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nicht alleine lassen. Bitte, bitte komm wieder – ich brauche dich so sehr. Ich kann ohne dich nicht leben. Deine Kinder brauchen dich.“ Sie setzte sich in seinen Kleiderschrank und streichelte lange seine Klamotten. Dort fand Julia sie dann auch eines Tages und sah sie mit großen Augen an.

      „Ja, Schwesterherz, ich werde wohl verrückt werden. Ich halte diesen Schmerz nicht aus. Es tut mir leid.“

      Julia nahm ihre Hand und zog sie aus dem Schrank. „Elena, denk bitte an die Kinder. Du darfst trauern, du sollst trauern – auch deine Kinder sollen trauern, aber bitte mach ihnen keine Angst. Dein Verhalten in dieser schwierigen Ausnahmesituation kann sehr negative Auswirkungen auf ihr ganzes Leben haben. Du trägst gerade eine unermesslich große Verantwortung. Du musst dafür Sorge tragen, dass deine Kleinen diese Phase möglichst unbeschadet überstehen. Bitte denk auch darüber nach, psychologische Hilfe in Anspruch zu nehmen. Für dich selbst und auch für die Kinder.“

      „Weißt du, was Lois heute Morgen beim Frühstück gesagt hat?“, fragte Elena. Julia schüttelte den Kopf. „Papa hat mir aber versprochen, dass wir am Samstag gaaaaanz viel Fußball spielen – mit einem neuen Ball. Und jetzt ist er lieber im Himmel. Er hat gelogen.“ Nun liefen auch bei Julia die Tränen. „Selina hat gestern gefragt, ob Papi sie auch sieht, wenn es regnet. Julia, wie soll man so etwas aushalten? Was antwortet man einem kleinen Kind auf solche Fragen?“

      „Noch mal, Elena – bitte nimm therapeutische Unterstützung in Anspruch. Heutzutage ist das wirklich keine Schande mehr. Ich weiß auch nicht, was die richtige Antwort wäre. Sicher werden noch eine ganze Weile solche Fragen und Situationen kommen.“

      „Du meinst eine Weile – bis sie sich an ihren Papa nicht mehr erinnern können?“

      „Nein, so war das nicht gemeint. Die Erinnerung kann, nein, muss erhalten bleiben, aber der Schmerz muss weniger werden – er muss auszuhalten sein. Dafür bist hauptsächlich du verantwortlich. Du sorgst dafür, dass die Kinder mit viel Liebe an ihren Papa zurückdenken, ohne dabei zugrunde zu gehen. Ist es für dich in Ordnung, wenn ich mich um psychologischen Beistand für euch kümmere?“

      „Lass mal, Julia – bitte gib mir noch etwas Zeit. Ich möchte nicht – noch nicht – mit einem wildfremden Menschen über Manuel sprechen.“

      6

      Belinda hielt sich tatsächlich an ihr Versprechen, sich zu melden. Zuerst war Elena sehr überrascht und auch ziemlich abweisend – irgendetwas sträubte sich bei ihr innerlich gegen einen Kontakt. Aber Belinda schaffte es in kürzester Zeit, Elena für sich zu gewinnen. Geschickt machte sie sich zu ihrem allerliebsten Gesprächspartner, weil auch sie Manuel sehr nahe gestanden hatte und dementsprechend viel über ihn erzählen konnte. Mit niemandem sonst konnte Elena so intensiv über Manuel reden. Ganz bewusst machte Belinda Elena in regelmäßigen Abständen klar, dass das Ende ihrer Beziehung von beiden gewünscht war. Sie erklärte auch ständig ganz ausführlich, dass Manuel und sie eine vollkommen andere Beziehung geführt hatten.

      „Zuletzt war auch keine Rede mehr von Liebe. Unsere Gefühle füreinander waren lange nicht so tief gehend und ehrlich wie eure, Elena – auch nicht am Anfang. Unsere Beziehung war ehrlich gesagt ziemlich oberflächlich. Es ging hauptsächlich um Partybesuche und ich gebe auch zu, dass ich öfter fremdgegangen bin. Ich bin kein Mensch, der sich fest binden möchte – ich brauche meine Freiheit und zuerst dachte ich, dass Manuel perfekt zu mir passt. Ich hatte anfangs das Gefühl, dass er genauso denkt und fühlt wie ich. Er gab sich nach außen hin so, dass er mich zu Beginn vollkommen davon überzeugte. Vielleicht wollte er wirklich eine lockere und unverbindliche Beziehung führen, aber ich habe mit der Zeit immer deutlicher gespürt, dass zwischen Manuels Tun und seinen wahren Gefühlen eine riesige Kluft war. Er hatte Angst vor zu intensiven Gefühlen und einer festen Bindung, weil er befürchtete, dass er seine beruflichen Pläne dann nicht wie gewünscht umsetzen könnte. Für ihn war es unvorstellbar, eine Familie zu gründen, für die er Verantwortung tragen müsste, und gleichzeitig ein guter, engagierter Arzt zu sein. Na ja, es ist auch tatsächlich so, dass bei vielen Ärzten die Ehe scheitert oder zumindest nicht wirklich gut funktioniert. Die Partner müssen ungeheuer viel Verzicht üben, Verständnis haben und die vielen kleinen und großen Alltagsprobleme meist alleine lösen. Aber du hast es ja offensichtlich sehr gut geschafft, dich mit der seltenen Anwesenheit deines Mannes zu arrangieren. Er muss dich unwahrscheinlich geliebt haben, Elena, dass er sich trotz all seiner Bedenken doch noch auf den Weg zum Altar gemacht hat.“

      Belinda erzählte viele Geschichten aus ihrer gemeinsamen Studienzeit und Elena weinte oft. Trotzdem bat sie Belinda immer wieder unter Tränen, ihr weitere Episoden zu erzählen. Sie wollte alles – restlos alles wissen, was Belinda über Manuel erzählen konnte. Sie saugte alles auf wie ein überdimensional großer Schwamm. Dazu stellte sie sich immer Bilder vor – Manuels verschmitztes Lächeln, sein berühmtes, umwerfendes Augenzwinkern, seine gekräuselte Denkerstirn, seinen ironischen Blick, seine wunderschönen blauen und meist strahlenden Augen, seinen extrem maskulinen, perfekten Körper. Oh, es tat so weh und doch wollte sie alles hören, was es über Manuel zu erzählen gab. Bereitwillig erfüllte Belinda ihr den Wunsch und schon bald war es Elena, die Belinda um Treffen bat. Belinda hatte es geschafft, Elena davon zu überzeugen, dass Manuel am Anfang ihrer Beziehung allerhöchstens in sie verliebt war.

      „Richtig geliebt hat er mich aber mit hundertprozentiger Sicherheit niemals“, beteuerte Belinda. Sie behauptete sogar sehr überzeugend, dass Manuel während ihrer ganzen gemeinsamen Zeit niemals „Ich liebe dich“ gesagt hatte. Durch Belindas geduldige Überzeugungsarbeit schaffte Elena es, in ihr nicht mehr Manuels Exfreundin – eine verlorene und beweinte Liebe – zu sehen.

      Elena erfuhr in dieser Zeit so viel über Manuel und ihr wurde immer bewusster, dass er nie viel von seinem früheren Leben erzählt hatte. Komisch, dass ihr das nie aufgefallen war. Sie waren immer so sehr mit sich, der Gegenwart und ihren Plänen beschäftigt gewesen, dass sie anscheinend keine Zeit erübrigen konnten, um über die Vergangenheit zu sinnieren. Im Nachhinein betrachtet, erschienen Elena die gemeinsam verbrachten Stunden wie kurze Episoden eines Films. Sie hatte sich immer riesig auf das Zusammensein gefreut und die Stunden stets im Voraus sorgfältig verplant. Die Umstände waren einfach so und sie hatte sich nie erlaubt, über deren Richtigkeit nachzudenken.

      Jetzt fragte sie sich, ob der Lebensstil für sie wirklich in Ordnung gewesen war. Hatte sie sich nicht oft einsam gefühlt? War ihr die alleinige Verantwortung für das Familienmanagement und das Haus nicht zu viel gewesen? War sie richtig glücklich und zufrieden gewesen? Wenn sie ganz ehrlich war – nein. Es war oft vorgekommen, dass sich ihr Wünsche nach einem ganz normalen Familienleben – mit regelmäßigen gemeinsamen Mahlzeiten, Spieleabenden, entspannten Urlaubstagen, gemeinsamen Kinobesuchen und so weiter – aufdrängten. Sie hatte aber einen Mechanismus entwickelt – so etwas wie einen Ausknopf in ihrem Kopf installiert, den sie ganz rasch drückte, wenn ihr solche Gedanken in den Sinn kamen. Sie wusste schließlich von Anfang an, worauf sie sich eingelassen hatte. Manuel hatte ihr offen und schonungslos klargemacht, wie ihr Leben mit ihm aussehen würde. Und so kam es auch – auch wenn sie anfangs dachte beziehungsweise hoffte, dass er mit der Zeit von selbst beruflich kürzertreten würde. Aus Liebe und Sehnsucht nach seinen Kindern – seiner Frau. Nein, so kam es leider nicht – es kam genau so, wie Manuel es Elena vor seinem offiziellen Heiratsantrag geschildert hatte. Elena sah in ihrer Eheschließung auch so etwas wie einen Vertrag, mit ganz klar vereinbarten Rechten und Pflichten. Ja, sie kannte seine Träume, seine Ziele, seine unglaublich extrem ausgeprägte Intension, Menschen zu helfen und vor allem der Menschheit durch erfolgreiche Forschungsergebnisse große Fortschritte in der Medizin zu bescheren. Er wollte etwas Bedeutendes erreichen – eine wichtige Spur auf dieser Erde hinterlassen.

      Diesen imaginären Vertrag wollte sie klaglos erfüllen – etwas anderes kam für sie nicht infrage. Ihr Ehrgefühl und ihr Gerechtigkeitssinn ließen nichts anderes zu. Sie ging mit den Kindern alleine ins Kino, alles Mögliche feierten sie meist ohne Papa – Geburtstage, Heiligabend, Silvester, Ostern, Kindergartenfeste und so weiter. Wenn er es aber schaffte, einmal dabei zu sein, dann wurde aus dem gegebenen Anlass meist ein unvergessliches Event. Sowohl Elena als auch die Kinder waren wegen Manuels

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