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warum jehtet ni’ weiter?», quengelte eine Frau hinter ihnen.

      «Weiter, Genossen! Nicht gleich im Eingang der Revolution stehen bleiben», rief ein Mann. Irgendwer schubste Kappe. Die drei wurden unerbittlich die Treppen zu den oberen Rängen hochgeschoben. Im Gewühl entdeckte Margarete eine Kollegin. Die Frau winkte und begann sofort, ihre Sitznachbarn umzusortieren und zusammenrücken zu lassen, damit Margarete und ihre beiden Begleiter sich neben sie setzen konnten. Kappe und Trampe folgten Margarete, stiegen über Beine, drückten sich an den Sitzenden vorbei und quetschten sich neben die Frau. Sie war klein und rundlich. Kappe fielen ihr sehr roter Mund und ihre gesunde Gesichtsfarbe auf. Er wunderte sich, wie frisch sie im Gegensatz zu ihnen allen aussah.

      «Darf ich euch vorstellen: Luise Görtz, Beauftragte von Wertheim. Luise hat übrigens auch mal bei Hertzog gearbeitet. Luise, das sind meine Freunde Hermann Kappe und Theodor Trampe.» Kappe schüttelte Luises Hand.

      «Kappe? Sind Sie nicht der, der damals unse’ Klara jeheiratet hat? Wat waren Sie noch mal? Kriminaler?»

      Kappe nickte.

      «Schöne Freunde hast du. Fehlt nur noch, dass dein Trampe Mehrheitssozialist ist.» Luise griff nach Trampes Hand.

      Nach der ersten Schrecksekunde fing Trampe an zu lachen.

      «Kein Wunder, dass Margarete und Sie befreundet sind!»

      «Sei vorsichtig, was du sagst, Trampe», sagte Margarete.

      «Hast recht, Luise. Ist zwar nicht mein Trampe, aber Mehrheitssozialist ist er trotzdem.»

      «Und Arbeiterrat bei DeTeWe.» Trampe war hörbar stolz.

      «Na, ick sage immer, jeder nach seiner Fasson. Mensch, kiekt ma, da vorne geht’s gleich los!»

      Kappe sah in die Manege, wo ein Podium und Tische aufgebaut waren, an denen mehrere Männer in Anzügen saßen. Kappe glaubte, Ebert, Liebknecht und Barth zu erkennen. Einige der Männer waren in Gespräche vertieft, andere wandten sich den Rücken zu. Einer trat ans Podium und schlug eine Glocke an. Und obwohl Kappe den Glockenschlag kaum hören konnte, erstarb wie auf Kommando jegliches Geräusch. Kappe sah sich um. Die Ränge waren schwarz von Menschen. Alle Blicke waren gebannt auf das Podium gerichtet. Luise starrte durch ein Opernglas nach vorne. Nach ein paar scheinbar einleitenden Worten gab der Mann das Podium für einen anderen frei. Luise stieß Kappe in die Seite und drückte ihm das Opernglas in die Hand. Ihr Mund formte das Wort «Ebert». Kappe schaute durch das Glas, und sein Blick verfing sich zunächst in den Reihen der Soldaten, die so diszipliniert dasaßen, als wären sie gefroren. Sein Blick tastete sich weiter zum Podium. Im Opernglas erschien ein dunkelhaariger vierschrötiger Mann, dessen Kopf fast halslos auf dem tonnenförmigen Oberkörper aufsaß. Das Gesicht beherrschte ein dunkler Schnurrbart, ergänzt durch einen Kinnbart in der Form eines Kommas. Ebert sah genauso aus, wie Kappe ihn von den Zeitungsphotos her kannte. Seine Körpersprache war behäbig. Kappe konnte die Worte «Einigung der sozialistischen Parteien» von seinen Lippen lesen. Er setzte das Opernglas ab und sah, dass Trampe sich, das Gesicht vor Konzentration verzogen, die Hände an die Ohren hielt, um besser zu hören. Kappe gab das Opernglas an ihn weiter.

      Ebert redete noch eine ganze Weile. Plötzlich brandete in den unteren Rängen Applaus auf. Die Rede war beendet. Der Applaus pflanzte sich fort bis in die letzten Ränge. Ein anderer Mann erklomm das Podium. Kappe erkannte das schmale Gesicht mit dem gewaltigen Schnurrbart. Es war Haase, der Vorsitzende der Unabhängigen. Nun teilten sich Margarete und Luise das Opernglas. Beide waren angespannt, und diejenige, die hindurchsah, erklärte der anderen, was sich in der Manege abspielte. Obwohl die Akustik im Zirkus eigentlich gut war, waren die Stimmen zu schwach, um bis in alle Ränge zu dringen. Kappe konnte wie die meisten anderen weder die Reden verstehen noch genau sehen, was passierte. Seine Blicke wanderten über die gefüllten Ränge bis hin zur Kaiserloge. Die roten Samtvorhänge waren zugezogen. «Für dich ist die Vorstellung ein für alle Mal vorbei», dachte Kappe wütend. «Du gehst einfach nach Holland, und wir müssen sehen, wie wir aus dem Kladderadatsch wieder rauskommen.»

      Vor anderthalb Jahren war er mit Klara hier gewesen, als die Pantomime Die versunkene Stadt uraufgeführt worden war. Hungrig und frierend waren sie durch den Schneematsch gestapft, und die fahle Februarsonne war ihnen genau so ausgelaugt vorgekommen wie sie selbst. Im Zirkus war es warm vor Menschen gewesen. Die beiden hatten das erste Mal seit Wochen nicht gefroren. Klara hatte aufgeregt Ausschau nach dem Kaiser gehalten, doch schon damals war die Loge leer gewesen. Aber auch ohne Kaiser war der Besuch ein Erlebnis gewesen. Klara und er hatten die kunstvoll aufgebaute Stadt Vineta, die Artisten und die dressierten Tiere bestaunt, die die Bewohner der Stadt darstellten, und waren überwältigt, als sintflutartige Wassermassen die Stadt samt Mann und Maus versenkten - Kappe las Klara später aus dem Programmheft vor, dass das künstliche Vineta in satten 30 000 Litern Spreewasser untergegangen war. Kappe musste lächeln, als er an Klara dachte. Sie hatte fast vergessen zu atmen. Als die Artisten nach einigen Augenblicken nicht auftauchten, hatte Kappe seine Taschenuhr herausholen müssen, und beide hatten mit ungläubigem Staunen gesehen, wie ganze sechs Minuten vergingen, bis Stadt, Menschen und Tiere wohlbe halten und unter dem Strahlen einer mächtigen Scheinwerfersonne wiederauftauchten - gerettet von der Wassernixe Elna, die dafür ihr Herz in die Flut geworfen hatte. Kappe und Klara hatten noch oft gemeinsam darüber gerätselt, wie Menschen und Tiere sechs Minuten lang unter Wasser bleiben konnten. Und obwohl Kappe das Stück mit seinem zuckrigen Symbolgehalt ziemlich aufdringlich fand, hatte er sich doch glänzend amüsiert.

      Kappe schüttelte unbewusst den Kopf. Tatsächlich war er in den letzten Tagen Zeuge einer Art Wiederauferstehung geworden. Aber die hatte nichts mit einer guten Fee zu tun, die ihr Herz geopfert hatte. Im Gegenteil. Diese Wiederauferstehung war das Ergebnis von Kriegstreiberei und nationaler Überschätzung, die im Ruin geendet hatte. Und selbst wenn jetzt alles neu und besser wurde, fühlte sich Kappe doch wie jemand, der niedergeschlagen worden war und dem nichts anderes übrigblieb, als aufzustehen und weiterzulaufen.

      Das Scheppern der Glocke riss ihn aus seinen Gedanken. Kappe schreckte hoch. Einer der Politiker hatte sie einem anderen ins Kreuz geschlagen, um ihn am Reden zu hindern. Die Zuschauer schrien durcheinander. «Einigkeit! Einigkeit!», brüllten die Soldaten in Sprechchören. Dann stürmten sie nach vorne, und die Manege verwandelte sich in ein Meer von grauen Uniformen. Schlägereien brachen los. Das Wort «Militärherrschaft» wurde durch die Reihen geraunt. Die Gesichter auf den Rängen waren ratlos, schockiert, hilflos. Kappe sah zu Trampe und Margarete, die heftig mit Luise und den anderen Sitznachbarn diskutierten. Die Glocke erklang noch einmal. Die Kontrahenten in der Manege ließen voneinander ab und zogen sich zu aufgeregten Beratungen zurück.

      Dietrich Mazurat beobachtete das Durcheinander in der Manege und stieß verächtlich die Luft durch die Nase. Nichts anderes hatte er von dem Pöbel erwartet. Die fiebrigen, hilflosen Diskussionen um ihn herum - nichts als elende Naivität. Mazurat betrachtete die Diskutierenden. Rohe Gesichter, eingebrannter Schmutz, Elend. Mazurat hasste die Art von Menschen, die er hier sah. Dummes Volk, von gleichmacherischen Theorien aufgehetzt und verblödet. Trotzdem war er froh, dass er hierhergekommen war. Gestern, als ganz Berlin auf den Beinen gewesen war und Revolution gemacht hatte, war er in den Tempelhofer UFA-Studios gewesen, hatte gearbeitet und von alldem nichts mitbekommen. Das hatte ihn geärgert, denn er liebte es, informiert zu sein. Heute war er wie ein hungriges Tier auf der Jagd hierhergekommen. Er hatte drehfrei. Sogar seine Angst vor der Grippe hatte er niedergekämpft.

      Mazurat strich sich mit seinen manikürten Händen die Haare glatt. Für ihn war der Zirkus Busch mit seinen tobenden, schreienden und diskutierenden Menschen ein mit menschlichen Forschungsobjekten prall gefülltes Bestiarium. Ganz nebenbei hielt er Ausschau nach bekannten Gesichtern. Man wusste nie, wozu man so eine Information brauchen konnte. Mazurat sah niemanden, den er kannte, beobachtete aber trotzdem alles, gleichzeitig fasziniert und abgestoßen. Er sammelte Gesichter, Kleider, Gesten. Knollennasen, Hängenasen, Spitznasen, wulstige Lippen, Tränensäcke - er saugte die Physiognomien in sich auf: den gedrungenen, blassen Blonden schräg vor ihm mit dem Schnauzbart und den wässrigblauen Augen, der aus jeder Pore Niedergeschlagenheit auszuschwitzen schien. Der Blonde diskutierte mit einer Bernsteinaugenschönheit, die jederzeit Schauspielerin hätte werden können, wenn sie nicht diese Ausstrahlung von

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