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sie auf.

      Die beiden Männer setzten sie vorsichtig ab. «Verdammt!» Kappe sah Trampe an. Der überlegte einen Moment. «Bin gleich zurück», sagte er dann und rannte gegen den Strom der Demonstranten so schnell wie möglich die Köpenicker Straße hinunter. Kappe sah ihm hinterher. «Bitte, Trampe, beeil dich», sagte er leise. Er nahm Klara in den Arm und redete auf sie ein. Er hoffte, es würde sie beruhigen.

      Der Aufmarsch dünnte nach und nach aus. Nur noch wenige Nachzügler kamen. Meistens Schaulustige, die nichts verpassen wollten und nun zusahen, dass sie den Anschluss an den Demonstrationszug bekamen. Klara lag blass in Kappes Armen. Er wurde von Sekunde zu Sekunde nervöser. Trampe schien schon eine Ewigkeit weg zu sein. Plötzlich hörte Kappe das lauter werdende Geräusch eines schweren Motors.

      «Ein Auto, Hermann!»

      «Kannst du aufstehen?»

      «Ich versuch’s.»

      Kappe zog Klara hoch. Sie wimmerte, blieb aber stehen. Kappe stützte sie. Beide horchten angestrengt.

      Der Mercedes schoss wie ein Schatten aus der Michaelkirchstraße. Kappe und Klara stolperten auf die Straße. Reifen quietschten. Der Wagen bremste. Kappe riss die Tür zum Fond auf. Die Innenbeleuchtung ging an. Eine Frau. Kappe sah ihre schwarzen Augen. Ihre schmale Nase. Darunter wölbten sich blutrote Lippen in einem blass geschminkten Gesicht, das von Locken umrahmt wurde, die glänzten, als wären sie feucht. Das Fell ihres großen Pelzkragens kräuselte sich ein wenig im Luftzug. Das Auto atmete den Geruch von Lilien.

      «Frau Magno, was für ein Glück, bitte helfen Sie mir.» Klara versagte die Stimme.

      «Meine Frau muss ins Krankenhaus.»

      Die schwarzen Augen streiften Klara, ihr vom Weinen geschwollenes Gesicht, ihren klaffenden alten Mantel, den schwangeren Bauch, das fadenscheinige Kleid, die alten Pullover. Dann sahen sie Kappe an. Ihr Blick war wie eine Ohrfeige. In einer einzigen Bewegung beugte die Frau sich zu ihm, fasste den Innengriff und riss die Tür zu. Kappe war zu überrascht, um die Tür festzuhalten. Das Auto fuhr an, zog hart an ihm vorbei und verschwand.

      Kappe starrte ihm einen Augenblick hinterher. Er war fassungslos. Er überlegte scharf, woher er dieses Gesicht kannte. Und dann fiel es ihm ein. «Das war diese Schauspielerin.» Kappe war von Klara, die eine glühende Verehrerin der Magno war, in mindestens zehn Filme geschleppt worden, in denen die Diva die Hauptrolle spielte.

      «Ja. Renee Magno.» Klara lachte bitter. «Lässt uns einfach stehen. Ich muss mich hinsetzen, Hermann.» Sie ließ sich ungelenk am Straßenrand nieder. Kappe schob ihr seinen Mantel unter und setzte sich neben sie.

      «Vielleicht kommt ja Trampe bald mit Hilfe.»

      «Was für Zeiten! Ich weiß nicht, wann wir das letzte Mal etwas Richtiges gegessen haben.» Klara lehnte sich weit zurück.

      «Und sie hatte Lilien. Und einen Wagen. Wahrscheinlich isst sie jeden Tag dreimal warm. Nicht zu fassen.» In ihre Bitterkeit mischte sich Unglauben. «Vielleicht ist es gar nicht so schlecht, wenn jetzt hier alles zu Ende ist.»

      «Jetzt hör aber auf!» Kappe war gereizt. «Nichts ist zu Ende.»

      «Bitte hol Margarete.» Klara schloss die Augen. Sie lehnte sich an Kappe und schwieg.

      Eine gefühlte Ewigkeit später kam Trampe zurück. Er saß neben dem Kutscher eines altertümlichen Fuhrwerks. Das Pferd, das es zog, war so mager und räudig, dass Kappe daran zweifelte, ob es bis zum Krankenhaus durchhalten würde. Der Kutscher sah Kappes Blick. «Ist das änziche, was se mir gelasst ham. Und selbst fir des krieg ich kein Futter nich. Aber ich quatsch schon wiedr zu viel. Wo isse nu, die scheene Frau?»

      Gemeinsam hoben die drei Männer die apathische Klara auf, verfrachteten sie vorsichtig auf die Ladefläche und fuhren zum Krankenhaus Bethanien. Aus Mitte hörte man Schüsse.

      Obwohl sie gestaltet war wie eine Kirche, kam Kappe die Eingangshalle des Krankenhauses vor wie der Vorhof zur Hölle. Sie war dämmrig und der Geruch von Krankheit und Armut in ihr so streng, dass er nur noch halbe Atemzüge machte. «Das wird Klara nicht ertragen», dachte er ungefähr zum hundertsten Mal. Vor zwei Stunden war sie auf einer Trage ins Innere des Krankenhauses gerollt worden, begleitet von einer besorgten Schwester, die sich als Schwester Hedwig vorgestellt hatte. Seitdem wartete Kappe in der dunklen Halle. Trampe und der Kutscher hatten sich längst verabschiedet. Patienten humpelten auf Krücken an ihm vorbei. Er sah einen Mann, dessen halbes Gesicht verbrannt schien. Es wurde überall gehustet. Aus den Krankenzimmern drang Stöhnen. Einmal schrie jemand laut.

      Um die Kranken und Versehrten nicht mehr sehen zu müssen, hatte Kappe begonnen, die Architektur zu studieren. Doch die Säulchen, ihre blattgeschmückten Kapitelle und die in Rot und Blau bemalten Ornamente erschienen ihm wie Hohn. Er betrachtete die Stuckmedaillons an den Wänden. Kappe erkannte bibli sche Szenen der Heilung. Im Dämmerlicht, inmitten der furchtbaren Geräusche und der drückenden Ausdünstungen, war es ihm, als würden die Gipsgestalten plötzlich anfangen, sich vor Schmerzen zu winden.

      «Herr Kappe?» Er schrak zusammen. Schwester Hedwig stand vor ihm. Sie war so mager, dass ihre Tracht an ihr herabhing wie ein Sack. Müdigkeit umgab sie wie ein Mantel.

      «Was ist mit Klara? Geht es ihr gut? Ist mit dem Kind alles in Ordnung?»

      Sie schüttelte den Kopf. «Ihre Frau hat sehr hohen Blutdruck und viel Wasser im Körper. Wir müssen sie erst einmal hierbehalten.»

      Kappe sank das Herz. «Das wird ihr nicht gefallen. Sie hat schreckliche Angst, sich mit der Grippe anzustecken.»

      Der Blick der Schwester war stumpf vor Erschöpfung. «Wir tun unser Bestes. Den Rest wird der Herr entscheiden.»

      «Kann ich sie sehen?»

      «Sie braucht Ruhe. Am besten, Sie gehen jetzt nach Hause. Kommen Sie morgen wieder.»

      Kappe nickte resigniert. Er wandte sich dem Ausgang zu.

      «Herr Kappe?» Sie war hinter ihm hergekommen. «Fast hätte ich es vergessen. Ihre Frau bittet Sie, einer gewissen Margarete Bescheid zu geben.»

      Kappe verließ das Krankenhaus. Er war außer sich vor Sorge.

      Kappe rannte zurück zu Wertheim, wo Margarete als Verkäuferin arbeitete. Das Kaufhaus hatte gar nicht erst aufgemacht. Die Belegschaft hatte sich dem Generalstreik angeschlossen und war irgendwo auf den Straßen Berlins unterwegs. Kappe überlegte. Margarete würde auf jeden Fall mit ihren Kollegen umherziehen. Das wird die Suche nach der berühmten Nadel im Heuhaufen, dachte er. Er schlug sich zu Fuß in Richtung Mitte durch, immer in der Hoffnung, sie in einem der mit Transparenten gespickten Demonstrationszüge zu finden.

      Die Straßen waren voll, doch Margarete war nicht zu sehen. Immer wieder fragte Kappe, ob jemand die Wertheim-Belegschaft gesehen hätte. Niemand wusste etwas. Er kämpfte sich weiter durch die Streikenden. Plötzlich fand er sich an der Jannowitzbrücke wieder. Ein Jägerbataillon war auf der Brücke postiert. Die Luft vibrierte von Sprechchören. Die Angst der Demonstranten war fast greifbar - aber ebenso auch ihre Entschlossenheit. Und plötzlich fiel Kappe mit ein in den Chor: «Schluss mit dem Krieg!», brüllte er und erschrak gleichzeitig über sich selbst. Er sah einem der Soldaten in die Augen. Die Zeit schien stillzustehen. Kappe fühlte plötzlich, dass sein Schrei aus tiefster Überzeugung kam. Er hasste diese Zeit des Hinschlachtens. Er hasste den ständigen Hunger. Und er hasste, was mit Klara passiert war. Er hielt den Atem an. Er hoffte, dass nicht geschossen würde. Und dann, auf einmal, sah er Verständnis in den Augen des Soldaten. Wie auf ein Kommando bildete das Bataillon eine breite Gasse. Die Offiziere drehten der Menge den Rücken zu. Niemand schoss. Der Zug zog ungestört zwischen den Männern hindurch.

      «Die sind ja wirklich auf unserer Seite.» Die Frau neben ihm strahlte Kappe an.

      «Das will ich meinen, jetzt, wo sogar die Naumburger Jäger sich den revolutionären Soldaten angeschlossen haben», mischte sich ein Mann ein.

      «Der kaisertreue Haufen?» Die Frau konnte es nicht fassen.

      «Wenn ich’s

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