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wie er diese Abende schmunzelnd genannt hatte. Entweder musste er arbeiten oder das Wetter spielte nicht mit. Sie waren wirklich nicht allzu oft in den Genuss ihres wunderschönen Gartens gekommen. Dafür waren die wenigen besonders schöne, unvergessliche Abende und Nächte gewesen. Sie hatten es immer sehr genossen, sich im Freien zu lieben. Mit diesen Gedanken, einem verträumten Lächeln und gleichzeitig kullernden Tränen blieb ihr Blick an der Terrassentür hängen.

      Elenas Atem stockte, denn sie sah eine Gestalt, die ganz langsam – fast in Zeitlupe – an der Fensterscheibe entlangschlenderte. Die Glasscheibe spiegelte etwas, weswegen sie die Gestalt nicht ganz klar sehen konnte. Sie war sich jedoch ganz sicher, dass es Manuels Figur war. Ganz eindeutig war es seine Gestalt – groß, breite Schultern, schmale Hüften, lange Beine, knackiger Po! Die Gestalt bewegte sich so langsam, dass es ihr problemlos möglich war, alles genau zu analysieren. Ja, sogar der Bewegungsablauf war zu einhundert Prozent der von Manuel. Elena hätte ihn unter Tausenden von Männern sofort wiedererkannt. Sie hatte diesen Körper so oft und so eingehend – mit der ganzen Liebe, die sie aufbringen konnte – studiert. Sie hatte diesen Leib nächtelang liebkost, gestreichelt und verwöhnt. Das da draußen war Manuel – er trug eine Schildkappe, die er ziemlich tief ins Gesicht gezogen hatte, weswegen Elena es nicht richtig sehen konnte. Der Schirm berührte beinahe seine Nase. Sie wollte aufstehen, zur Tür laufen, sie aufschieben, ihn in den Arm nehmen und schreien: „Ich wusste es doch, Liebling, du lebst! Sie haben sich geirrt. Es war eine Verwechslung – du bist nicht tot, nein, du lebst! Ich habe es die ganze Zeit gespürt.“

      Irgendetwas hielt sie aber auf dem Sofa fest – es fühlte sich an, als ob unsichtbare, starke Arme sie in die Kissen drücken würden. Als Elena bemerkte, dass die Person gleich aus ihrem Sichtfeld verschwinden würde, gab sie sich einen Ruck. Unsicher stand sie auf und bewegte sich vorsichtig auf die Schiebetür zu, als ob sie Angst davor hätte, Geräusche zu machen, die den Zauber verfliegen lassen würden. Erst als ihre Hand den Hebel der Tür berührte, bemerkte sie, wie sehr sie zitterte. Mit großer Mühe und unglaublich viel Energieaufwand schaffte sie es, den Hebel umzukippen. Die Tür aufzuschieben, war noch schwerer und so geschah alles in Zeitlupe. Als die Tür dann endlich so weit offen war, dass Elena einen Schritt nach draußen machen konnte, war weit und breit niemand mehr zu sehen. Wie war das möglich? Der Garten war von einer durchgehenden Hecke umgeben. Es gab kein Schlupfloch – darauf achtete Elena sehr genau, wegen der Kinder. Wie war die Gestalt in den Garten gekommen und wie konnte sie so schnell wieder verschwinden? Hatte sie sich das alles nur eingebildet? War sie gerade dabei, verrückt zu werden? Nein, verdammt, sie hatte Manuel gesehen. Das war er gewesen – ganz sicher! Sie hätte nicht aufstehen sollen. Das war ein Fehler. Elena zitterte am ganzen Körper, sie schwitzte und fror gleichzeitig, sie hatte Gänsehaut und die Nackenhaare sträubten sich. Ihr Magen krampfte sich zusammen und in ihren Ohren dröhnte es. Die Wangen brannten wie Feuer und plötzlich versagten die Knie ihren Dienst. Sie ließ sich auf den Boden fallen, legte sich der Länge nach auf den Rücken, schaute zum Himmel hoch und rief laut: „Manuel, bitte komm wieder! Ich wollte dich nicht verscheuchen. Gib mir noch eine Chance, Liebling. Bitte, bitte! Ich kann ohne dich nicht leben und ich will es auch nicht. Ich glaube, dass es zwischen Himmel und Erde Dinge gibt, von denen wir nichts wissen – ich bin mir ganz sicher.“

      9

      Am nächsten Morgen kam ihr das Erlebnis vom Vorabend sehr unrealistisch vor, sodass sie an ihrem Verstand zweifeln musste. Ich wünsche mir so sehr, Manuel wieder lebendig vor mir stehen zu sehen, dass ich schon fantasiere. Ich darf nicht verrückt werden – ich muss mit beiden Füßen auf dem Boden bleiben. Ich darf die Bodenhaftung unter keinen Umständen verlieren. Julia hat recht, ich muss endlich psychologische Hilfe in Anspruch nehmen, ermahnte Elena sich selbst.

      Lois krabbelte gerade auf ihren Schoß und wischte ihr eine Träne weg. „Mami, nicht weinen, alles wird gut. Soll ich ‚Heile Segen‘ singen?“

      Aus den einzelnen, kleinen Tränen wurde ein Sturzbach. Sie wollte zuerst Nein sagen, als sie jedoch in sein trauriges, hilfloses Gesichtchen sah, sagte sie: „Gerne, mein Bärchen, das würde mir jetzt so guttun.“ Er wäre dann beschäftigt – würde sich gut und wichtig fühlen und sie müsste erst einmal nichts mehr sagen.

      Lois nahm sie auf die Art und Weise in den Arm, wie sie ihn stets zum Trösten festhielt. Er wiegte sie hin und her und sang leise vor sich hin: „Heile, heile Segen.“ Auch Selina kam dazu, umfasste sie ebenfalls ganz fürsorglich von hinten und stimmte in Lois’ Gesang mit ein. Das Lied ging aber anders weiter, als Elena es kannte: „Heile, heile Segen, der Schmerz muss sofort gehen. Mami will ihn nicht mehr haben, drum holen ihn die schwarzen Raben. Sie nehmen das böse Aua mit und Mami ist ganz, ganz schnell wieder fit.“ Unter Tränen lächelte sie die beiden an und drückte sie an sich.

      „Das ist ja lustig mit den Raben. Habt ihr das im Kindergarten gelernt?“

      „Nein, Papi hat das so gesungen und immer wenn er ‚fit‘ gesungen hat, hat er uns fest gekitzelt. Und dann waren die Schmerzen weggezaubert.“

      „Wann kommt er von seiner Reise wieder zurück, Mami?“, fragte Selina.

      Da fiel Elena ein, dass sie sich dringend um einen Termin bei einem Kinderpsychologen kümmern wollte. Sie musste einsehen, dass sie zumindest für die Kleinen so schnell wie möglich fachliche Hilfe in Anspruch nehmen sollte. Es waren so schwierige Fragen, die die Kinder ihr stellten. Sie wollte auf keinen Fall eines Tages wegen unpassender Aussagen für psychische Schäden bei den beiden verantwortlich sein. Was war jetzt die richtige Antwort?

      „Wisst ihr, das ist eine ganz besondere Reise, in ein ganz besonderes Land – nämlich in den Himmel. Richtig zurückkommen wird Papi nicht mehr – er wird euch in euren Träumen besuchen.“

      „Warum ist er in den Himmel gereist? Hat es ihm bei uns nicht mehr gefallen? Bin ich schuld, weil ich böse war oder weil ich mich nicht getraut habe, ‚Hallo, ich bin die Biene und mache fleißig Honig für euch alle‘ zu sagen?“

      Elena sah Selina durchdringend an, was die Kleine völlig verunsicherte.

      „Weißt du es nicht mehr? Ich war doch die Biene am Kindergartenfest.“

      Elena streichelte Selina über den Kopf und nickte.

      „Wenn ich mich jetzt traue, kommt Papi dann wieder?“

      Elena war völlig überfordert und wünschte sich in diesem Moment so sehr, dass das Telefon einen Ton von sich gab oder es an der Haustür klingelte. Sie wäre unglaublich dankbar dafür, auch wenn sie die letzten Tage fast nichts mehr gefürchtet hatte als das. Das Telefon blieb stumm, die Hausklingel ebenfalls und Selina sah sie aus großen, ängstlichen Augen an.

      Mein Kind sucht die Schuld bei sich, registrierte Elena verzweifelt. Verdammt, da läuft etwas ganz gewaltig schief. Und das nur, weil sie sich nicht zusammenreißen konnte und sich nicht die Mühe machte, zu telefonieren. Ich bin so egoistisch, dachte Elena verzweifelt. Manuel wäre enttäuscht von ihr. Wie oft hatte er ihr dafür gedankt, dass sie alle Fäden im Hintergrund zog, das ganze Familienleben organisierte und sich einfach um alles kümmerte, sodass er immer den Rücken frei hatte. Sie erwartete und verlangte wirklich nie etwas von ihm, außer dass er ein interessierter und engagierter Papa war, wenn er zu Hause war, und dass er natürlich auch noch etwas Zeit für sie übrig hatte. So war es gut – für alle. Die Kinder waren zufrieden, wenn Papa mit ihnen Blödsinn machte, spielte, vorlas – auch wenn es manchmal nur eine halbe oder gar viertel Stunde war. Diesen wenigen Minuten verstand Manuel aber so viel Bedeutung zu geben, den Kindern so intensive Aufmerksamkeit zu schenken, dass sie wunschlos glücklich waren. Sie spürten in dieser knappen Zeit sehr deutlich, wie lieb ihr Papi sie hatte. Elena übernahm den Rest – sie erklärte den Kindern unermüdlich, dass ihr Papa ein ganz wichtiger Arzt war und ganz vielen kranken Menschen helfen musste. Sie hatte es geschafft, dass die Kinder in ihrem zarten Alter unbeschreiblich stolz auf ihren Vater waren und ihn immer verständnisvoll ziehen ließen. Selina bat ihren Papa immer öfter, ihr Geschichten aus der Klinik zu erzählen. Sie hörte interessiert und gespannt zu und erklärte immer wieder mit ernster Miene, dass sie auch Ärztin werden wolle. Die

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