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hatte es ihn 1905 beim Herero-Aufstand in Deutsch-Südwestafrika erwischt. Da nickte er dann, denn das war recht ehrenvoll. Diejenigen, die ihn nicht mochten, lästerten, seine Hüfte sei ihm von einem Stapel umstürzender Briketts zerschmettert worden. In Wahrheit war er vor Jahren in der Thurmstraße unter eine Straßenbahn geraten.

      Kockanz war in Oberschlesien aufgewachsen und hatte nach Besuch der Handelsschule in der «Berg- und Hüttenmännischen Vereinigung» in Kattowitz als Buchhalter gearbeitet. Insbesondere hatte er sich um die nahe gelegene «Deutschlandgrube» zu kümmern gehabt, deren Flöze neun bis zwölf Meter mächtig waren und viele Besucher anzogen. Zu diesen gehörte auch Emilie, die siebzehnjährige Tochter des Berliner Kohlenhändlers Friedrich Kraatz. Es war Liebe auf den ersten Blick, und nachdem Kockanz eine Weile mit Emilie korrespondiert hatte, ließ er sich von seiner Firma nach Berlin versetzen, um ihr nahe zu sein. Obwohl der alte Kraatz auf einen reichen Schwiegersohn gehofft hatte, stimmte er der Hochzeit schließlich zu. 1892 heirateten Gottfried und Emilie und bezogen eine schöne Wohnung in der Charlottenburger Schloßstraße. Bald war ein Kind unterwegs, und ihr Glück schien vollkommen. Doch Emilie starb bei der Geburt, und auch das Kind war nicht mehr zu retten. Kaum hatte Kockanz den ersten Schicksalsschlag überwunden, traf ihn der nächste: der Unfall mit der Straßenbahn. Danach verlor er seinen Arbeitsplatz in der Firma, hatte aber insofern Glück, als ihm sein Schwiegervater anbot, den Kohlenplatz in der Wiclefstraße zu verwalten. Nach dem Tod des Alten erbte er diesen.

      Zwar besaß er die Wohnung in Charlottenburg noch immer, doch er fühlte sich nicht wohl, wenn er zu Hause war. Zu sehr erinnerte ihn alles an seine verstorbene Frau. Seine Freunde drängten ihn, sich doch wieder zu verheiraten, doch die Frauen, die er hätte haben können, wollte er nicht, und die, die er begehrte, wiesen ihn ab. «Ick will doch keenen Krüppel, ooch wenn er noch so ville Jeld hat.» Es gab eine, die hätte er schon gerne genommen, aber. .. Was blieb ihm da, als in die einschlägigen Etablissements zu gehen und nach einer Dame zu suchen, die diesem begehrenswerten Geschöpf möglichst ähnlich sah? Auch so kam er über die Runden.

      Paul Tilkowski starrte auf seinen Chef wie ein Tiger im Zirkus auf seinen Dompteur. Jedes Mal, wenn er ihn sah, verspürte er den archaischen Impuls, sich auf ihn zu stürzen und ihn zu zerfleischen, doch aus Angst vor der Peitsche zuckte er immer wieder zurück. Peitsche, das hieß in diesem Fall Entlassung und Gefängnis. Und in einer engen Zelle eingesperrt zu sein, in einem Menschenkäfig, das war für einen Mann wie Tilkowski das Schlimmste. Schon der Besuch des Kriminalwachtmeisters hatte ihn zutiefst beunruhigt.

      Kockanz kam dicht zu ihm heran und legte ihm den Arm um die Schultern. «Wenn ich dich nicht hätte, Paule.» Tilkowski war diese Berührung derart zuwider, dass er nun doch um ein Haar zugeschlagen hätte. Er schaffte es aber, unter Kockanz’ Arm hinwegzutauchen und dies als eine Geste der Demut erscheinen zu lassen. «Nich doch, ick. .. ick hasse Streiks und alle, die da in der Sickingenstraße. ..»

      «Danke.» Kockanz wandte sich zur Straße, wo gerade der Bollewagen aufgetaucht war und der Milchjunge bimmelte. «Zum nächsten 1. April gibt’s auch mehr Geld bei mir.»

      Tilkowski sah, wie Kockanz mit dem Milchmädchen schäkerte. Er kannte sie von der Tanzdiele her. Sie hieß Frieda und war hässlich wie die Nacht. Offenbar wollte Kockanz dennoch etwas von ihr. Tilkowski verstand das nicht, denn sein Chef hatte doch Geld genug, sich was Besseres zu leisten. «So wat von Jeschmacksverirrung», murmelte er und widmete sich wieder seiner Arbeit. Die Briketts, die lose auf einem großen Haufen lagen, waren in rechteckige Hucken zu stecken, Kästen aus einem hölzernen Rahmen und einer Rückwand aus Blech, mit dem der Träger den Kunden die Briketts in die Wohnung bringen konnte. Knapp hundert gingen hinein. Es war Tilkowskis Meisterschaft, seine beiden Gurte in die Löcher hinten einzuhaken, die Hucke zu schultern und die Treppen hochzutragen. Keiner in Deutschland schaffte vier Stockwerke in so kurzer Zeit wie er. Ohne außer Puste zu geraten. Die anderen Kohlesorten, Anthrazit, Steinkohle und Koks, wurden in Säcken transportiert, und auch da war er allen anderen Kohlenträgern überlegen. Allerdings gingen diese Sorten hier recht selten. Nur Geschäftsleute hatten das Geld und die passenden Öfen dazu. Aber die kauften dann wiederum lieber bei Kupfer & Co., weil sie da höhere Rabatte bekamen als bei Kockanz. Braunkohle war am wenigsten wert, aber am billigsten. Anthrazit hatte am meisten Heizkraft, war aber auch am teuersten. Was die Leute noch kauften, waren Eierkohlen, die man in der Fabrik aus Kohlengrus geformt hatte, und Koks, der selber nicht viel Hitze entwickelte, aber gut war, um die Glut im Ofen lange zu halten. Wer klug war, wählte eine Mischung von allen Sorten. Tilkowski konnte die Kunden gut beraten und sich damit manches Trinkgeld verdienen.

      Er war so in seine Arbeit vertieft, dass er seine Braut, Sophie Schünow, erst bemerkte, als sie hinter ihm stand.

      «Bringen Sie die Kohlen auch zu mir nach oben?», fragte sie. Tilkowski fuhr herum. Er wusste, dass er auf der Hut sein musste, denn immer gab es einen, mit dem er in Händel verwickelt war und der ihm Rache geschworen hatte. Als er sie erkannt hatte, entspannte er sich. «Bei Ihnen geht’s auch hier im Büro. ..» Er küsste sie und wollte sie in die angegebene Richtung drängen.

      Sie befreite sich. «Nee, heute nich und morgen ooch nich, erst übermorgen wieda. Ick hab dir nur dein Mittagessen bringen wollen. Kartoffelsalat mit Buletten. Ville Schrippe, wenig Fleisch, aber bessa als nischt.»

      Tilkowski bedankte sich. «Wenn ick dich nich hätte. ..» Sophie Schünow brauchte nur hundert Meter weit die Straße entlangschlendern, schon folgten ihr die Männer mit wollüstigen Gedanken. «Die zieht die an wie det Licht die Motten», tuschelten die alten Jungfern. Stand sie mit vorn gestraffter weißer Schürze in ihrer Plätterei am Bügelbrett, drückten sich Heranwachsende wie Männer an der Schaufensterscheibe die Nase platt, sodass die Besitzerin schon auf die Idee gekommen war, Eintrittskarten zu verkaufen. Doch noch hatte Sophie Schünow nicht begriffen, dass ihr Körper ein großes Kapitel war, und alle gutsituierten Männer, die ihr Avancen machten, zurückgewiesen, noch ging sie mit Paul Tilkowski. Vielleicht lag das auch daran, dass ihre Eltern, ehrbare Gemüsekrämer, ziemlich frömmelten und sie als Kind immer in die Kirche mitgeschleppt hatten. «Ick bleibe Paule treu, und nächstet Jahr heiraten wa», erklärte sie allen, die es wissen wollten. «Wo die Liebe hinfällt. ..»

      Viel zu schnell musste sie wieder in ihre Plätterei zurück. Paul winkte ihr noch lange hinterher. Es kamen jetzt einige Kunden, die ein paar Briketts für ihre Kochmaschinen brauchten und allesamt anschreiben ließen. Tilkowski war das lieb, denn nur ungern kassierte er selber. Wie hatte schon sein Lehrer immer gesagt? «Kopfrechnen schwach, Religion sehr gut.»

      Weil er noch immer allein war, musste er alle paar Minuten ins Büro laufen und das Telefon abnehmen. Anschließend arbeitete er umso eifriger. Gerade war er dabei, schwere Säcke mit Koks, die für den Bäcker Kötterheinrich bestimmt waren, auf einen Handkarren zu hieven, als er Gustav Dlugy auf den Kohlenplatz kommen sah.

      Dieser verdammte Schwätzer von der Gewerkschaft! Großes Maul und nichts dahinter. Tilkowski hob den nächsten Sack hoch, als steckte er nicht voller Koks, sondern voller Bettfedern, und warf ihn auf den Karren.

      «Du arbeitest?», fragte Dlugy.

      «Nein, ich trainiere für Kraftsport Moabit.» Tilkowski sah keinen Grund, eine kleine Pause einzulegen.

      Dlugy fixierte ihn. «Du weißt, dass wir Kohlenarbeiter alle streiken?»

      «Alle nich, siehste ja.»

      «Es geht auch um deine Rechte und um höhere Löhne für dich», begann Dlugy zu agitieren. «Nur gemeinsam sind wir stark. Ohne uns sind die Unternehmer am Ende.»

      Tilkowski ließ einen weiteren prall gefüllten Jutesack auf die Landefläche krachen. «Ohne uns holen sie Arbeiter aus Hamburg oder aus Galizien nach Berlin. Die sitzen immer am längeren Hebel.»

      «Keine Angst, wir lassen uns schon etwas einfallen, um den Streikbrechern das Handwerk zu legen.»

      Tilkowski winkte ab. «Wenn die Schutzleute mit ihren Säbeln kommen und blankziehen.»

      Dlugy ließ nicht locker. «Paule, du bist doch einer von uns. Komm, mach mit! Wir brauchen dich.»

      «Hau ab!» Tilkowski griff nach einer Schippe.

      Dlugy

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