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zu überzeugen. Das «Willst du nicht mein Bruder sein, so schlag ich dir den Schädel ein» war ihm zuwider. «Sieh mal, Paul, wenn ihr beide heiratet, Sophie und du, dann kommt ihr doch mit deinen paar Pfennigen nie und nimmer aus.»

      «Womit wir auskommen oder nich, det jeht dir eenen Scheißdreck an. Los, verpiss dich, du Arschloch!» Tilkowski hob die Schippe und ging langsam auf Dlugy zu.

      «Wenn schon, dann nur mit den Fäusten.» Dlugy krempelte sich die Ärmel hoch. «Aber es ist traurig, wenn Arbeiter auf Arbeiter einschlagen.»

      «Du bist doch schon längst keen Arbeiter mehr», höhnte Tilkowski. «Du bist doch ’n Bonze und kriechst denen von der Gewerkschaft in ’n Arsch, damit se dir vom Kohlenplatz wegholen, und im Büro verdienst du dir dann dumm und dämlich. Du Drecksau, du! Du Verräter!» Wenn Tilkowski Menschen hasste, dann Partei- und Gewerkschaftsfunktionäre. Die benutzten solche wie ihn doch nur, um Karriere zu machen.

      «Einer muss doch mit den Arbeitgebern verhandeln», sagte Dlugy. «Und wir können das nun mal am besten. ..»

      Weiter kam er nicht, denn Tilkowski drang nun derart heftig auf ihn ein, dass er ein paar Schritte zurückweichen musste, um seine Fäuste hochzureißen und einen besseren Stand zu haben. Doch Dlugy hatte Pech, er blieb mit den Füßen an einem Wasserschlauch hängen und stürzte rückwärts zu Boden. Schon kniete Tilkowski auf ihm und machte sich daran, ihn fürchterlich zu verdreschen.

      Als Dlugy endlich wieder auf den Beinen stand, war er im Gesicht fürchterlich zugerichtet.

      «Das gibt Rache», murmelte er, als er auf die Straße hinkte.

       Freitag, 23. September 1910

      HERMANN KAPPE hatte Feierabend und überlegte, ob er vom Polizeipräsidium nach Hause laufen oder sich eine Fahrt mit der Straßenbahn gönnen sollte. Vom Alexander zum Mariannenplatz waren es keine drei Kilometer, also von der Entfernung her ein Klacks für ihn, doch Pflastertreten war mühsam. Er beschloss, das Problem durch eine Art Gottesurteil zu lösen: Kam gerade eine 22 oder 46 die Alexanderstraße entlang, wenn er die Haltestelle passierte, wollte er einsteigen, kam keine, würde er zu Fuß nach Hause laufen. Die 46, unterwegs nach Rixdorf, kam herangerumpelt, und so blieb ihm nichts anderes übrig, als einzusteigen. Er wählte die vordere Plattform, denn wie ein kleiner Junge liebte er es, dem Mann an der Kurbel beim Fahren über die Schulter zu schauen. Schon wurde abgeklingelt. Der Fahrer löste die Bremse und schaltete die Motoren hoch. Bald aber musste er schon wieder anhalten, um nach links in die Kaiserstraße abzubiegen. Kappe war schon so oft mit der 46 gefahren, dass er die Strecke ganz genau kannte: Alexanderstraße - Kaiserstraße - Große Frankfurter Straße - Andreasstraße - Schillingbrücke - Köpenicker Straße - Adalbertstraße - Waldemarstraße.

      «Noch jemand ohne Fahrschein?» Hinter ihm klimperte der Schaffner ebenso fordernd wie ungeduldig mit dem «Galoppwechsler», den er auf der Brust hängen hatte.

      «Moment. ..» Kappe griff in seine Brusttasche - und erbleichte. Da steckte keine Brieftasche. Gott, die hatte er in seiner Schreibtischschublade liegenlassen. Als würde er sich nun selber einer Leibesvisitation unterziehen, klopfte er sich mit beiden Händen alle Taschen ab. Nichts. Wie peinlich. Wenn der Schaffner jetzt halten ließ, um einen Schutzmann zu rufen, dann war er blamiert bis in alle Ewigkeit. Entweder sie spotteten über ihn als Dorfdeppen, der nicht wusste, dass man in Berlin für eine Straßenbahnfahrt zu bezahlen hatte, oder sie unterstellten ihm, er habe die Straßenbahngesellschaft um das Fahrgeld prellen wollen. «Ich will zur Waldemarstraße. .. Bis dahin werde ich schon noch zwei Groschen in meinen Taschen gefunden haben.»

      «Hoffen und Harren macht manchen zum Narren», erwiderte der Schaffner.

      Kappe war verzweifelt. Da hörte er eine Frauenstimme aus dem Innern des Wagens. «Kommen Sie, Herr Schaffner, ich zahle schon für meinen Mann.»

      Er fuhr herum - und stand da wie vom Schlag getroffen. Wenn er sich nicht täuschte, war das Klara Göritz aus Wendisch Rietz. Sie war etwas jünger als er, und bevor sie nach Berlin gegangen war, hatte er sie angebetet. Bei jedem Fest hatten sie miteinander getanzt, und er hatte immer damit geprahlt, sie sei seine Braut, aber der Funke war nie so richtig übergesprungen, und sogar gegen einen flüchtigen Kuss hatte sie sich gewehrt.

      «Du hier. ..?!» Er starrte sie an, gebannt von dem Gedanken, dass es nur die Macht des Schicksal sein konnte, die sie hier zusammenführte.

      «Ja, ich hier.» Sie löste den Fahrschein für ihn.

      «Danke. Wie kann ich das wiedergutmachen, das heißt, dir das Geld. .. das du. ..» Kappe begann zu stottern und hatte das Gefühl, mächtig rot zu werden. Seine Erfahrungen im Umgang mit dem anderen Geschlecht waren nicht so groß, dass er den Lebemann spielen konnte. «Darf ich dich nachher zu einer Tasse Kaffee einladen?»

      Klara Göritz blickte in ihr Portemonnaie. «Ja, das können wir uns noch leisten.»

      «Dann fahren wir zum Görlitzer Bahnhof und setzen uns da in ein Restaurant?»

      Sie zögerte einen Augenblick. «Ich muss nach Hause, ich bin schon. ..»

      «Dein Bräutigam?», fragte er. Es war ihm so herausgerutscht. Sie gab sich sibyllinisch. «Vielleicht. Nein, ein andermal.» Kappe wusste nicht genau, worauf sich dieses Nein bezog, wollte aber die ihm verbleibende Zeit unbedingt nutzen, sich fest mit ihr zu verabreden. Er musste sie wiedersehen! «Erzähl doch mal schnell, was du jetzt so machst und wo du wohnst.»

      «Wo ich wohne?» Wieder zögerte sie. «In Rixdorf, in der Pannierstraße. Ich bin Verkäuferin bei Rudolf Hertzog.»

      Manchmal ist es ein einziger Satz, leichtfertig dahingesagt, der das Leben eines Menschen entscheidend lenkt. Bei Klara Göritz war es so, als ihr der Pfarrer im Konfirmationsunterricht verraten hatte, dass sich ihr Vorname aus dem Lateinischen herleite. «Da heißt nämlich clarus, -a, -um so viel wie hell, glänzend, berühmt.» Von da ab wollte sie nur noch glänzen. Da das in Wendisch Rietz als Tochter eines Holzarbeiters nur schwer möglich war, hatte sie alsbald ihren Koffer gepackt, um in Berlin in Stellung zu gehen. Nach einigem Hin und Her war sie bei einem Abteilungsleiter des Kaufhauses Rudolph Hertzog untergekommen und durch dessen Fürsprache dort später als Verkäuferin eingestellt worden.

      «Bei Rudolph Hertzog», wiederholte Kappe. «Nicht schlecht. Ich bin Kriminalwachtmeister und wohne auch in Rixdorf.»

      Sie lachte. «Du lügst, du willst mich nur nach Hause bringen.»

      «Ich gestehe alles. Wann sehen wir uns denn nun wirklich?» Klara zuckte mit den Schultern. «Wenn der Zufall es wieder einmal will.»

      «Das dauert mir zu lange. Dann besuche ich dich eben bei Rudolph Hertzog.»

      «Danke für die Warnung. Aber ich arbeite in der Abteilung für Damenwäsche.»

      «Macht nichts, ich werde mich verkleiden. Als Kriminaler lernt man das.»

      «Waldemarstraße. .. Du bist da, nun steig mal aus.» Huldvoll hielt sie ihm die rechte Hand hin.

      Kappe war verwirrt. Sollte er die nun nehmen und sie drücken - oder sollte er einen Handkuss auf den Seidenhandschuh hauchen? Er entschied sich für die schnelle Flucht und sprang vom Wagen, bevor der gehalten hatte. Dann winkte er ihr hinterher, während die 46 in Richtung Lausitzer Platz entschwand.

      Die Welt war ein Irrenhaus. Da streifte er durch Berlin, um seinen Mörder zu finden - und traf seine große Liebe.

      Gedankenverloren lief er die Waldemarstraße entlang und merkte gar nicht, dass einer seiner Nachbarn gerade aus einem Kolonialwarenladen trat.

      «Hallo, Herr Kappe! Sie hier und gar nicht in Moabit?» Kappe fuhr herum. «Ach, Sie. .. Was soll ich in Moabit?»

      «Na, die Streikbrecher schützen.» Theodor Trampe, zehn Jahre älter als Kappe, wohnte mit seiner Frau und den drei Kindern auf derselben Etage, sodass Kappe ihm mehrmals in der Woche über den Weg lief. So ganz lieb war ihm das nicht, denn im ganzen Kiez war bekannt, dass Trampe Funktionär bei den Sozialdemokraten war, zwar nur

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