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es schon eine Weile zu gehen, und Kappe fragte sich, ob der Eindringling nicht doch irgendwann die Contenance verlor und abdrückte. Wie es schien, war er kein mit allen Wasser gewaschener Zuchthäusler, sondern in seinem Gewerbe nur ein kleines Licht - und damit schwer zu kalkulieren. Wenn ihn der Major mit seiner Kaltblütigkeit weiter reizte. ..

      Kappe musste eingreifen, bevor es zu spät war. Gebückt huschte er über die Terrasse. Das gelang ihm absolut lautlos und ließ ihn darauf hoffen, unbemerkt in den Rücken des Mannes zu gelangen. Ihm mit der linken Hand die Waffe entreißen und ihn gleichzeitig mit der Rechten würgen und zu Boden reißen, das musste alles in einer Bewegung geschehen. Nur so ließ sich der Major noch retten.

      Eine der Flügeltüren stand eine Handbreit offen, und Kappe musste sie nur ein paar Zentimeter weiter nach innen drücken, um in den Salon schlüpfen zu können. Ein Kinderspiel, zumal er aus der Dunkelheit kam. Doch die Tür knarrte, und der Eindringling fuhr herum. Als er Kappe erblickt hatte, zögerte er keinen Augenblick, auf ihn zu feuern. Auf die Brust, ins Herz. Und schon mit dem ersten Schuss hatte er getroffen. Kappe schrie auf und stürzte zu Boden.

       Montag, 19. September 1910

      DIE SONNE war noch nicht richtig aufgegangen, als sich Gustav Dlugy auf sein Fahrrad setzte, um zur Arbeit auf dem Kohlenplatz zu fahren. Er wohnte als Untermieter bei seinem Bruder in der Linienstraße und musste hinüber nach Moabit, in die Sickingenstraße.

      Im Jahre 1910 war Berlin vieles zugleich: Industriemetropole, Hauptstadt des Kaiserreichs und größte Mietskasernenstadt der Welt. In den Arbeitervierteln waren überfüllte und viel zu kleine Wohnungen die Regel. Großfamilien mit neun und mehr Kindern lebten in Wohnküchen. War etwas mehr Platz, suchte man sich Untermieter. Schlafburschen, die im Schichtdienst arbeiteten, teilten sich ein Bett. Viele hatten nicht genug zum Beißen.

      Als Dlugy die Invalidenstraße erreicht hatte und den Lehrter Bahnhof erblickte, kam ihm zum ersten Mal die Galle hoch. Er und seinesgleichen konnten sich kaum den Sonntagsausflug nach Werder leisten, und andere, die am Bahnhof ihre Koffer ausladen ließen, fuhren an die See. Ausbeuter! Und gegenüber in der Ulanen-Kaserne saßen diejenigen, denen die Herrschenden ihre Macht verdankten. Aber die Revolution war nahe, das fühlte er. Der Sturmwind würde sie alle hinwegfegen: den Kaiser, die Generale, die Kapitalisten. Er musste nur sehen, dass er sich dabei rechtzeitig hervortat. Er war nicht auf die Welt gekommen, um ein Leben lang Kohlenarbeiter zu bleiben.

      Gustav Dlugy wäre ein wunderbarer Herkules gewesen, wenn man in Berlin schon Filme gedreht hätte. So aber wurde ihm nur angeraten, ein zweiter Athlet Apollon zu werden. Der hatte im Reichshallentheater die Leute allabendlich mit seiner Nummer

      «Wegtragen eines Klaviers samt dem Pianisten» zu Begeisterungsstürmen hingerissen. Seine Muskelpakete hatte sich Dlugy aber nicht durch Hantel- und Expandertraining erworben, sondern durch das Schippen von Kohlen. Jahrelang war er zur See gefahren und hatte sich sein Geld als Heizer verdient. Oben an Deck waren die Reichen flaniert, hatten in den Salons diniert und sich im Tanze gewiegt, unten im Bauch des Schiffes hatte er in höllischer Hitze für einen Hungerlohn geschuftet. Kein Wunder, dass er sich, wieder in Deutschland, denen angeschlossen hatte, die die Welt verändern wollten.

      Geboren war Gustav Dlugy als vorletztes von acht Kindern im tiefsten Wedding, in der Ackerstraße. Sein Vater hatte bei der Reichsbahn als Gleisbauarbeiter angefangen und sich zum Rangierer hochgearbeitet. Oft war der kleine Gustav zum Stettiner Bahnhof gelaufen, um ihm zuzusehen, wie er zwischen die Puffer sprang, immer in Gefahr, zerquetscht zu werden. «Dann is sein Brustkorb nich mehr dicka als ’n Kartoffelpuffa», fürchtete die Mutter. «Du wirst ma uff keen Fall ooch Ranjiera.» Das würde er doch, hatte er entgegnet, denn er würde einmal so stark werden, dass er die beiden aufeinander zurollenden Waggons mit bloßen Händen aufhalten konnte. Und so hatte er Tag für Tag kräftig geübt. Dann aber hatten sie bei der Bahn keine Rangierer brauchen können, sondern Heizer für ihre Loks. So war Gustav Dlugy angelernt worden und hatte seinen Dienst auf den Schnellzugmaschinen versehen, die zwischen Berlin und der Ostsee unterwegs waren, der «Badewanne der Berliner».

      Die Schiffe im Stettiner Hafen hatten ihn nicht sonderlich interessiert, aber eines Tages war es zu einem heftigen Streit zwischen ihm und seinem Lokführer, dem Meister, gekommen, und als der ihn beleidigt hatte, war Dlugy die Hand ausgerutscht. Obwohl er nicht einmal richtig zugeschlagen hatte, war bei dem anderen ein Kieferbruch diagnostiziert worden. Daraufhin war Dlugy wegen gefährlicher Körperverletzung und eines tätlichen Angriffs auf einen Vorgesetzten für einige Monate ins Gefängnis gewandert, und nach seiner Zeit in Moabit hatte ihn die Reichsbahn nicht mehr haben wollen. Eigentlich wurde er in ganz Deutschland geächtet. Da entsann er sich wieder der Schiffe im Stettiner Hafen und konnte auch anheuern. Aber länger als vier Jahre hatte er die Sklaverei nicht ertragen können, und so war er wieder nach Berlin zurückgekommen, um hier als Kohlenarbeiter seine Brötchen zu verdienen.

      Als Dlugy in der Sickingenstraße angekommen war, hörte er seine Kollegen lautstark diskutierten. Er stellte sein Rad an die Mauer, lauschte kurz und begriff sofort, dass das seine große Chance war, sich zu profilieren und in seiner Gewerkschaft größeres Gewicht zu bekommen. Jetzt oder nie! Er sprang auf einen Handkarren und ergriff das Wort. «Lasst uns kämpfen, Kollegen!», schrie er. «Auch wenn es nur um Pfennige geht. Aber es sind die Pfennige, die uns bitter zum Leben fehlen - für Brot und Margarine, für Milch und für unsere Kinder. Schluss mit den Hungerlöhnen!»

      «Schluss mit den Hungerlöhnen!», kam das Echo aus den Kehlen seiner 140 Kollegen, Kohlenträger und Kutscher, die sich um sechs Uhr morgens auf dem ausgedehnten Lagerplatz versammelt hatten.

      Dlugy machte eine kleine Pause und sah zum Bahnhof Beusselstraße hinüber, wo gerade ein Ringbahnzug abgefertigt wurde. Aus dem Schornstein der Lokomotive schossen mit Urgewalt Rauchwolken in den diesigen Himmel. Auf die zeigte er mit großer Geste. «Da seht ihr es: Die Kohle ist es, die in dieser Welt alles in Gang hält, unsere Kohle. Ohne sie bleiben alle Züge stehen, gibt es keine Elektrizität und kein Gas, können wir uns kein Essen kochen, erfrieren wir alle. Und wie dankt man uns das? Mit Hungerlöhnen!»

      «Pfui!», schrien alle. «Wir wollen mehr Geld!»

      Dlugy informierte sie darüber, dass die Lohnkommission der beteiligten Gewerkschaften von der Firmenleitung aus dem Kontor gewiesen worden war. «Rausgeworfen hat man uns, als wir gefordert haben, den Stundenlohn von 43 auf 50 Pfennig heraufzusetzen. Das ist eine Schande, denn wir arbeiten mehr als alle anderen - zwölf Stunden am Tag.»

      «Vierzehn!», riefen die Kutscher.

      «Vierzehn», wiederholte Dlugy. «Zwölf bis vierzehn. Und darum sage ich in Richtung dieser Firmenleitung: Wer nicht hören will, muss fühlen! Muss fühlen, dass er kein Geld mehr in die Kassen bekommt, wenn wir die Arbeit niederlegen.»

      «Streik! Wir streiken!»

      So wurde es einstimmig beschlossen. Dlugy war zufrieden mit seinem Auftritt und machte sich daran, die Streikposten zu organisieren. Als das erledigt war, setzte er sich auf sein Rad und fuhr zu seiner Stammkneipe in der Rostocker Straße, die bei der Polizei als Anarchistentreff verschrien war.

      «Wenn det mal nich der Funke is, der det Pulverfass in de Luft jehn lässt», sagte der Wirt, als ihm Dlugy von der Ausrufung des Streiks der Kohlenarbeiter berichtet hatte. «In janz Moabit brodelt et mächtig. Und pass uff, wat ick dir sage: Et wird ooch Tote jeben.»

      «Da kannste jetrost eenen druff lassen», fügte sein Zapfer hinzu.

       Dienstag, 20. September 1910

      DIE FIRMA KUPFER & CO., zu deren Eigentümern auch der Großindustrielle und Zechenmagnat Hugo Stinnes gehörte, gab zu den Ereignissen auf ihrem Gelände eine knappe Erklärung ab, in der es unter anderem hieß:

       Am 15. September bekamen wir von dem Deutschen Transportarbeiter-Verband ein Schreiben, in dem, ohne dass vorher von Seiten der Arbeiterschaft eine Andeutung gemacht war, eine Lohnerhöhung von 43 Pfennig auf 50 Pfennig für die Stunde für Arbeiter und auf 33 von 30 Mark pro Woche für

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