt mit reichen Obstbaumgärten und einem ausgedehnten Gemüsegarten versehen. Darüber hinaus gab es einen reichen Baumbestand, der vielen Tieren ideale Brutstätten bot und die Möglichkeit, sich hier heimisch zu fühlen.

      Da meine Eltern beide in dieser Schule arbeiteten und auch hier wohnten, lebte ich von Geburt an ständig hier. Hier bin ich in den Kindergarten gegangen, und hier bin ich später eingeschult worden. Abgeschirmt von der Außenwelt bin ich hier sorglos, ja glücklich aufgewachsen. Obwohl in den Jahren zwischen 1957 und 1960 in ganz China eine spürbare Hungersnot geherrscht hatte, wie ich später erfahren sollte, verbinde ich selber damit kaum Erinnerungen, wüsste nicht, dass ich an Hunger oder irgendetwas anderem gelitten hätte. Erst viele Jahre später, wenn ich die alten Familienfotos betrachtete, ist mir aufgefallen, dass meine Eltern auf den Bildern aus dieser Zeit besonders schmächtig aussahen. Für mich war es eigentlich eine unbeschwerte Kindheitszeit. Deutlich in Erinnerung geblieben sind mir der Frühsport im kleinen Baumgelände, unsere herrlichen Versteckspiele zwischen den Altären oder unser Fangen von Libellen im Sommer. Vor allem an den Wochenenden, wenn alle außerhalb unserer Einheit wohnenden Schüler nach Hause gefahren waren, herrschte in unserer Schule eine geradezu himmlische Ruhe. Sogar manche Tiere unseres kleinen Zoos durften dann ihren freien Auslauf im Schulgelände genießen und munter herumspazieren. Auch wenn sie uns Kinder manchmal ein wenig attackierten, fanden wir das im Grunde nur lustig und sahen uns dadurch zu spielerischen Gegenangriffen berechtigt.

      Soweit meine Erinnerung zurückreicht, sehe ich meinen Vater mitten auf der Bühne unserer Schule. Bei jeder Veranstaltung der Schule, sei es bei der Feier zu Schuljahrsbeginn, zur Neujahrsfeier, bei der Zeugnisverteilung oder bei verschiedenen Versammlungen, immer sehe ich meinen Vater im Zentrum unserer Schule. Fest eingeprägt hat sich das Bild des Vaters, der zu Beginn von Schulveranstaltungen oder gegen Ende ans Mikrofon geht und eine Rede hält. Erst viel später habe ich erfahren, aus welchem Grund mein Vater immer im Brennpunkt unserer Schule stand: War er doch ein bedeutender Funktionär, ja der Parteisekretär dieser Schule. Erst allmählich habe ich verstanden, dass er als Parteisekretär die Richtlinien der Schule bestimmt und kontrolliert hat. Ein Mann, den ich Onkel Luo nannte, war der Direktor unserer Schule, der sich um konkrete Dinge, wie die Organisation des Unterrichts und Fragen der Verwaltung sowie das Leben der ganzen Belegschaft zu kümmern hatte. Mir wurde klar, warum Onkel Luo bei allen Versammlungen immer neben meinem Vater vorne auf der Bühne saß. Seine drei Kinder gingen wie ich in denselben Kindergarten, und wir waren übrigens auch Nachbarn. Oft haben wir gestritten, wessen Vater in der Schule den höheren Rang habe. Als ich einmal meinen Vater danach fragte, kräuselte er seine Stirn und sagte mir mit ernster Miene, ich sollte nie mit jemandem darüber streiten. Er legte großen Wert darauf, dass ihm kein besonderer Rang zugesprochen wurde und wünschte wie alle anderen Lehrer ohne persönliche Privilegien behandelt zu werden. Er sagte es nicht nur so, er handelte auch entsprechend und gab sich bewusst volksnah. Nie habe ich je gemerkt, dass er etwas Besonderes sein wollte oder sich überheblich zeigte. Er verhielt sich immer wie ein ganz normaler Lehrer.

      Da alle, die in unserer Schule wohnten, sich einander gut kannten, glaubte ich in einer großen Familie zu leben. Ich nannte unsere Mitbewohner Tanten oder Onkel, gleich ob sie Lehrer oder Hausmeister oder Krankenschwestern waren, während diese mich mit meinem Kosenamen »Jünchen« nannten. Dieser enge und vertrauliche Kontakt wurde noch dadurch intensiviert, dass alle zusammen in der Kantine aßen, denn niemand verfügte über eine eigene Küche. Am Wochenende gab es immer nur zwei Mahlzeiten, dafür aber besonders leckere Speisen, die alle Erwachsenen dazu einluden, länger als gewöhnlich in der Kantine zu verweilen. Dann verwandelte sich dieser Speisesaal in einen Unterhaltungsraum, in dem die Älteren sich Geschichten erzählten oder gemeinsam Karten und Schach spielten, währenddessen wir Kinder fröhlich herumtollen konnten. Bei allen Festen gab es eine gemeinsame Feier in der Aula, die dann entsprechend mit bunten Ballons und Blumen geschmückt war und bei der sich Jung und Alt am Programm der Vorführungen beteiligt hat. Da durften natürlich auch lustige Gewinnspiele nicht fehlen, bei denen jeder freudig mitmachte. Im Frühling und im Herbst hat unsere Schule jeweils Ausflüge in die städtischen Parkanlagen oder in die nähere Umgebung von Beijing organisiert, und jeder hat dann ein schönes Picknick-Paket aus unserer Kantine erhalten. Auch dies stimmte mit dem Bild einer allgemeinen Harmonie und Zufriedenheit überein, in der wir damals lebten.

      Das durfte man mit Recht auch von unserem Alltagsleben behaupten, denn auch dies verlief in der Regel beschaulich. Der Tagesrhythmus sah sechs Stunden Schulunterricht vor, dazwischen eine Mittagspause, in der sich alle in ihre Wohnheime zurückzogen und eine Siesta machten. Und nach getaner Arbeit haben wir uns auf unseren Sportplätzen getummelt, uns am Ballspiel erfreut, an Handball, Volleyball und Basketball und an anderen Wettkämpfen. Jedes Jahr fanden zwei Sportfeste statt, und zwischendurch hatten wir immer wieder Gelegenheiten, klassenweise sportlich miteinander in verschiedenen Ballsport-Disziplinen zu wetteifern, wobei sich auch unsere Lehrer mitunter daran beteiligten. Dabei spielte die Talentförderung eine große Rolle. Außerdem gab es bei uns eine Kapelle, und wir konnten Musikinstrumente lernen, um hier mitzuspielen und uns an der Musik zu erfreuen. Auch die Malerei kam gebührend zur Geltung. Verschiedene Malgruppen hatten sich gebildet, von denen die eine sogar ihre vorzüglich gelungenen Bilder in unserer Aula ausstellen und einer breiteren Öffentlichkeit präsentieren konnte. Derart harmonische Verhältnisse herrschten früher in unserer Schule, und jedermann sah sich seiner Begabung und seinem Interesse entsprechend gefördert und konnte das Gefühl haben, zu seinem Recht zu kommen, das Verständnis und die Anerkennung aller zu finden.

      Man könnte mir vielleicht vorhalten, alles ins idyllische Licht gerückt zu haben. War das nicht doch ein wenig stilisiert und unrealistisch dargestellt? Auf welchem Planeten lebte ich denn eigentlich? Natürlich, hier spielte meine kindliche Optik eine wichtige Rolle. Als Kind hatte man noch nicht so viele Ansprüche. Soweit man satt wurde und viel Platz zum Spielen hatte, ist für ein Kind die Welt in Ordnung. Sicherlich gab es auch Konflikte und Widersprüche in der Schule, die ich als Kind noch nicht ernstlich wahrnehmen konnte und auch nicht registriert habe; nicht zuletzt, weil sie wohl auch nicht verlautbart und öffentlich ausgetragen worden sind.

      Von meinen älteren Mitschülern konnte ich eigentlich nur sagen, dass sich die meisten von ihnen lernwillig und friedfertig aufführten und in der Schule wie erwartet diszipliniert und höflich allen Lehrern gegenüber auftraten. Nie hatte ich von Unstimmigkeiten gehört, nie von größeren Streitereien. Umso unverständlicher war der spätere Wandel im Verhalten vieler Schüler, waren doch aus manchen Schafen in kurzer Zeit Wölfe geworden.

      Doch mit den beinahe idyllischen Zuständen in unserer Schule war es zu Beginn der Kulturrevolution 1966 vorbei, und eine Zeit der Wirren und Turbulenzen hatte seither begonnen.

      GEHEIMNISVOLLES AM BAHNHOF

      Im Frühling 1966 hatte mir mein Vater freudestrahlend mitgeteilt, meine Großmutter vom Land werde bald zu uns kommen, um während der Sommerferien auf mich aufzupassen und für einige Zeit mit uns zusammen zu sein. Diese Nachricht hatte mich hoch erfreut, und ich schmiedete eifrig Pläne und überlegte, was ich mit ihr unternehmen könnte.

      Ich kannte meine Großmutter sehr gut, denn als ich noch ein kleines Kind war, hatte ich hin und wieder ein paar Monate bei ihr verbracht. Da mein Großvater in seiner Volkskommune für das Treibvieh zuständig war, durfte ich ihn oft in den Stall begleiten. So konnte ich ihm helfen, die Tiere zu füttern, und konnte mit den Kälbern spielen. Nur einmal, als eine Kuh ein Kalb gebar, erlaubte mir mein Großvater nicht, das ganze Geschehen mitzuerleben. Das hat mich damals sehr geärgert, zumal die Männer des ganzen Dorfes sich um den Stall herum drängten und bei dieser Geburt zuschauen durften, sogar mein drei Jahre jüngerer Bruder. Auch er genoss das Privileg, weil er eben kein Mädchen war. Als ich trotzdem versuchte, mich

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