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Schloss zu. Ohne großen Kraftaufwand riss er es ab, zog die Kette vom Tor, stieß es auf und betrat die zugewucherte Auffahrt.

      Ja, das gefiel ihm.

       Da standen ein paar Häuser …

      Wer immer Neurath passierte und einen Gedanken auf das Dorf an der Straße nach Solingen verschwendete – und kaum jemand tat dies –, hielt es für einen neuen Stadtteil. Wie der Name schon sagte. Rechts der Straße lag ein Neubaugebiet aus den 1960er Jahren. Damals hatte Langenrath eine seiner zahlreichen Blüten erlebt, wohlhabende Geschäftsleute aus Opladen, Leverkusen und Solingen hatten Land in den Hügeln gekauft und die größeren Städte verlassen, um hier im Grünen zu leben. Die Stadt hatte die Zeichen der Zeit erkannt und neues Bauland ausgewiesen, und viele Bauernfamilien aus Langenrath und seinen Dörfern waren auf einen Schlag reich geworden. Wieder waren die Siedler aus den umliegenden Städten gekommen, Mittelständler diesmal, es kamen die Abteilungsleiter und Ärzte, die Lehrer und angestellten Handwerksmeister. Später entstanden auch ein paar Mietshäuser, doch höchstens drei oder vier Familien wohnten darin – überschaubar sollte alles bleiben, ansehnlich und schmuck. So auch in Neurath.

      Links der Straße jedoch lagen das Gut und daneben der Kottenhof. Seine Felder waren Felder geblieben und niemand schien auf den Gedanken zu kommen, nachzufragen, warum dieses Land schlechteres Bauland sein sollte als die Felder auf der anderen Seite der Straße. Es war eben immer so gewesen, der Hof war im Gedächtnis der Menschen ebenso uralt wie das Gut, der Weg, der zu ihm hinauf und in die Felder führte, hieß „Kottenhofer Weg“ und hatte immer schon so geheißen. Die Familie, die den Hof nun schon seit vielen Generationen bewirtschaftete, hieß Krämer, und auch wenn sich niemand daran erinnerte – das war nicht immer so gewesen.

      Denn Neurath war alt. Wer sich die Mühe machte, rechts der Straße zwischen die schmucken Häuser der neuen Siedlung zu gehen, vielleicht die Bleichergasse entlang oder in den Grünen Weg oder die Gartenstraße, zu den bewaldeten Hügeln hin, die die Siedlung auf der anderen Seite begrenzten, der erkannte bald, dass er eine Reise in die Vergangenheit des Dorfes machte, Schicht für Schicht, der Spaziergang eines Archäologen. Wer wusste, wonach er suchte, konnte direkt hinter den Neubauten noch einige der alten Hütten finden, in denen früher Wanderarbeiter untergekommen waren oder Tagelöhner. Heute waren es Gartenhäuschen und Schuppen, hier und da war nichts geblieben als die Einfassung eines Sandkastens oder Blumenbeetes. Dann kamen die alten Bauernhäuser. Große Bauten meist, aus schmalen, flachen Ziegeln, die zuweilen etwas unordentlich zusammengesetzt wirkten – wie die Legohäuser eines Kindes, das gegen Ende seines Spiels die Geduld verlassen hatte. Heute waren diese Bauernhäuser restauriert, sie standen auf den größten Grundstücken des Dorfes und strahlten den Reichtum derer aus, die ihr Land verkauft hatten, oder derer, die das Geld hatten, dem reich gewordenen Bauern das letzte und wichtigste Stück seines Bodens abzuhandeln. Doch einst waren sie windschief gewesen, die Dächer löchrig und die Flure kalt, und etwas davon war immer noch zu ahnen. Und dahinter kam der älteste Teil des Ortes – einige verbliebene Fachwerkhäuser, zum Großteil verschiefert, wie im Bergischen Land üblich. Auch diese Häuser waren restauriert und liebevoll hergerichtet, meist waren sie von Paaren bewohnt, die zu irgendeinem Zeitpunkt davor gestanden und gedacht hatten, dass genau dies ihr Traumhaus war, ein altes Häuschen im Grünen, billig zu haben, eine Lebensaufgabe für Hobbyhandwerker. Ganz wenige waren klassisch anzusehen, mit ehemals schwarzen Balken und ehemals weißem Fachwerk. Heute waren die Balken zumeist graubraun und das Fachwerk gelblich – kaum eines dieser Häuser war noch bewohnt. Sie verfielen, und hin und wieder erreichte die Langenrather Stadtverwaltung oder den Rat das Schreiben einer besorgten Familie, deren Kind in den künftigen Ruinen gespielt hatte.

      Doch dies geschah selten, denn in Neurath gab es nicht viele Kinder. Es war ein Kuriosum, den Statistikern der Stadt wohlbekannt, auch wenn sie nicht offen darüber sprachen, denn sie hatten keine Erklärung dafür. Die Geburtenrate hatte im Laufe des 20. Jahrhunderts stetig abgenommen. Es war, als wäre das Dorf an sich trocken, wenig Frucht bringend. Junge Paare, die sich eine Familie wünschten, schienen das manchmal zu spüren. Sie zogen weg, aus den Mietwohnungen, aus den kleinen Häusern, und nicht selten gelang die Familiengründung, sobald sie das Dorf hinter sich gelassen hatten. Oft war dies Stoff für innerfamiliäre Scherze. Doch wenn all diese Paare ihre Geschichten zusammengetragen hätten, wäre ihnen das Lachen womöglich vergangen – sie waren sich alle zu ähnlich. Wo in Neurath Kinder und Jugendliche lebten, da waren es fast ausschließlich Zugezogene.

      Neurath starb. Nicht zum ersten Mal. Denn Neurath war alt. Sehr alt. Als ein paar Familien vor Jahrhunderten die lange, schmale Rodung am Fluss verlassen hatten, um ihr eigenes Dorf – die Neue Rodung – zu gründen, da flohen sie vor den beunruhigenden Dingen, die in der langen Rodung geschahen, vor dem, was der Fluss brachte. Sie siedelten auf dem fruchtbaren Waldland unterhalb der Hügel und sie belebten ohne es zu wissen eine Stätte wieder, auf der schon lange zuvor eine Siedlung entstanden, erblüht und vergangen war. Ebenso wie am Fluss, nicht weit entfernt. Und davor. Und davor. Seither war auch Neurath erblüht und vergangen, doch niemals mit dem Lauf der Geschichte. Die Pest hatte das Dorf ebenso verschont wie alle Kriege. Ende des 16. Jahrhunderts flüchteten sich einige Mitglieder einer besonders kleinen, protestantischen Sekte hierher, um der Verfolgung zu entgehen, mit der sie ihre lutheranischen und calvinistischen Brüder ebenso bedrohten wie die Papisten. Sie wunderten sich, ein völlig verlassenes, aber fast vollständig bewohnbares Dorf vorzufinden, richteten sich ein und gediehen, weitgehend unbemerkt von den Nachbargemeinden und durch viele glückliche Zufälle völlig übersehen von jeder Soldateska, die in den folgenden Jahrzehnten durchs Land zog.

      Auch diese Siedler verschwanden wieder, so geheimnisvoll wie sie den Ort gefunden hatten. Doch diesmal verschwanden sie nicht vollständig. Ein Zweig der Familie Krämer, die den Kottenhof in jener Zeit übernommen hatte, bewirtschaftete ihn noch immer, und ihre ältesten Mitglieder erinnerten sich trübe an Geschichten aus sehr alter Zeit, auch wenn die Jungen sich nicht mehr dafür interessierten. Und wenn Gustav Wegner, der verwirrt, aber voller großer Gedanken und plötzlicher neuer Pläne nach Hause schlurfte, seinem Großvater oder Urgroßvater von der Begegnung mit dem Fremden vor dem Gut berichtet hätte, so hätten sie vielleicht noch genug Wissen gehabt, ihn zu warnen. Oder zu beglückwünschen – je nachdem.

      Neurath lag im Sterben. Wieder einmal. Aber die Ankunft des Fremden würde allem eine neue Richtung geben, lange vor dem Feuer. Und was würde sich dann aus der Asche erheben?

       E-Mail Erin Simpsons an Fletcher Simpson, 17.07.

      Fletch, my Love

      I’m going to leave Germany, I’m coming back to Grizzland.

      Everything has crashed, just as you said it would.

      May I still stay with Jannice and you? Only to get into myself again?

      I’m at a friend’s at the moment.

      Tell Ma & Da if you want. All the same to me.

      Need your help.

      Your Big Bad Sister,

      Erin

      Ich betrat den Pub etwas früher als sechs, er war noch nicht da. Auf meinem Weg durch den Schankraum sammelte ich ein paar Blicke ein, aber das hier war ein toleranter Laden, mehr als komisch ansehen würde mich hier keiner. Ich hatte bei meinen Einkäufen extra auf auffällige Kleidung geachtet, um von meinem Gesicht abzulenken, denn das war es, was in den nächsten Tagen in allen Zeitungen und auf allen Fernsehkanälen zu sehen sein würde.

      Ich hatte mich zuerst in Langenrath mit einem Gürtel und einem Paar billiger Sportschuhe versorgt, so dass ich nicht mehr aussah, als hätte ich mich aus einem Kleidercontainer eingekleidet. Außerdem erstand ich eine Sonnenbrille und ein mit Totenkopfmotiven bedrucktes Tuch, das ich als Kopftuch trug. Jetzt sah ich zwar todsicher aus wie ein Irrer, aber wie einer von denen, denen man alle Tage begegnet. Außerdem verdeckte das Tuch meine Haare und die Narbe auf meiner Stirn. Ich ging zurück zum Bahnhof, fuhr ein paar Stationen

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