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der neben ihm saß, nahm den Schürhaken und schürte das Feuer. «Dann machen wir es ohne ihn», sagte er. An seinem Gesichtsausdruck war abzulesen, dass dies ein Todesurteil bedeutete. Ein weiteres Todesurteil.

      Das Feuer loderte auf und tauchte die drei in glühendes Licht.

      DER BAU DES ZIRKUS BUSCH wölbte sich in die herabsinkende Dämmerung. Es sah aus, als würde diese die bunten Farben, in denen das Gebäude gestrichen war, seine Türmchen und Dächlein, die dem Rundbau der Manege vorgelagert waren, wegsaugen und nichts als trübes Grau hinterlassen. Auf dem spitzen Giebel des Hauptportals breitete der Metalladler seine schwarzen Flügel aus und starrte reglos auf die Menschenmassen, die sich unter ihm durch den Eingang schoben. Kappe fühlte sich klein und hilflos. Margarete wurde abgedrängt und stolperte. Sie wäre von den Nachfolgenden niedergetrampelt worden, wenn nicht Trampe und ein Postkartenhändler im abgeschabten Anzug ihr aufgeholfen hätten. Der Mann trug ein Drahtgestell vor dem Bauch, in dem Postkarten mit verschiedenen Motiven steckten.

      «Danke, Genossen!» Margarete lächelte.

      Der Postkartenhändler lächelte zurück. «Revolutionspostkarte, die Dame?», fragte er. «Glänzendes Souvenir, das. Nur 25 Pfennig.» Margarete kaufte ihm eine Karte ab. Dann wurde der Mann auch schon weitergestoßen und verschwand in der drängenden Masse, einem Meer aus fadenscheinigen Mänteln, zerschlissenen Anzugjacken und geflickten Uniformen. Fast alle trugen eine rote Armbinde.

      Margarete zeigte ihre Postkarte: Vor dem Brandenburger Tor stand ein offener Mannschaftswagen, auf dem grinsende Soldaten eine Fahne schwenkten. Zivilisten standen um sie herum und bestaunten sie. Eine krakelige Aufschrift erklärte: Die Freiheitsbewegung in Berlin. Straßenszene am 9. November 1918. «Die bring ich Klara mit», sagte Margarete.

      «Dass die heute schon auf dem Markt sind! Das war doch erst gestern.» Trampe staunte.

      Kappe, dem der Schreck des vorangegangenen Morgens noch in den Knochen steckte, fragte sich, wie Margarete und Trampe inmitten dieser dicht an dicht drängenden und schiebenden Menschen, deren Geruch nach billigen Buchenlaubzigaretten, Hunger, Schweiß und Aufregung ihm plötzlich so intensiv vorkam, dass er sofort an Klaras geschärften Geruchssinn denken musste, so entspannt sein konnten. Das Alte war zerstört, und es war unsicher, was jetzt kommen sollte. Kappe, der nun sogar das brackige Wasser der nur wenige Meter entfernt fließenden Spree zu riechen glaubte, machte sich Sorgen um die Zukunft. Vor allem aber machte er sich Sorgen um Klara.

      Am Morgen war er mit Margarete ins Krankenhaus gegangen. Schwester Hedwig hatte ihnen beiden mit müdem Blick die Diagnose verkündet. Klara hatte eine Schwangerschaftsvergiftung. Sie würde im Krankenhaus bleiben und dort auch entbinden müssen. Die Schwester hatte die beiden in das Krankenzimmer geführt, in dem noch elf andere Frauen lagen. Klara war ein Häufchen Elend. Sie wollte nicht im Krankenhaus bleiben. Aber sie war zu schwach, um sich durchzusetzen. Blass und klein hatte sie in ihrem Krankenhausbett gelegen. Kappe war sie vorgekommen wie eine rätselhaft aufgeschwollene Puppe. Während er vor Sorge und Nervosität ganz stumm gewesen war, hatte Margarete geplappert wie ein Wasserfall. Es war ihr tatsächlich gelungen, ein kleines Lächeln auf Klaras Gesicht zu zaubern. Kappe war ihr in diesem Moment unglaublich dankbar gewesen. Dann war Klara eingeschlafen, und Schwester Hedwig hatte sie aus dem Zimmer geholt. Kappe, der dienstfrei hatte, war nichts anderes übriggeblieben, als nach Hause zu gehen. Ins Büro, wo er wahrscheinlich auf Galgenberg getroffen wäre, hätten ihn keine zehn Pferde gebracht. Margarete hatte noch zu einer Sitzung gemusst und sich verabschiedet.

      Kappe hatte schlechtgelaunt in der ungeheizten Wohnung gesessen, an Klara und das Kind gedacht. Er hatte sich Vorwürfe gemacht, sich zu viel um sein eigenes Wohlergehen gesorgt zu haben, wenn er, statt auf den Schleichhandel zu gehen, um Lebensmittel und Kohle zu erstehen, Klara vertröstet hatte. Seine Angst, als Beamter von den Kollegen des Kriegswucheramtes erwischt zu werden, war zu groß gewesen. Sogar wenn Klara selbst losgezogen war, hatte er ihr Vorhaltungen gemacht. Sein schlechtes Gewissen war wie ein übelwollender Verwandter, der ihm alle seine kleinen und großen Verfehlungen ins Ohr zischte. Er war sich lächerlich und kleinlich vorgekommen. Gerade als er sich in Selbstvorwürfen zu verlieren drohte, hatten Margarete und Trampe geklingelt und ihn mit fürsorglicher Gewalt gezwungen, sie zum Zirkus Busch zu begleiten, wo der Rat der Volksbeauftragten gewählt werden sollte. Beide trugen rote Armbinden, auf denen das Wort Arbeiterrat aufgedruckt war.

      Die Sonne schien, und Kappe war mit ihnen durch ein brodelndes Kreuzberg bis zum Bahnhof Jannowitzbrücke gelaufen, die Straßen vollgestopft mit Arbeitern, die ebenfalls zum Zirkus Busch wollten. Die drei hatten sich in die S-Bahn gesetzt und waren bis zum Bahnhof Börse gefahren. In der S-Bahn hatte Margarete mit Trampe Streit darüber angefangen, dass die Mehrheitssozialisten die Revolution im Keim ersticken wollten. Kappe hatte fast den Eindruck, dass sie das absichtlich tat, um ihn abzulenken.

      «Kein Bruderkampf», hatte sie verächtlich gesagt. «Als ob es darum ginge. Euer Ebert will doch nur das alte Reich mit neuem Etikett. Ich wette, der hätte am liebsten noch den Kaiser zurückgeholt.»

      Trampe hatte wütend etwas vom Bolschewismus gezischt.

      «Aber davon redet doch niemand. Die meisten Arbeiterräte sind doch von euch!» Margarete wandte sich an Kappe. «Kappe, wie siehst du die Sache?»

      Kappe war froh, dass der Zug in diesem Moment in den Bahnhof Börse einfuhr und er um eine Antwort herumkam. Er hatte das Gefühl, zwischen allen Stühlen zu sitzen, und hoffte, nach der Veranstaltung im Zirkus Busch klarer zu sehen. «Ich denke, ich muss mir erst mal anhören, was die da drinnen zu sagen haben.»

      «Aber du musst doch eine Meinung haben.» Margarete schaute Kappe herausfordernd an.

      «Lass mal gut sein, Margarete. Der Mann hat gerade andere Sorgen.» Trampe legte seinen Arm um Kappes Schulter.

      Margarete ließ nicht locker. «Trotzdem ist das wichtig. Er muss doch wissen, in welcher Welt sein Kind aufwachsen soll.»

      «Wenn ich’s weiß, sag ich’s dir.»

      Margarete lächelte. «Ich werd dich dran erinnern.» Trampe schüttelte den Kopf. «Frauen.»

      «Na, du kennst doch Margarete. Es wäre unheimlich, wenn sie mich nicht dran erinnert», sagte Kappe.

      Margarete lachte. Er sah ihr in die Augen. Und als ihr bernsteinfarbener Blick ihn traf, hielt er für einen winzigen Moment die Luft an. Im selben Augenblick wurden sie in den Strom von Arbeitern und Soldaten gesogen, der unablässig zum Zirkus Busch floss. Als sie schließlich durch die Eingangstür hindurchgedrückt wurden, kreisten Kappes Gedanken schon wieder um Klara und das Kind. Sie schoben sich am Restaurant und der Konditorei vorbei. Der Mann neben Kappe, ein Soldat in einer Uniform, bei der der linke Ärmel bis zur Schulter leer und mit einer rostigen Sicherheitsnadel im Rücken festgesteckt war, löschte seine Pfeife. Andere zogen das letzte Mal tief an ihren Zigaretten, bevor sie sie ausdrückten. Qualmwolken hingen in der Luft. Der Lagerfeuergeruch der Buchenlaubzigaretten holte Kappe aus seinen Gedanken.

      «Großartige Erfindung unserer Obersten Heeresleitung», sagte er zu Trampe.

      Trampe nickte. «Die Soldaten haben sie im Feld massakriert, und die Armen mit ihrer Ersatzware. Aber das ist ja jetzt glücklicherweise vorbei.»

      «Aber nur, wenn wir jetzt alles richtig machen. Ich trau eben diesem Ebert nicht», sagte Margarete.

      Trampe verzog das Gesicht. «Aber ihr mit eurem Liebknecht.»

      Kappe befürchtete, zwischen beiden schlichten zu müssen, sah aber, dass Margarete und Trampe plötzlich wie angewurzelt stehen blieben. Das gewaltige Rund der Zirkusarena öffnete sich, die Sitzreihen steil aufragend wie eine Schlucht, Menschen dicht an dicht, die unteren Ränge feldgrau von Soldaten und auf den oberen die Arbeiter. Ein Gewirr aus Tausenden von Stimmen fing sich an der Zirkuskuppel. Die Atmosphäre war elektrisch.

      «Dass es so viele sind!» Margarete standen Tränen in den Augen.

      «Ganz, ganz groß», sagte Trampe ehrfürchtig.

      Auch

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