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durch eine rosarote Brille sieht. Aber sicher hatte Ihr Mann auch Fehler und hat sich ganz gewiss nicht immer korrekt verhalten. Fehler machen wir alle. Wir alle verletzen andere Menschen, auch wenn wir es manches Mal gar nicht bemerken und es das andere Mal vielleicht sogar mit voller Absicht tun.“

      „Klar, das ist so bei einem ganz normalen Menschen, von dem Sie sprechen. Manuel war kein normaler Mensch – glauben Sie mir doch bitte. Es ist keine rosarote Brille, durch die ich schaue. Ich habe mich fast täglich gefragt, warum ich so ein Glück habe, dass dieser besondere Mann ausgerechnet mich liebt. Ich habe selber sehr lange nach einem Defizit bei ihm gesucht. Ich habe mir eingeredet, dass er mir sein wahres Gesicht eines Tages auf sehr unangenehme Art und Weise schon noch zeigen würde. Ich muss Sie enttäuschen, denn ich kann Ihnen nur glaubhaft versichern, dass es diesen Tag nie gegeben hat.“

      „Können Sie sich vorstellen, dass irgendjemand speziell Ihnen das Glück mit Ihrem Mann nicht gegönnt hat? Dass eigentlich Sie, Frau Schrader, mit dem Tod Ihres Gatten verletzt und bestraft werden sollten? Vielleicht waren es Neid und Eifersucht. Fällt Ihnen jemand ein, dem Sie so eine Tat zutrauen würden?“

      „Ich könnte Ihnen unendlich viele Frauen nennen, die in Manuel verliebt waren – ganz offensichtlich in ihn verliebt waren und es auch nicht verheimlicht haben. Krankenschwestern, Ärztinnen, Kolleginnen aus der Forschung, Patientinnen, ja sogar meine Schwester hätte vermutlich ihren Mann für Manuel verlassen. Soll ich eine Liste erstellen?“, fragte Elena ironisch.

      „Nein, Frau Schrader. Könnten Sie uns aber noch unsere allererste Frage beantworten? Wie ist Ihre Beziehung aktuell zu Ihrem Exfreund?“

      „Ich habe gar keine Beziehung zu Jens. Ja, so kann man es sagen. Der letzte Berührungspunkt war ein ziemlich unangenehmes Zusammentreffen vor Jahren in einer Bar. Jens hat Manuel sturzbetrunken von der Seite angepöbelt. Am Tag darauf hat Jens bei uns angerufen, um sich zu entschuldigen. Gestern zur Beerdigung habe ich ihn das erste Mal wiedergesehen. Ich weiß nicht, wo er inzwischen wohnt, was er beruflich macht, ob er eine feste Beziehung führt – keine Ahnung. Ich war sehr überrascht, als ich ihn unter den Trauergästen entdeckt habe. Aber es waren sowieso viele Menschen da, von deren Anwesenheit ich sehr überrascht und berührt war. Menschen aus meiner Schulzeit, Jugendzeit, aus meinen früheren Vereinen, die Manuel alle nicht kannten und zu denen ich auch schon lange keinen Kontakt mehr hatte. Aber so eine Beerdigung ist wohl immer ein Anlass, sich an alte Weggefährten zu erinnern.“

      Die Beamten verabschiedeten sich und Elena konnte nicht sagen, ob sie weiterhin zu den Verdächtigen gehörte oder nicht.

      Als Elena am Mittag die Kinder vom Kindergarten abholte, hatte sie plötzlich eine Idee. Sie überraschte die beiden mit einem Vorschlag: „Wollen wir heute Mittag in Papis Lieblingspizzeria gehen? Habt ihr Lust auf eine Pommes-Pizza?“

      „Ja“, jubelten die beiden und sprangen an Elena wie zwei kleine Kängurus hoch.

      Sie setzten sich in die „Geheimecke“, wie Manuel sie nannte, weil sie dort immer so gut wie ungesehen und ungestört sitzen konnten. Es war nämlich sehr oft unangenehm gewesen, mit Manuel auswärts essen zu gehen. Irgendjemand kannte ihn fast immer. Daher nahmen sie oft weitere Wege auf sich, um in Ruhe speisen zu können. Bedient wurden sie wie immer vom Chef persönlich, der fröhlich nach dem Papa fragte. Bevor Elena etwas sagen konnte, antwortete Lois: „Der Papa ist schon da, du siehst ihn nur nicht.“

      „Er ist jetzt nämlich ein Engel“, ergänzte Selina noch stolz.

      Giovanni schaute Elena mit großen, geschockten Augen an und sie nickte mit dicken Tränen in den Augen. Giovanni machte einen Schritt auf sie zu, überlegte es sich dann aber in letzter Sekunde doch anders. „Warum?“, fragte er schlicht.

      „Autounfall“, antwortete Elena leise.

      „Es tut mir leid“, erklärte Giovanni jetzt ebenfalls mit Tränen in den Augen. Manuel und er hatten immer viel Spaß miteinander gehabt. Die beiden konnten so albern sein, was für die Kinder immer besonders lustig gewesen war. Oft lachten sie noch auf dem ganzen Heimweg. „Pommes-Pizza?“, fragte Giovanni mit belegter Stimme.

      „Na klar, was sonst?“, versuchte Elena die Stimmung wieder zu heben. Die Pommes-Pizza war eine Erfindung von Manuel und Giovanni, um den Kindern eine besondere Freude zu machen, weil sie sich oft nicht zwischen Pizza und Pommes entscheiden konnten. Inzwischen stand die Kreation sogar auf der Speisekarte und war der absolute Renner bei den Kindern. Sogar viele Jugendliche wählten diese eigenartige Variante.

      Giovanni machte sich auf den Weg und Elena beobachtete, wie er ungläubig den Kopf schüttelte und sich eine Träne aus dem Gesicht wischte.

      „Nein, ich glaube nicht, dass sie ernsthaft verdächtigt wird.“ Pause. „Das weiß ich auch – Gefängnis wäre ganz blöd. Dann wird aus unseren Plänen nichts. Das ist mir schon klar.“ Pause. „Ja, ich weiß. Sie müssen am Ende alle weg sein. Auch die Kinder!“ Pause. „Ja, verdammt, ich bin ja nicht blöd“, keifte die bekannte Stimme.

      Elena schaute um den Sichtschutz herum und sah Belinda mit hochrotem Kopf und ihrem Handy am Ohr dasitzen. Als Belinda Elena sah, ließ sie die Hand mit dem Handy so ruckartig auf den Tisch sinken, dass es einen richtigen Knall gab. Belindas Kopf wurde in Bruchteilen von Sekunden noch roter – so tiefrot, wie Elena es noch bei keinem Menschen erlebt hatte. Belindas Hände zitterten dermaßen, dass Elena es mit der Angst zu tun bekam. Sie schob sich auf den Stuhl neben Belinda und legte den Arm um sie. „Mein Gott, dein ganzer Körper bebt ja, als ob du gleich kollabieren würdest. Was ist los, Belinda? Hast du so schlechte Nachrichten bekommen?“

      „Ich, ich …“ Belinda schaffte es nicht, einen ordentlichen Satz zu formulieren. Sie sah entsetzt auf ihr Handy, dann in Elenas Gesicht und wieder auf das Handy auf dem Tisch. Voller Panik beendete sie das Gespräch, indem sie auf das rote Hörersymbol drückte, und bedeckte blitzschnell das Display mit ihren beiden zitternden und nass geschwitzten Händen. Ihren Blick hatte sie starr auf die Pfeffermühle gerichtet.

      Elena wartete ein paar Minuten geduldig und unschlüssig, was sie tun sollte. Dann sagte sie sanft: „Jetzt beruhig dich erst einmal. Komm, setz dich zu uns.“ Sie nahm Belindas Handtasche, ihre Jacke und ihr Tuch und transportierte alles an den Tisch hinter dem Sichtschutz, wo die Kinder mit aufgerissenen Augen saßen. „Du machst den Kindern Angst, Belinda. Reiß dich jetzt bitte zusammen. Komm, wenn du Feierabend hast, zu uns und wir reden über alles. Es wird schon nicht so schlimm sein. Du weißt, es gibt für alles eine Lösung, würde Manuel jetzt sicherlich sagen.“

      Gegen siebzehn Uhr tauchte Belinda sichtlich beruhigt bei Elena auf. Sie schien sich wieder im Griff zu haben, nachdem sie noch während des ganzen Essens völlig unkonzentriert und fahrig gewesen war. Sie hatte zweimal ein Glas umgeworfen und das Brotkörbchen auf den Boden befördert. Gegessen hatte sie auch nur wie ein Spatz. Sonderbar – sehr, sehr sonderbar. Es musste schon ein riesiges Problem sein, das sie bedrückte, weil Belinda ansonsten ein richtiger Genießer und auch nicht so schnell aus der Ruhe zu bringen war.

      „Also los, spuck es aus! Was hat dich so durcheinandergebracht? Polizei? Alle weg! Auch die Kinder! Pläne?“

      „Also, du musst mir versprechen, dass du mit keinem Menschen darüber sprichst. Ich vertraue dir, Elena. Du würdest unglaublich viel kaputt machen, wenn du dich nicht an dein Versprechen hieltest. Es wäre sicher auch in Manuels Sinne, was ich mit meinem Kollegen so heimlich treibe.“

      „Uhh, das hört sich ja spannend an. Versprochen, ich werde schweigen. Kein Mensch erfährt etwas von mir.“

      „Wir haben heimlich eine kleine Klinik gegründet, in der wir kostenlos Obdachlose, ungemeldete Flüchtlinge und so weiter behandeln. Wir sehen darin nichts Böses – ganz im Gegenteil. Wir benutzen unter anderem ausrangierte Medikamente aus der Klinik, was natürlich verboten ist. Das weißt du als Krankenschwester nur zu gut. Uns hilft eine Krankenschwester, die – wie wir erfahren haben – verdächtigt wird, Medikamente aus der Klinik zu stehlen. Was ja auch stimmt. Jetzt vermuten wir, dass sie unter Beobachtung steht und unser Versteck auffliegen könnte.“

      „Mensch, Belinda, das ist ja ehrenhaft, was ihr da macht. Kann ich da

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