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hasse ich sie richtig, dachte Elena. Und doch warte ich nachher sehnsüchtig auf einen Geist! Das ist doch verrückt oder nicht?

      Das Kuscheln und Vorlesen tat den Kindern gut. Elena hatte wieder Angst vor schwierigen Fragen, aber das Buch war wirklich so wunderbar geschrieben, dass quasi keine Frage offen blieb. In Gedanken bedankte sie sich bei Julia. Diese Hilfe hätte sie sich wirklich sofort holen müssen. Die Kinder waren so selig und zufrieden mit den gefühlvollen Erklärungen. Ihre kleinen Kinderseelen waren beruhigt und sie schliefen mit dem Gedanken, dass ihr Papi auch bei ihnen ist, ein.

      „Gute Nacht, Papi“, sagte Lois.

      „Gute Nacht, Papi, und schnarch nicht so“, kicherte Selina. „Ich habe dich so lieb!“

      Elena kam sich komplett verrückt vor, aber sie tat es doch. Sie zog ein schickes Kleid an und schminkte sich sorgfältig, bevor sie sich auf das Sofa setzte. „Du bist ganz eindeutig dabei durchzudrehen, Elena Schrader!“ Sie fokussierte die große Palme auf der Terrasse und beobachtete die leichten schwingenden Bewegungen der großen Blätter. „Das ist real – ich sehe die Palme. Ich sehe das Glockenspiel, das von der Terrassenüberdachung hängt. Ich sehe die wunderschöne, exklusive, sündhaft teure Stehlampe, die Manuel für mich gekauft hat, weil sie mir so wahnsinnig gut gefallen hat. Und ich sehe ganz klar und deutlich den Heizstrahler, den wir vor nicht allzu langer Zeit gemeinsam ausgesucht haben.“ Alle Gegenstände standen ganz real da – mit hundertprozentiger Sicherheit. Und dann trat Manuel in dieses friedliche Bild. Auch er war da – er war keine Einbildung, kein Hirngespinst. Er stand so klar und deutlich da, wie auch die Palme, das Glockenspiel, die Stehlampe und der Heizstrahler ganz eindeutig zu sehen waren. Manuel lächelte und winkte ganz zaghaft – die Bewegungen sahen fast wie in Zeitlupe aus. Er hatte die Schildkappe nicht mehr auf und Elena dachte daran, wie oft sie durch dieses volle, wunderbar weiche, immer gepflegte und gut riechende Haar gestreichelt oder ihr Gesicht darin verborgen hatte. Sie hatte es immer mit viel Liebe, Intensität und Dankbarkeit getan. Sie hatte solche Momente aufgesogen, so bewusst genossen, als ob sie es geahnt hätte, dass ihnen nicht viel Zeit bleiben würde. Ja, heute bin ich mir zu einhundert Prozent sicher, es unterschwellig dauerhaft gespürt zu haben, dass unsere überglückliche Beziehung nur sehr kurz andauern würde. Dieses ungute Gefühl hat mich konstant begleitet, auch wenn es mir meistens ganz gut gelungen ist, diese Ahnung immer wieder und wieder erfolgreich zu verdrängen. Wieso habe ich so empfunden?

      Elena fixierte Manuel so intensiv, dass sie sich nicht einmal erlaubte zu blinzeln. Keinen Bruchteil, auch nicht den einer Sekunde, wollte sie von diesem Anblick verschwenden. Aber wie immer hob Manuel dann irgendwann die Hand, schickte ihr einen Kuss und gab das befürchtete Zeichen, sitzen zu bleiben. Dann verschwand er, den Blick auf sie gerichtet, ganz langsam wieder von der Bildfläche. Als er weg war, wich die ganze Anspannung aus ihrem Körper. Elena sackte in sich zusammen und weinte herzzerreißend. Was passiert hier? Werde ich verrückt? Das kann doch nicht sein, dass ich Manuel so klar und deutlich sehe. Egal, dachte Elena, Hauptsache, er kommt wieder – morgen und übermorgen und nächste Woche. Dann bin ich halt verrückt oder es gibt eben doch Dinge zwischen Himmel und Erde, von denen wir Menschen nichts wissen – Geister eben, stellte Elena für sich selbst fest. Voller Überzeugung sagte sie laut: „Ein Geist ist mir lieber, als gar keinen Manuel mehr zu haben!“

      12

      Am Morgen nach der Beerdigung klingelte es an der Haustür, was Elena aus ihren Gedanken riss. Vor der Tür standen wieder die Beamten, die Manuels Fall bearbeiteten. „Dürfen wir bitte einen Moment hereinkommen? Wir hätten da noch ein paar Fragen.“

      Elena musste sich immer wieder ins Gedächtnis rufen, dass Manuel ihrer Meinung nach umgebracht wurde. Irgendjemand sollte seinem Leben ganz gezielt ein Ende gesetzt haben. Diese Tatsache hatte sie bisher immer wieder verdrängt. Sie glaubte immer noch an einen groben Ermittlungsfehler. Wer sollte Manuel schon umbringen wollen? Dieser Gedanke kam ihr so abwegig vor, dass sie ihn nicht zulassen wollte. Innerlich sträubte sich alles in ihr, über diese Möglichkeit nachzudenken. Wenn sich doch Gedanken über diese Variante seines Todes aufdrängten, verbot sie sich, weiter darüber nachzudenken.

      „Wie würden Sie Ihre Beziehung zu Ihrem Exfreund Jens Holder beschreiben?“

      „Jens?“

      „Ja, Frau Schrader. Es wurden gegen ihn und Sie Verdächtigungen ausgesprochen, denen wir selbstverständlich nachgehen müssen.“

      „Meine Schwiegereltern, ich weiß. Und Sie glauben den Mist?“

      „Haben Sie für unser Handeln bitte Verständnis, Frau Schrader. Wir möchten Ihnen nichts unterstellen und wir glauben auch nichts. Wir müssen prüfen. Wir müssen allen Verdachtsmomenten nachgehen – wir machen nur unsere Arbeit. Sicherlich liegt Ihnen auch etwas daran, den Mörder Ihres Mannes zu finden.“

      Oh, dachte Elena genervt, wenn ihr wüsstet, wie wenig Gedanken ich mir darüber gemacht habe. Manuel ist tot, er ist weg – für immer. Unwiderruflich, endgültig aus meinem Leben verschwunden. Nichts und niemand könnte ihn mir lebendig zurückbringen. Er wird mich nie mehr in seine starken Arme nehmen, sein weicher Mund wird mich nie wieder küssen, ich werde nie wieder die Wärme seines Körpers neben mir im Bett spüren. Er wird nie wieder mit unseren Kindern durch den Garten toben und wir werden nie wieder ein gutes Gespräch miteinander führen. Das ist mein Problem – das verursacht mir einen so tiefen, stechenden Schmerz, dass ich vollauf damit beschäftigt bin, diesen auszuhalten. Warum und wie der Unfall passiert ist, das ist für mich momentan nicht entscheidend oder wichtig, weil das Ergebnis nichts an der furchtbaren Tatsache ändern würde. Er ist tot und ich muss weiterleben – ohne ihn. Ich muss es einfach tun – wegen unserer Kinder! Mit diesen Gedanken habe ich verzweifelt versucht, den Schmerz zu beherrschen und mich nicht völlig der Verzweiflung hinzugeben – was ich zugegebenermaßen nur zu gerne getan hätte. Vielleicht wird eines Tages die Frage nach dem Täter an Wichtigkeit gewinnen. Das kann gut sein – im Moment aber ist mein Gehirn völlig ausgelastet mit Trauer, Verantwortungsgefühl für die Kinder und der abendlichen Erscheinung. Ich hatte mir der Kinder wegen Mühe gegeben, zu akzeptieren, dass Manuel tot ist – dann sehe ich ihn plötzlich leibhaftig vor meinen Augen. Er bewegt sich, er lächelt und er gibt mir Zeichen. Das ist doch unmöglich, denn Manuel lag grau, starr und leblos auf einem Edelstahltisch in der Gerichtsmedizin. Ich habe ihn angefasst und er war eiskalt – durch seine Adern ist kein Blut mehr geflossen. Ich habe ihn sehr lange angeschaut in der Hoffnung, dass er zucken oder sonst irgendein kleines Lebenszeichen von sich geben würde. Aber es passierte nichts – er war einfach tot. Der Mann auf dem Tisch war tot und er war ohne jeglichen Zweifel mein Manuel. Wie konnte er also auf unserer Terrasse stehen? Das ist doch verrückt oder nicht? Wie soll man da einen klaren Gedanken fassen können und darüber nachdenken, wer ihn getötet haben könnte?

      „Natürlich möchte ich wissen, wer meinen Mann getötet hat. Auch wenn ich mir beim besten Willen nicht vorstellen kann, dass es auf dieser Welt einen Menschen gibt, der Manuel nicht wertschätzte oder zumindest mochte.“

      „Frau Schrader, ich muss mich leider wiederholen – kein Mensch auf dieser Welt hat nur Bewunderer und Freunde.“

      „Sie glauben mir nicht? Sie kannten Manuel eben nicht. Er war ein Engel auf Erden. Er war ein ganz besonderer Mensch. Da können Sie fragen, wen Sie wollen. Er war ein genialer Chef, ein traumhafter Ehemann und Vater, ein vorbildlicher Sohn, ein Arzt mit Leib und Seele, ein hilfsbereiter und fröhlicher Freund und vor allem ein herzensguter Mensch – eine Rarität in der heutigen Welt. Eine absolute Ausnahme. Ich habe aus Manuels Mund niemals böse oder gar hasserfüllte Worte gehört. Er hatte unglaublich viel Verständnis für Menschen und ihre Probleme. Wenn jemand Mist gebaut hat, hat er immer nach Entschuldigungen und Erklärungen gesucht, warum derjenige so gehandelt haben könnte. Vorurteile fällen oder Menschen verurteilen – das gab es bei ihm nicht. Seine Sozialkompetenz war fantastisch. Sicher denken Sie jetzt, dass ich maßlos übertreibe – kann ich gut verstehen, weil es einen solchen Menschen schließlich nicht wirklich geben kann, richtig? Aber ich schwöre Ihnen beim Leben meiner Kinder – so war er, mein Manuel. Er hat Menschen geliebt – diese Menschenliebe und der feste, unerschütterliche

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